Einsicht in Hygieneakten
Wenn Menschen im Krankenhaus an Hygiene-Problemen sterben, dürfen Angehörige das oft nicht wissen. Das hat ein Gericht in Hamm beschlossen. Patientenrechtler fordern jetzt eine Gesetzesänderung.
Seine Mutter ist tot – und dann kommt dieser Satz, der sich anfühlt wie ein Schlag ins Gesicht. „Im Verlauf der Behandlung kam es, trotz aller Bemühungen und unter strikter Einhaltung der Hygienevorschriften, leider zu der Entstehung einer MRSA-Sepsis, an deren Folgen Frau B. verstarb.“
Das schreibt das Katholische Klinikum Essen zum Tode von Christel B. MRSA ist ein multiresistenter Keim, eine Sepsis ist eine Blutvergiftung. „Aber welche Hygiene?“, fragt sich Christels Sohn Andreas B. Bei seinen regelmäßigen Besuchen habe er „wenig Sauberkeit auf der Intensivstation erlebt“.
Andreas B hat dem Reporter Klaus Brandt von unserem Kooperationspartner, der Funke-Mediengruppe, seine und die Geschichte seiner Mutter erzählt.
Drei Eingriffe in drei Tagen – MRSA
Oktober 2012: Christel B. (71) liegt auf der Intensivstation des Philippusstiftes Essen-Borbeck. Diagnose: schwere Bauchspeicheldrüsenentzündung, ausgelöst durch eine Gallensteinwanderung. Zunächst ist sie MRSA-frei. Nach drei Eingriffen binnen drei Tagen ist sie mit MRSA infiziert. Zwei Wochen später ist Christel B. tot.
Ihr Sohn ist „davon überzeugt, dass mangelnde Hygiene ihren Tod verschuldet hat“. Seine Vorwürfe gegen die Klinik: „Nichteinhaltung von Hygienevorschriften, mangelnde Desinfektionskontrolle durch das Personal, keine Schutzkleidung für Besucher“. Handschuhe habe selten jemand getragen auf der Intensivstation, dafür hätten sich dort Pizza-Boten die Klinke in die Hand gegeben.
Andreas B. will Licht ins Dunkel bringen. Nach einem Streit mit der Gutachterkommission der Ärztekammer Nordrhein verlangt er Einsicht in die Hygienedokumentation. Jede Klinik muss jede Infektion, jeden Krankheitserreger genau protokollieren: Wann und wo sie aufgetreten sind, unter welchen Umständen. Wer sie wie bewertet und behandelt hat, mit welchen Antibiotika, wann und in welchen Mengen. Welchen konkreten Schutz der Patient genossen hat, aber auch die Besucher, das Personal, die Mitpatienten. All dies müssen deutsche Kliniken dokumentieren. Zeigen müssen sie ihre Aufzeichnungen nicht. Für Patienten und Angehörige sind die Akten tabu – wegen eines Urteils des Oberlandesgerichts Hamm. Das besagt: „Zweck des Infektionsschutzgesetzes ist es, übergeordnete Interessen zu schützen, die zwar auch dem einzelnen Patienten zugutekommen, aber nicht zu seinem persönlichen Schutz geschaffen wurden.“ (AZ.: 26 U 192/10)
„Sinn des Gesetzes auf den Kopf gestellt“
Mit dem Hinweis darauf verweigert das Katholische Klinikum Essen die Akteneinsicht. „Das OLG hat ein Urteil mit katastrophalen Folgen abgeliefert“, sagt der Chefarzt und Hygieniker Prof. Klaus-Dieter Zastrow. Er hat 2011 an der Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes mitgewirkt. Dass es gegen den Patienten ausgelegt werde, sei „fatal“. Zastrow: „Damit wird der Sinn des Gesetzes auf den Kopf gestellt. Es soll Menschen vor Infektionen schützen – nicht Kliniken vor einer Kontrolle bezüglich der Einhaltung elementarer Hygieneregeln.“
„Dieser Leitsatz ist ein Skandal“, sagt auch Karoline Seibt, Fachanwältin für Medizinrecht. „Ein falsch operierter Patient kann die Gründe seines Leidens nachvollziehen, ein infizierter nicht.“ Die Juristin betreut seit 20 Jahren Opfer von Infektionen und Behandlungsfehlern. Einsicht in Hygienedokumentationen bekommt auch sie nicht. Jede Versicherung, jede Klinik verstecke sich hinter dem OLG-Urteil: „Kein Rechtsanspruch der Patientenseite auf Herausgabe der Unterlagen“, hieß es auch im Fall Christel B. Eine Akteneinsicht stehe nur „dem zuständigen Gesundheitsamt“ zu, „auf Verlangen“ – und auch nur zur formalen Kontrolle, nicht zur inhaltlichen Bewertung der Vorgänge in einer Klinik.
Einsichtsrecht ins Gesetz
Die Hygienedokumente seien „die einzige Chance“ eines infizierten Patienten, eine Klinik in die Haftung zu bekommen. „Doch das ist nicht gewollt“, sagt Seibt, „jedenfalls bisher nicht“. Das Infektionsschutzgesetz schütze allein die Krankenhäuser. „Sie können Hygiene praktizieren oder ignorieren – der Patient wird es nie erfahren.“ So sei die Hygienedokumentation „reiner Selbstzweck“.
Der Gesetzgeber sei gefordert, dies zu korrigieren, sagt Seibt. Ein Einsichtsrecht könne in § 630 g BGB oder in § 23 IfSG integriert werden, schreibt die Fachanwältin in einer gutachtlichen Stellungnahme an das Bundesgesundheitsministerium. Eine solche „Feinjustierung“ hätte „weitreichende, positive und vor allem kostensparende Folgen“ für die Krankenhaus- und Praxishygiene.
Die ganze Geschichte von Christel B. und mehr Geschichten unseres Kooperationspartners FUNKE-Mediengruppe finden sich unter derwesten.de/toedliche-keime.
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