Gefährliche Keime

Krankenhaushygiene: „Vieles muss verbessert werden“

Laut einer neuen [Studie](https://correctiv.org/recherchen/keime/artikel/2016/10/18/verlorene-lebenszeit/) sterben jährlich 90.000 Menschen in Europa an Krankenhausinfektionen. Auch deutsche Kliniken haben eklatante Hygienemängel. Gesundheitsminister Gröhe hat 2015 einen [10-Punkte Plan](http://www.bmg.bund.de/ministerium/meldungen/2015/10-punkte-plan-zu-antibiotika-resistenzen.html) verabschiedet. Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene Walter Popp zweifelt an seiner Effektivität. Wir haben mit ihm gesprochen.

von Xenia Balzereit

CORRECTIV: Wie sieht es mit der Hygiene in deutschen Krankenhäusern aus?

Popp: Vieles muss verbessert werden. Das muss damit beginnen, dass Hygiene in der Ausbildung der Ärzte eine größere Rolle spielt. Die jungen Mediziner haben vielleicht vier Vorlesungsstunden zu Hygiene – in einem sechsjährigen Studium. Das wird dem Thema einfach nicht gerecht.

CORRECTIV: Braucht es in der Krankenhaushygiene strengere und nachvollziehbarere Regeln, wie etwa in der Luftfahrtindustrie?

Popp: Auf jeden Fall. Wobei die Frage ist, wer kontrolliert. Im Prinzip sind die Gesundheitsämter zuständig. Die sind allerdings personell schwach besetzt, teilweise fachlich nicht so gut aufgestellt und haben wenig Geld, weil sie durch die Kommunen und Städte finanziert werden. Wir brauchen also andere Lösungen. In NRW überwachen die Bezirksregierungen die Desinfektion und Sterilisation von Medizinprodukten, das hat sich bewährt. Ich könnte mir auch vorstellen, dass der Medizinische Dienst der Krankenversicherungen, der MDK, hier eine größere Rolle spielen könnte. Die haben genug und ausreichend qualifiziertes Personal.  

Hälfte der Tode vermeidbar

CORRECTIV: Wie viele Menschen sterben durch Krankenhausinfektionen?

Popp: Wir gehen davon aus, dass es in Deutschland pro Jahr 30 bis 40.000 Todesfälle durch Krankenhausinfektionen gibt. Das Gesundheitsministerium behauptet: Es sind bis 15.000. Aber diese Zahlen sind vollkommen veraltet.

CORRECTIV: Sind die Tode vermeidbar?

Popp: Ja, ein guter Teil dieser Todesfälle müsste nicht sein. Es gibt inzwischen Studien aus den USA, die zeigen, dass man mit mehr und besser geschultem Personal rund die Hälfte der Infektionen vermeiden könnte.

CORRECTIV: Inwiefern?

Popp: Wir müssen die Reinigung in den Krankenhäusern verbessern. Und wir brauchen in bestimmten Bereichen wieder mehr Personal. Intensivmediziner fordern, dass auf ihren Stationen eine Pflegekraft zwei Patienten betreut. Tatsächlich hat heute eine Pflegekraft bis zu vier Intensivpatienten – vier schwer kranke Menschen, die teilweise beatmet werden. Da rennen sie nur von einem zum nächsten. Und haben gar keine Zeit, sich die Hände zu desinfizieren.

Kann ich klagen?

CORRECTIV: Können Patienten oder deren Angehörige, die sich mit multiresistenten Erregern angesteckt haben, ein Krankenhaus verklagen?

Popp: Ja und nein. Wer vor Gericht zieht, muss sich im Klaren darüber sein, dass Kosten entstehen. Dass es lange dauern kann. Dass man sich einen guten Anwalt suchen sollte. Und dass man beweispflichtig ist. Also beweisen muss, dass die Infektion vom Krankenhaus verursacht wurde. Wobei diese Beweispflicht neuerdings von einem neuen Urteil des Bundesgerichtshofes eingeschränkt wurde.

CORRECTIV: Gibt es einen Überblick darüber, wie viele Urteile in diesem Bereich gefällt wurden und wie sie ausgingen?

Popp: Bisher nicht. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen und die AOK in Bayern fordern zu Recht, dass alle abgeschlossenen Prozesse  an eine zentrale Stelle gemeldet werden. Damit man eine Übersicht bekommt, wo geklagt wird, wie es ausgeht, was die Begründungen sind. Um zu erkennen, wo die Probleme besonders groß sind. Um die Probleme anzugehen. Ähnlich wie bei Berufskrankheiten. Wenn sie einen schweren Unfall auf der Arbeit haben, kommt der technische Aufsichtsbeamte und ermittelt. Mit massiven Auswirkungen für den Betrieb.

CORRECTIV: Wenn jemand an einer Krankenhausinfektion erkrankt oder stirbt, sollte also eine Kommission kommen und die Umstände überprüfen?

Popp: Es dürfte schwer werden, jeden Fall zu überprüfen, dazu gibt es einfach zu viele. Aber man sollte sich zumindest die schweren Infektionen vornehmen, zum Beispiel Todesfälle durch Blutvergiftung. Das wäre ein Einstieg zu vergleichbaren Aktivitäten, wie wir sie im Unfallschutz haben.

CORRECTIV: Um nicht noch mehr Antibiotika-Resistenzen zu erzeugen, sollten die Medikamente so sparsam wie möglich eingesetzt werden. Tut sich da genug?

Popp: Leider nein. Ein Problem ist, dass es relativ wenig Fortbildungen für Ärzte gibt, das für diese Kurse die Wartezeiten sehr lang sind. Und dann kommen die Ärzte von dem Kurs zurück und haben keine Zeit, ihr Wissen anzuwenden. Das ganze System kann nur funktionieren, wenn die Krankenhäuser die Ärzte entsprechend entlasten. Das erfolgt zurzeit nicht. Es bräuchte gesetzliche Regelungen.

Alle Patienten auf Keime screenen

CORRECTIV: In den Niederlanden wird jeder Patient auf resistente Keime gescreent, bevor er ins Krankenhaus kommt. In Deutschland dagegen nur Risikopatienten, Landwirte etwa oder Menschen, die schon mal MRSA hatten. Reicht das aus?

Popp: Bei MRSA macht es Sinn, jeden Patienten, der aufgenommen wird, zu screenen. Überhaupt müsste man in Deutschland, wenn man die Risikoparameter konsequent umsetzt, rund die Hälfte der stationären Aufnahmen screenen. Und dann ist der Schritt zu 100 Prozent nicht mehr weit. Ja, es würde Sinn machen, alle zu screenen. Man hat dann weniger Übertragungen im Krankenhaus, weil man die Patienten früher herausfiltern kann.

CORRECTIV: Was ist mit anderen resistenten Erregern?

Popp: Für andere multiresistente Bakterien gibt es im Moment eine sehr unscharfe Empfehlung des Robert-Koch-Instituts. Demnach soll man nur Patienten aus Regionen screenen, in denen multiresistente, gramnegative Bakterien verstärkt vorkommen. Es ist aber völlig undefiniert, was solche Regionen sind. Zudem haben auch Patienten, die vor Kurzem im Krankenhaus waren, ein erhöhtes Risiko. Deshalb müsste man eigentlich alle screenen, die im Jahr zuvor im Krankenhaus waren.

CORRECTIV: Gesundheitsminister Gröhe hat im Frühjahr 2015 einen Plan zur Bekämpfung von resistenten Keimen verabschiedet. Darin heißt es auch, dass die Meldepflichten für resistente Erreger verschärft werden sollen. Wurde das umgesetzt?

Popp: Wir wissen über die Verteilung von resistenten Keimen in der Bevölkerung erst einmal gar nichts. Wenn man sagt, dass resistente Keime die größte Bedrohung sind, die wir in unserem Gesundheitssystem haben, dann muss man eine entsprechende Meldepflicht einführen, wie man sie für andere Krankheitserreger auch hat. Bis zu zehn Prozent der Bevölkerung sind Träger dieser Keime, das ist natürlich eine große Datenmenge. Aber auch die kann man bewältigen, wenn man will. Wir könnten die Daten bekommen, aber wichtige Entscheidungsträger, wie das Robert Koch Institut, wollen das nicht. Das sei zu viel Arbeit, ist ein Argument. Ein Unding, aus meiner Sicht.

Neue Regeln – und Bußgelder

CORRECTIV: Gibt es Länder, die die Problematik besser handhaben als Deutschland?

Popp: Wir wissen leider relativ wenig. Es wird zwar immer von den Holländern gesprochen, aber bei den Holländern ist es nur bezüglich MRSA besser. Was andere Erreger angeht, haben sie dieselben Probleme wie wir und auch keine wesentlich anderen Regelungen. Die Engländer und die Franzosen sind vor zehn Jahren zentral tätig geworden. Bei ihnen war die Situation damals ziemlich schlecht. Inzwischen haben sie aber viel erreicht und ähnliche Zahlen wie wir. Die haben sich also massiv verbessert. Daran sieht man, dass zentrale Regelungen, die auch umgesetzt werden, etwas bringen. Von daher bin ich sehr dafür, dass man zentrale Regelungen einführt und deren Umsetzung auch erzwingt, gegebenenfalls mit Bußgeldern.

CORRECTIV: Der Plan des Gesundheitsministers nennt auch das Ziel, verstärkt nach neuen Antibiotika zu forschen. Ist das passiert?

Popp: Ich glaube nicht. Bei den multiresistenten Erregern wissen wir, dass in den nächsten Jahren keine neuen Antibiotika auf den Markt kommen werden. In der Antibiotikaforschung dauert es immer Jahre, bis etwas Neues entwickelt wird, und das ist auch immer sehr teuer. Hier müssen wir von der Industrie, aber auch vom Staat, mehr Unterstützung für die Forschung fordern. Der Staat muss überlegen, wie er die Forschung in der Industrie ankurbeln kann. Zum Beispiel durch bestimmte Vorteile, durch Regelungen, wann ein Antibiotikum freigegeben wird. Es muss sicherlich mehr geforscht werden. Ganz neue Antibiotikaklassen müssen auf den Markt gebracht werden, wir brauchen neue Therapien.

CORRECTIV: Der Plan verspricht außerdem, dass sich Deutschland weltweit für die Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen einsetzen will. Wurde das umgesetzt?

Popp: Es gab eine Abschlusserklärung zum Treffen der G7 Gesundheitsminister in Berlin. Das war es. Das ist eine schöne Forderung, die sich auch gut verkaufen lässt, die aber schwierig umzusetzen ist und überwiegend auf dem Papier steht.