Missbrauchsopfer im Gefängnis – Kardinal will nicht um Gnade bitten
Ein Priester missbrauchte einen Jungen, dessen Leben geriet dadurch aus der Bahn. Heute sitzt das Opfer wegen Drogendelikten in Haft. Ein Opferverband fordert Gnade – doch Kardinal Marx unterstützt dies nicht.
Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, wird sich nicht an einem Gnadengesuch für Andreas Perr beteiligen. Perr wurde als Kind Opfer eines übergriffigen Priesters, der ihn sexuell missbrauchte. Das Leben des Opfers geriet dadurch aus der Bahn, Perr sitzt derzeit wegen Drogendelikten in Haft. Der Opferverband Eckiger Tisch fordert juristische Gnade für Perr. Doch die katholische Kirche will dieses Gesuch nicht unterstützen.
„Kardinal Marx hat (…) mitgeteilt, dass er sich aufgrund des laufenden Gerichtsverfahrens dem Aufruf nicht anschließen kann“, erklärte der Pressesprecher des Erzbistums auf Anfrage von CORRECTIV.
Der Eckige Tisch macht seit Jahren auf das Leid der Opfer klerikalen Missbrauchs aufmerksam. Er wurde von Matthias Katsch gegründet, der in den 1970er Jahren im Alter von 13 Jahren im Canisius-Kolleg missbraucht wurde – einer von Jesuiten geführten Eliteschule. Seit Anfang Dezember setzt sich der Eckige Tisch zusammen mit anderen Opferorganisationen für Perr ein und fordert „Therapie statt Strafe“.
„Das Gnadengesuch soll auch auf das systemische Versagen der Justiz aufmerksam machen, die Täter nicht zur Rechenschaft zieht, Opfer belastet und schließlich für die Folgen des Missbrauchs bestraft“, heißt es auf der Webseite der Organisation.
Die Justizbehörden in Bayern prüfen jetzt das Gesuch. Noch immer hat das Wort des Erzbischofes in Bayern Gewicht. Es würde dem Appell Schwere und auch eine breite Öffentlichkeit geben. Die Chancen könnten sich erhöhen, dass Perr bald die Therapie machen könnte.
Der 41-jährige Perr verbringt Weihnachten in einer bayerischen Justizvollzugsanstalt, die früher ein Kloster war. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er sich bei mehreren Ärzten Rezepte für Opiate erschlichen hatte, die er für den Eigenverbrauch nutzte. Perr hätte einen Therapieplatz. Doch die bayerische Justiz muss zustimmen, was bisher nicht geschehen ist.
„Therapie statt Strafe“: Andreas Perr wartet in Haft auf diese Chance
Das Erzbistum und die bayerische Justiz tragen Verantwortung dafür, dass der 1986 wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs verurteilte Straftäter Peter H. kurz danach wieder in eine oberbayerische Gemeinde als Priester eingesetzt wurde. Dort missbrauchte er über 20 Jahre hinweg weiterhin Jungen im Pfarrhaus, darunter Mitte der 1990er Jahre auch den damals knapp zwölfjährigen Perr.
Perr verklagte das Erzbistum und die Erben des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. vor dem Landgericht Traunstein auf Schmerzensgeld für den erlittenen Missbrauch. Die Anwälte der Kirche reagierten im Zivilprozess vor dem Landgericht Traunstein mit „Nichtwissen“ über den angerichteten Schaden.

Daraufhin ernannte die Richterin einen Gutachter, der mit Perr mehrere retraumatisierende Gespräche führen musste. In einer Stellungnahme in der regionalen Presse erklärte das Erzbistum, dass nicht deren Anwälte das Gutachten gefordert hätten, sondern es von der Richterin in Auftrag gegeben wurde.
Dies sei aber die Konsequenz der Verteidigungsstrategie gewesen, sagte der Berliner Anwalt Andreas Schulz, der Perr im Zivilprozess vertritt. Hätten die Anwälte den Schaden als unstreitig betrachtet, hätte die Richterin keinen Gutachter bestellen müssen. Wegen dieses laufenden Verfahrens will Marx das Gnadengesuch nicht unterstützen.
Landgericht Traunstein: Pflichtverletzung des Erzbistums und des Papstes
Das Landgericht Traunstein stellte bereits eine Pflichtverletzung sowohl des Erzbistums als auch des deutschen Papstes im Umgang mit dem verurteilten Priester fest. H. ist ein notorischer Missbrauchspriester. Nach einer Missbrauchstat in Essen 1979 an mehreren Jungen, wurde er vom Bistum im Ruhrgebiet nach Bayern versetzt, als Kardinal Joseph Ratzinger Erzbischof in München war.
H. missbrauchte weiter und wurde 1986 vom Amtsgericht Ebersberg für mehrfachen Kindesmissbrauch lediglich zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Ein Gutachten hatte ihm „Pädophilie“ attestiert, was der damalige Richter als strafmildernd wertete. Die damaligen Verantwortlichen des Erzbistums vertrauten dem Richter, er sei ein „praktizierender Katholik“, hieß es damals in internen Dokumenten. Der Richter verfügte keine Auflagen, sodass das Erzbistum den Pfarrer erneut in die Gemeindearbeit einsetzen konnte.
Da H. vor allem dann Kinder missbrauchte, wenn er Alkohol trank, sollte er auf diesen verzichten. Da ein Pfarrer in der katholischen Kirche die Messe mit Wein zelebriert, ersuchten sie in Rom nach einer Sondergenehmigung für Pfarrer H., die Messe mit Traubensaft zu zelebrieren.
Hilfe für Betroffene
Wenn Sie Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, können Sie sich zum Beispiel an das „Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch“ wenden: 0800 22 55 530. Telefonzeiten: Mo., Mi., Fr.: 9.00 bis 14.00 Uhr sowie Di, Do: 15.00 bis 20.00 Uhr.
Die Erlaubnis erteilte Kardinal Joseph Ratzinger im Oktober 1986. Er war inzwischen Präfekt der Glaubenskongregation, und der Brief trägt seine Unterschrift. Das WSW-Gutachten erwähnte die Erlaubnis, aber nicht, wessen Unterschrift diese trug. CORRECTIV entdeckte 2023 den Brief und veröffentlichte ihn. Nachdem Ratzinger die Erlaubnis erteilt hatte, wurde H. nach Garching versetzt und traf da auf Perr.
Als Perr missbraucht wurde, offenbarte er sich seiner Mutter, die ihm wegen der starken Stellung des Pfarrers in der Gemeinde nicht glaubte. Perr verlor das Vertrauen in die Erwachsenenwelt, fiel aus der Lebensbahn und rutschte in Alkohol- und Drogensucht. Als 2010 die New York Times über den Missbrauch berichtete, meldete Perr, von Drogen gezeichnet, den Fall der Justiz. Die Münchner Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein und war, wie E-Mails belegen, im engen Kontakt mit den Verantwortlichen des Erzbistums.
Mitgefühl oder Einschüchterung: Was geschah am 23. März 2010?
Auch der damalige Missbrauchsbeauftragte Kneißl unterhielt sich im März 2010 mit Perr. Dieser hat die Erinnerung, dass ihn der Kirchenmann unglaubwürdig machen wollte. Dem widersprach bereits 2024 das Erzbistum und der Sprecher bezog sich erneut auf diese Aussage. Hier das ganze Zitat von damals:
„Dr. Kneißl erinnert sich, vor Ort ein Gespräch mit einem jugendlichen Betroffenen geführt zu haben, der mitteilte, von H. missbraucht worden zu sein. Dr. Kneißl versichert, in keinem seiner Gespräche Betroffene für das verantwortlich gemacht zu haben, was sie erfahren mussten. Vielmehr sei seine Handlungsmaxime nach eigenen Angaben stets gewesen, den Betroffenen zuzuhören und ihren Schilderungen Glauben zu schenken, was ihm so auch von einzelnen Betroffenen attestiert worden sei.“
Das klingt nach viel Mitgefühl. Es gibt allerdings ein „administratives Strafverfahren“ des Erzbistums München und Freising, das erst nach dem Medienskandal 2010 gegen den Priester geführt wurde und 2016 zu einem Urteil führte: Der Priester wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, aber im Priesterstand belassen. In diesem Dokument ist die Befragung von Kneißl und Perr beschrieben. Das Dekret wurde lange geheim gehalten, bis 2022 die Zeit es veröffentlichte. Auch CORRECTIV liegt dieses Dokument vor.
In dem Urteil finden sich Sätze, die Einschüchterung erahnen lassen: „Gegenüber dem Missbrauchsbeauftragten Dr. Siegfried Kneißl, der seinerseits am 23.03.2010 ein Gespräch mit Herrn Perr im Pfarramt führte, gibt Herr Perr zunächst an, dass eigentlich nichts passiert sei, er habe nur Geld für seinen Drogenkonsum bekommen wollen.“
Oder: „Laut Protokoll des Missbrauchsbeauftragten Dr. Kneißl sprach Andreas Perr von seinem Aussageverweigerungsrecht, als ihm die Ernsthaftigkeit und die Ausmaße seiner Aussagen bewusst wurden.“ Obwohl Perr 2010 bei Kirche und Polizei den Missbrauch meldete, bekam er keine Gerechtigkeit.
Mittlerweile ist unstreitig, dass Perr vom Pfarrer missbraucht wurde. Perr hatte Recht. H. ist nun kein Priester mehr und lebt in Freiheit, während Perr in der JVA Weihnachten verbringen muss und Kardinal Marx sich weigert, das Gnadengesuch zu unterstützen.
Text und Recherche: Marcus Bensmann
Redigat und Faktencheck: Anette Dowideit
Textproduktion: Samira Joy Frauwallner