Grand Theft Europe

Englands eiserne Faust

Großbritannien konnte oft die Betrugswellen mit Umsatzsteuerkarussellen viel früher stoppen als andere Mitgliedsstaaten. Wie haben die Briten das gemacht? Und was können andere Staaten von ihnen lernen? Ein Interview mit dem Top-Fahnder des Vereinten Königreiches.

von Marta Orosz

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Rod Stone spürte 40 Jahre lang Karussellverbrechern nach © Ivo Mayr

Wenn es um Umsatzsteuerkarusselle geht, ist Rod Stone einer der Top-Experten weltweit. 40 Jahre hat er beim britischen Finanzamt und Zoll (“Her Majesty´s Revenue and Customs”, HMRC) gedient und die Strategie für die Bekämpfung von Umsatzsteuerkarussellen entwickelt. Seine Maßnahmen haben dazu geführt, dass der Betrug mit Emissionszertifikaten in England im Vergleich zu anderen Ländern früh erkannt und gestoppt wurde. Seit 2015 berät er mit seiner Firma Behörden und andere Organisationen.

CORRECTIV: Großbritannien hat den Schaden durch Karusselbetrug von 3,5 Mrd. Pfund auf 500 Mio. Pfund im Jahr reduziert. Wie haben Sie das geschafft?

Stone: Im Jahr 2005 scheiterten mehrere Versuche der Steuerbehörde, strafrechtlich gegen Karussellbetrug vorzugehen. Also bekam ich etwa drei Monate Zeit, um einen zivilrechtlichen Mechanismus zu entwickeln. Der Zoll konnte bei Betrugsverdacht die Anträge auf Rückerstattung der Umsatzsteuer verweigern. Dieses Prinzip des Missbrauchsrechts führten wir im Januar 2006 ein, und bis Juni hatten wir bereits 3,2 Mrd. Pfund an missbräuchlichen Steuererstattungen gestoppt.

CORRECTIV: Das war alles – Auszahlungen einfach stoppen, und der Betrug geht weg?

Stone: Nein. Wir haben im Vereinigten Königreich eine ganzheitliche Strategie angewandt. Gelder auf verschiedenen Wegen einzufrieren, war ein Instrument, um ein feindliches Umfeld für Betrüger zu schaffen. Über Insolvenzverfahren haben wir auch Missing Trader, also Importeure, die keine Steuern abführen und dann verschwinden, identifiziert und das ausstehende Steuergeld eingefordert. Natürlich hatte meistens nur noch das letzte Glied in der Kette, der Exporteur, Geld. Von dem haben Insolvenzverwalter versucht, es zurückzubekommen. Sie konnten auch Geld von Geschäftsführern persönlich zurückfordern. Das war recht erfolgreich. Und zu einem feindlichen Umfeld gehören natürlich auch abschreckende Strafen.

CORRECTIV: Wie sehen die in Großbritannien aus?

Stone: Karussellbetrug ist in den meisten Ländern attraktiv, weil er nicht so hart bestraft wird wie Drogenhandel oder Banküberfall. Die Verbrecher müssen meistens nicht mehr als fünf Jahre Gefängnis fürchten und sind nach der Hälfte der Zeit wieder draußen. In Großbritannien können wir Leute für Betrug am öffentlichen Einkommen anklagen. Darauf steht eine lebenslängliche Haftstrafe. Die längste bisher verhängte Haftstrafe war 17 Jahre, aber 12 bis 14 Jahre waren für Karussellbetrug recht üblich. Und wer das Geld nicht zurückzahlt, kann wieder vor Gericht landen und nochmal zehn Jahre draufbekommen.

CORRECTIV: Was konnten die britischen Steuerfahndern tun, wenn sie irgendwo einen Karussellbetrug witterten?

Stone: Anders als in vielen anderen EU-Mitgliedsstaaten ermöglichte unsere Gesetzgebung es uns, jederzeit und ohne Vorwarnung Firmenbüros aufzusuchen. Ich schickte also einen Fahnder dorthin und bekam alle Belege zu Käufen und Verkäufen und so auch die Kundendaten. So ließ sich der Missing Trader ausfindig machen. Wenn man den dann besucht, ist natürlich niemand da, es gibt nur ein Firmenschild. In dem Fall löschten wir seine Steuerregistrierung. Unsere Fahnder besuchten täglich solche Firmen.

Und jede verdächtige Firma musste die Details zu ihren Handelspartnern mit einer Spezialeinheit in der Steuerbehörde teilen und jeden neuen Kunden und Lieferanten melden. So konnte die Behörde ein Profil über alle Unternehmen, die vermutlich in Karussellbetrug involviert waren, erstellen. Denn wir wussten, dass innerhalb von drei, vier Tagen, nachdem wir eine Firma gelöscht haben, wieder eine neue Firma registriert würde. Deshalb mussten wir neue Registrierungen kontinuierlich beobachten, und wer hinter ihnen steckte.

Wir verfizierten außerdem die monatlichen Forderungen nach Steuererstattungen der Händler. Niemand bekam Geld bis wir nicht sicher waren, dass es in der Kette keinen Missing Trader gab.

Ich muss sagen, dass es viele rechtliche Herausforderungen dabei gab und wir oft vor Gericht mussten. Aber die Gerichte waren sich der Komplexität des Problems und der vielen Ressourcen, die die Steuerbehörde in die Bekämpfung steckte, ohne ehrlichen Händlern zu schaden, bewusst und sehr unterstützend.

Die Zentrale der britischen Steuerbehörde HMRC in London © Ivo Mayr

CORRECTIV: Warum gehen andere EU-Mitgliedsstaaten nicht genau so vor?

Stone: Teile ihrer Gesetzgebung ist antiquiert. Sie ist auf Steuervermeider ausgelegt, auf den Mann auf der Straße, der kleine Beträge vermeidet. Sie wurde nie aktualisiert, um mit Organisiertem Verbrechen umzugehen. Der große Teil Europas hat Schwierigkeiten, seine Gesetze zu erneuern. Man muss sie durch Parlament bekommen, die Leute müssen dem zustimmen. Auch die Gerichte müssen verstehen, womit sie es zu tun haben. Bei unseren ersten Strafverfahren hatten viele Richter Mühe, den Betrug zu verstehen. Wir mussten ihn vereinfachen. Große Steuerberatungen versuchten Karussellbetrug zudem als eine Art Steuervermeidungsmodell darzustellen. Aber es ist ein Betrug,und die Steuerbehörden mussten all die großen Steuerberatungen kontaktieren und umerziehen.

CORRECTIV: Wie laufen die Ermittlungen bei Karussellbetrug ab?

Stone: Um eine Razzia bei allen Beteiligten eines Karussells durchzuführen, braucht man schnell mal 250 bis 500 Beamte, da stellt sich also die Ressourcenfrage. Bis es zu einem Gerichtsurteil kommt, braucht es im Schnitt 3 bis 5 Jahre ab dem ersten Verdacht. Deshalb ermittelten wir nicht in allen Fällen, sondern nur in denen mit den größten Auswirkungen. Manche der großen Betrugsketten verfolgten wir nie strafrechtlich, die verloren ihr Geld durch die zivilrechtlichen Methoden, die ich oben beschrieben habe.

Die britische Steuerbehörde kann mitreden, welche Fälle verfolgt werden. Manche EU-Mitgliedsstaaten bestehen hingegen darauf, jeden Fall von Karussellbetrug an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. So kommt es, dass die Fälle dort 10 Jahre oder älter sind, bis sie vor Gericht kommen. Wir wollten keine abgestandenen Fälle, bei denen man wahrscheinlich kein Geld mehr zurückbekommt und die kein abschreckendes Signal mehr an aktuelle Betrüger senden. Du willst soviel wie möglich in Echtzeit machen.

Die britische Steuerbehörde hat auch ihre eigenen Strafverfolger, und die haben zwischen 80 und 120 Prozesse gegen Karussellbetrüger geführt und weitere potentielle Kriminelle abgeschreckt. Die Fahnder müssen nicht zur Polizei gehen und sie bitten, Ermittlungen aufzunehmen.

Nachdem wir unsere Strategie eingeführt hatten, sind die Betrüger in andere EU-Staaten abgewandert. Der Karussellbetrug war so minimal geworden, dass wir uns mit anderen Themen befassten. Zumindest bis 2009, als die Betrüger den CO2-Markt entdeckten und der Betrug wieder ausbrach.

CORRECTIV: Was war geschehen?

Stone: Wir wussten, dass die Betrüger Unternehmen in Frankreich aufbauten und sich dort für den Handel mit CO2-Zertifikaten registrierten. Ende 2007 und 2008 begannen sie, große Mengen an CO2-Zertifikaten über die Börse zu handeln. Wir wussten von dem Markt noch nichts, beobachteten aber weiter potenzielle Betrugswaren und Unternehmen, die schon eine gewisse Historie hatten. Im Januar fiel uns auf, dass eine bestimmte Firma in den UK CO2-Zertifikate im Wert von vielen Millionen Euro an französische Firmen verkaufte und informierten die französischen Behörden über den verdächtigen Händler. Wir wissen, dass auf diese Information keine Taten folgten. Das französische Gesetz erlaubt es der Steuerbehörde nicht, einen Händler aufzusuchen, bevor dessen Zahlungsfrist nicht abgelaufen ist. Dadurch konnte der Betrug wachsen.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis er Großbritannien erreichen würde. Diese Dinge sind wie das Meer. Sie bewegen sich in Wellen durch Europa. Wir antizipierten den Betrug. Einen Tag, nachdem Frankreich die Zertifikate von der Umsatzsteuer befreite und so das Karussell stoppte, besuchten wir 30 bis 40 Händler und löschten ihre Umsatzsteuer-ID. Das heißt nicht, dass wir den Betrug verhinderten. Großbritannien hat über die Zertifikate 250 Mio. Pfund verloren, von denen wir wahrscheinlich etwa die Hälfte wiederbekommen.

CORRECTIV: Nach den UK wanderte der CO2-Betrug weiter nach Deutschland und wurde erst im Juli 2010 gestoppt. Wusste die Bundesregierung nicht Bescheid?

Stone: Spätestens im Juli 2009 wussten alle Mitgliedsstaaten von dem CO2-Betrug. Er war Thema bei der EU-Polizeibehörde Europol und im Netzwerk Eurofisc, in dem sich alle europäischen Experten zu Steuerfragen treffen. 90 Prozent des CO2-Handels war betrugsbehaftet. Es lag dann in der Verantwortung der jeweiligen Staaten, ihn zu stoppen. Italien hat dafür sogar drei Jahre gebraucht.

CORRECTIV: Warum tun manche Staaten sich so viel schwerer mit der Bekämpfung als andere?

Stone: Jeder Mitgliedsstaat hat ein anderes Justizsystem, andere Gesetze, andere Prozesse, um die Erfüllung der Steuerpflicht zu verbessern oder gegen Betrug zu ermitteln. Und das meiste davon erschien mir, ehrlich gesagt, antiquiert und unzusammenhängend. Die meisten waren nicht in der Lage, in Echtzeit zu reagieren, hatten zu wenig Leute mit den richtigen Fähigkeiten, und große Schwierigkeiten, neue Gesetze einzuführen. In den UK müssten die Steuerbehörden nur beweisen, dass die Unternehmen von dem Betrug wussten oder hätten wissen müssen. Aber die anderen Steuerbehörden hatten Probleme, Beweismaterial zusammenzutragen, den Gerichten zu präsentieren und von ihnen Akzeptanz zu erlangen. Wir haben uns stark darum bemüht, jeden Teil unserer Justiz über das Problem und die möglichen Gegenmittel aufzuklären.

CORRECTIV: Was macht es Regierungen so schwer, neue Gesetze zu formulieren und umzusetzen?

Stone: Steuerfragen sind komplex, deshalb scheint es ein großes Bedürfnis zu geben, alles genau ins Gesetzbuch zu schreiben. In Großbritannien steht „wusste oder hätte davon wissen müssen” in keinem Gesetzbuch. Es ist ein akzeptiertes Prinzip. Man argumentiert, dass es sich um einen Missbrauch des Mehrwertsteuersystems handelt. Die Zivilgerichte akzeptieren das. In Frankreich musste die gleiche Begründung im Steuergesetz stehen, und das braucht Zeit. Ich konnte das Prinzip quasi am nächsten Tag umsetzen.

Rod Stone im Interview mit Marta Orosz (CORRECTIV)  © Ivo Mayr

CORRECTIV: Gibt es einen Weg, die Umsatzsteuerkarusselle komplettt zu verhindern?

Stone: Meiner Meinung nach kann man keine Form von Steuerbetrug ganz stoppen, solange man Steuererleichterungen hat. Das einzige, was Karussellbetrug stoppen würde, wäre ein einheitlicher Mehrwertsteuersatz auf die gleichen Waren in ganz Europa. Das wird nicht passieren, weil jedes einzelne Land Steuern auf unterschiedliche Waren anders erhebt. Ein einheitlicher Satz würde auf nationaler Ebene nicht akzeptiert. Wenn man ein föderales Europa hätte, in dem Brüssel die Zentralbank hat und die Erhebung der Steuern organisiert und an die Mitgliedsstaaten verteilt, würde es funktionieren. Aber viele Länder wollen nicht Teil eines föderalen Europas sein.

Die EU-Kommission hat eine Lösung vorgeschlagen, das sogenannte „Endgültige Mehrwertsteuersytem“. Danach soll auch auf den grenzüberschreitenden Handel innerhalb der EU Umsatzsteuer erhoben werden. Würde das zumindest die Betrugssummen mindern?

Nicht wirklich, nein. Man hat wieder unterschiedliche Steuersätze auf verschiedene Waren und kann darauf Karusselle aufbauen. Der Betrug hört auch nicht mit dem innereuropäischen Handel auf. Angenommen, Großbritannien verlässt die EU und wird zum Drittland. Dann hat man plötzlich eine verzögerte Buchhaltung auf Importe. Der Missing Trader-Betrug kann auch mit Ländern außerhalb der EU funktionieren.

CORRECTIV: Diese Tür bleibt für Betrüger also immer offen?

Stone: Ja. Das einzige, was du meiner Meinung nach tun kannst, ist Leute abzuschrecken. Wenn du 15, 16 Jahre eingesperrt wirst und all dein Vermögen verlierst, hören sie damit auf. Man muss die Möglichkeiten der Steuerbehörden stärken, zum frühestmöglichen Zeitpunkt Geld einzusammeln, die Assets der Betrüger wegzunehmen, die sie mit dem geraubten Geld erworben haben und sie für eine sehr lange Zeit ins Gefängnis zu stecken.

CORRECTIV: Sollte also jeder Mitgliedsstaat solch ein feindliches Umfeld für Betrüger schaffen?

Stone: Die EU-Kommission hat eine Verantwortung, die Mitgliedsstaaten dazu zu ermutigen, ihre Gesetze entsprechend zu ändern. Aber sie stößt dabei auf kulturelle Hürden. Die Nationalstaaten sagen: „Aber wir machen das seit 100 Jahren so. Unsere Steuerzahler erwarten es so von uns und wir werden das nicht ändern können.“ Du brauchst Politiker, die die Gesetze ändern. Aber vielleicht muss man auch den Steuerzahler erziehen und ihm klarmachen: „Die Gesetzgebung, die wir einführen, richtet sich nicht an dich, den Steuerzahler, sondern an Organisiertes Verbrechen.“ Es ist alles eine Frage der Bildung. Man muss die Justiz erziehen und seinen Steuerzahler erziehen, damit er die Veränderungen versteht.

In Großbritannien haben wir versucht, proaktiver auf Leute zuzugehen, die ihre Steuereinnahmen oder ihre Mehrwertsteuereinnahmen nicht angegeben haben. Jetzt machen wir die Steuern digital und ermutigen die Leute, das digitale System zu nutzen. So könnten auch Missing Trader schneller zum Vorschein treten. Aber du musst nur einen Tag lang Missing Trader sein, um 10 Mio. Pfund zu verdienen. Und da ist auf jeden Fall kein Robin Hood dabei: Sie stehlen nicht Geld von der Steuerbehörde und geben es den Armen. Sie stehlen von der Steuerbehörde und haben richtig viel Spaß damit.