Neue Rechte

Ordnung und Respekt

Unser Reporter Raphael Thelen reist durch MeckPomm vor der Landtagswahl. Bei früheren Wahlen in anderen Bundesländern holte die AfD in russland-deutschen Wohngegenden bisweilen rund die Hälfte der Stimmen. Warum? Auf nach Rostock Groß Klein, wo zwischen den Plattenbauten bis heute viel Russisch zu hören ist.

von Raphael Thelen

Eine junge Ballerina in Rostock. Ihre russlanddeutsche Mutter sagt: „Die Kinder in Deutschland sind faul." In Russland herrsche mehr Disziplin.© Hannes Jung

Diese Serie erscheint parallel auf Zeit Online.


Am Telefon sagt mir der Kreisvorsitzende der Rostocker AfD: „Als ich die Unterschriften für meine Direktkandidatur sammelte, waren von den 200 Stück ungefähr 40 von Deutsch-Russen.“

Und in Groß Klein, einem deutsch-russisch geprägten Plattenbauviertel im Norden der Stadt, erreichte die AfD bei der letzten Bürgerschaftswahl ihr zweitbestes Ergebnis in Rostock.

Das ist der richtige Ort für unsere Recherche. Wir fahren hin und fangen an, uns durchzufragen.

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Ein Wohnblock in Rostock Groß Klein. Der beachbarte Stadtteil Schmarl wird von Rostockern auch „Schmarlingrad“ genannt.

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Ein Wohnblock in Rostock Groß Klein. Der beachbarte Stadtteil Schmarl wird von Rostockern auch „Schmarlingrad“ genannt.

Nachmittags besuchen wir Galina Weber-Poukhlovski, sie betreibt im Einkaufszentrum von Groß Klein ein Ballettstudio. Sie führt uns in den Ballettraum mit bodentiefen Spiegeln und Ballettstange. „Bitte nehmen Sie Platz“, sagt sie und bleibt aufrecht vor uns stehen.

In Russland tanzte sie als Solistin, ist in Bonn und Wiesbaden aufgetreten, ein Drittel ihrer Schüler kommt aus deutsch-russischen Familien. Doch auf unsere Fragen antwortet sie knapp, und nach zehn Minuten ist unser Gespräch so gut wie beendet. Wir fragen noch, ob sie jemanden kenne, der mit uns sprechen möchte. Sie telefoniert einige Familien ihrer Schüler durch. Nein, niemand möchte.

Fotograf Hannes Jung bittet, ein Foto machen zu dürfen. Während ihre Tochter im weißen Tutu schwanengleich Rücken, Arme und Hals streckt und auf den Zehenspitzen tippelt, guckt ihre Mutter mit kritischem Blick und merkt an: „Die Kinder in Deutschland sind faul, üben nicht genug. In Russland hatten wir mehr Disziplin.“

Nebenan treffen wir Marina und Igor Grygorenko, die mit großem Erfolg einen russischen Supermarkt betreiben, und lassen uns erzählen, wie sie vor hohen russischen Feiertagen palettenweise Borschtsch, Dosenfisch und Eiernudeln ankarren. Sie lieben ihre Arbeit und einander und lächeln so zufrieden, dass ich sie drücken möchte.

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Marina und Igor Grygorenko in ihrem Supermarkt. Erst vor kurzem haben sie die Ladenfläche verdreifacht.

Hannes Jung

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Marina und Igor Grygorenko in ihrem Supermarkt. Erst vor kurzem haben sie die Ladenfläche verdreifacht.

Hannes Jung

Für Politik, sagen beiden, interessierten sie sich nicht.  „Habt ihr Freunde, die politisch interessiert sind?“ Kurzes Beraten auf Russisch, dann: Nein. Wie die Ballettlehrerin scheinen auch sie misstrauisch zu sein gegenüber jeglicher Politik.

Liest man Zeitungen oder hört Politikern zu, heißt es oft: Spätaussiedler bescheißen den Staat, saufen Wodka und prügeln sich andauernd. Erfolgsgeschichten wie die von den Grygorenkos werden selten erzählt. Und sind nicht auch wir unterwegs, um die Enttäuschten und Wütenden zu suchen?

Wir kontaktieren den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, die 1992 von Migranten aus der Sowjetunion gegründet wurde und heute 700 Mitglieder zählt. Er sagt, dass er leider keine Gesprächspartner vermitteln könne. Der Vorsitzende der russischen Landsmannschaft und der des Vereins der Freunde der russischen Sprache rufen nicht zurück.

Uns dämmert, dass wir aus Groß Klein raus müssen.

Am nächsten Morgen treffen wir Marina und Michael Beitman-Korchagin, zwei jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, die in Rostock das jüdische Theater Mechaje gegründet haben.

Michael sitzt im Theaterbüro in einem weißen Bürostuhl, das Hemd offen und präsentiert beste Gastgeberlaune. Als er nach einer ausholenden Geste seinen Arm abstützt, fällt die Bürostuhllehne ab. „Macht nichts“, nuschelt er und schiebt sie unter den Schreibtisch. Seine Frau Marina guckt ihn flehend an, auch um seine Plauderlaune zu bremsen.

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Marina und Michael Beitman-Korchagin im Probenraum des von ihnen gegründeten Theaters Mechaje, der ersten jüdischen Bühne Ostdeutschlands.

Hannes Jung

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Marina und Michael Beitman-Korchagin im Probenraum des von ihnen gegründeten Theaters Mechaje, der ersten jüdischen Bühne Ostdeutschlands.

Hannes Jung

Die Geschichte der beiden hilft uns, zu begreifen, wie schwer es vielen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion gefallen sein muss, in Deutschland anzukommen.

In der Ukraine inszenierte der 57-Jährige am Stadttheater seiner Heimatstadt Czernowitz, Marina arbeitete als Schauspielerin in Kiew. 1996 ließen sie dieses Leben zurück und siedelten nach Deutschland über. „Weil wir für unsere Kinder eine bessere Zukunft wollten“, sagt Michael. Zuerst hausten sie in den Mehrbettzimmern eines Einwandererwohnheims, kamen dann nach Rostock und lebten von Sozialhilfe. Arbeit fanden sie in einem Zirkus für Kinder.

„Viele befreundete Ärzte mussten zwei Jahre lang Praktika machen, bevor sie Jobs bekommen haben. Viel Arbeit für wenig Geld. Andere waren in der Sowjetunion Betriebsdirektoren oder Wissenschaftler. Hier mussten sie dann putzen gehen“, sagt Michael.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen mehrere Millionen Menschen nach Deutschland und ihre strahlenden Hoffnungen zerschellten oft am verwitterten Waschbeton der Plattenbausiedlungen.

Der deutsche Staat erkannte ihre Abschlüsse nicht an, strich Deutschkurse zusammen. Vielen blieb nur, putzen zu gehen, Arbeit auf dem Bau zu suchen oder in der Altenpflege. Und auf den Ämtern schlug ihnen nicht selten bürokratische Arroganz entgegen: Ach, Sie sind Russlanddeutscher. Warum sprechen Sie dann kein Deutsch?

Weil sie es nicht sprechen durften. Bis in die 1940er Jahre hinein beherrschten viele Deutschstämmige in Russland ihre Muttersprache. Doch Kriegsherr Josef Stalin schimpfte sie Verräter und deportierte viele nach Sibirien. Selbst in den Familien durfte Deutsch fortan nicht mehr gesprochen werden. So waren sie in Russland immer „die Deutschen“. Und später in Deutschland „die Russen“.

Die AfD hat es verstanden, dieses Vakuum für sich zu nutzen. Offenbar weiß man dort um die zerschellten Träume und das Verlangen, zu Deutschland zu gehören. Immer wieder gehen AfD-Politiker auf Spätaussiedler zu. In Erfurt begrüßen AfD-Redner das Publikum auch mal auf Russisch, die AfD Brandenburg übersetzte ihr Wahlprogramm ins Russische. Eine Russischdolmetscherin zeigte mir später russische Webseiten mit Spott über Angela Merkel und die Flüchtlingskrise und erklärte mir, wer offenbar dahinter steht – die AfD. „Alexander Gauland ist hinter den Aussiedlern her wie der Teufel hinter den Seelen“, sagte sie.

Die Beitman-Korchagins versuchten, die anfänglichen Probleme mit dem zu lösen, was sie am besten können: Theater spielen. Sie gründeten die erste jüdische Bühne Ostdeutschlands.

Ihr erstes Stück „Gestern – Stetlgeschichte“ handelte vom jüdischen Leben in ihrer Heimatstadt. Die beiden inszenierten es auf Russisch. „Mit diesem Stück haben wir Abschied genommen von unserem früheren Leben“, sagt Michael. Mit jeder weiteren Inszenierung versuchten sie ein bisschen mehr in Deutschland anzukommen. Die russischen Texte wurden durch Jiddisch ersetzt und dann auch durch Deutsch.

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Die Bühne des jüdischen Theaters. Anfangs inszenierten die Beitman-Korchagins ihre Stücke auf Russisch, inzwischen längst auf Deutsch.

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Die Bühne des jüdischen Theaters. Anfangs inszenierten die Beitman-Korchagins ihre Stücke auf Russisch, inzwischen längst auf Deutsch.

Für ihre Arbeit erhielten sie öffentliche Förderung und Preise. 20 Jahre und 20 Stücke später sagt Michael: „Unser Pass ist deutsch, wir sind Juden, aber unsere Mentalität bleibt ein bisschen sowjetisch.“ Sowjetisch, dass heißt für ihn auch: Viele seiner Landsleute sehnen sich nach einem starken Führer. Auch das spielt der AfD in die Hände. 

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Marina Kölpin in der russisch-orthodoxen Kirche. In Russland studierte sie Wirtschaft, in Rostock arbeitet sie als Supermarktkassierin.

Hannes Jung

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Marina Kölpin in der russisch-orthodoxen Kirche. In Russland studierte sie Wirtschaft, in Rostock arbeitet sie als Supermarktkassierin.

Hannes Jung

Gedämpftes Licht fällt durch die blauen Bleiglasscheiben des Speiseraums der russisch-orthodoxen Kirchengemeinde „zu Ehren der Seligen Xenia von St.-Petersburg“. An den Wänden hängen Ikonen. Darunter sitzt Marina Kölpin, die für den Kirchenbesuch ihr Haar mit einem gelben Schal bedeckt hat.

„Früher habe ich mich geschämt als Russin in Deutschland“, sagt die 41-Jährige. „Dieser Jelzin, wie er betrunken Geige gespielt hat und uns alle blamierte. Aber der Putin, der liebt Russland, wir haben jetzt wieder eine prestigeträchtige Armee, und meine Eltern bekommen regelmäßig ihre Rente.“

Putin tritt auch als Schutzherr der Spätaussiedler auf, und jene, die an den Integrationshürden scheiterten, nehmen das gerne an und freuen sich, wenn die AfD plakatiert: Schluss mit den Russland-Sanktionen.  

Neben Kölpin sitzt Pfarrer Hieroschemamonk Rafail, der sich um das Seelenheil der russisch-orthodoxen Gemeinde von Mecklenburg-Vorpommern kümmert.

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Pfarrer Hieroschemamonk Rafail in der russisch-orthodoxen Kirche von Rostock. Homosexualität? Schwächt die Gesellschaft!, wettert er.

Hannes Jung

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Pfarrer Hieroschemamonk Rafail in der russisch-orthodoxen Kirche von Rostock. Homosexualität? Schwächt die Gesellschaft!, wettert er.

Hannes Jung

„Früher war die deutsche Gesellschaft stark“, sagt er und bald überschlägt sich seine Stimme. „Aber durch die Homosexualität wird sie schwächer und geht leider kaputt“, ereifert sich Vater Rafail. Und Frau Kölpin sagt: „Für Frauen gelten die drei K: Kinder, Küche, Kirche.“

Abends treffen wir uns nochmal mit dem Ehepaar Beitman-Korchagin. Ich hatte vorgeschlagen, gemeinsam Essen zu gehen oder uns bei ihnen zuhause zu treffen, doch beides wollten sie nur ungern. Ihnen fehlt Geld.

Stattdessen sitzen wir wieder im Büro des Theaters, auf dem kleinen Tisch haben die beiden Baguettebrötchen, Hering, Scheibenkäse und ein paar Flaschen Bier angerichtet. Vor dem Fenster geht die Sonne unter. Michael erzählt witzige Anekdoten aus seinem Leben, ich frage nach dem Holocaust.

Deutsche Flieger bombardierten den Flüchtlingszug, in dem Michaels Mutter fuhr, Wehrmachtssoldaten ermordeten seine Tante und seinen Onkel. „Das ist auch der Grund, warum wir den Schabbat ehren. Es ist unsere Pflicht gegenüber den Juden, die im Holocaust umgebracht wurden“, sagt Marina.

Erst kürzlich hat sich Michael das AfD-Programm durchgelesen. „Für die Leute macht da vieles Sinn“, sagt er. Einerseits. Aber der Hass auf Muslime macht ihm Sorge. Und obwohl in seinem deutschen Vokabular Lücken klaffen, verfolgte er aufmerksam den Streit um die antisemitischen Bücher eines baden-württembergischen AfD-Abgeordneten.

Er spricht nicht oft mit seinen Freunden über solche Themen. Doch letztens kam einer zu ihm und sagte scherzhaft: „Jetzt agitieren sie gegen die Muslime. Und bald kommen wieder die Juden dran.“ Das hat ihn erschreckt.

Unsere Reise durch das Rostock der Spätaussiedler ist zu Ende. Auf dem Weg zurück ins Hotel wundere ich mich, wie verquer das alles ist: Deutsche aus der Sowjetunion machen die AfD stark, während Juden aus der Sowjetunion die AfD fürchten. 

Und warum wählen die Russlanddeutschen nun die AfD? Es gibt viele Gründe. Aus Misstrauen gegenüber einer misstrauischen deutschen Öffentlichkeit. Wegen ihrer jahrelangen, manchmal vergeblichen Kämpfe um Jobs und Zugehörigkeit. Weil sie traditionellen Werten anhängen. All das ergibt Schnittmengen mit der AfD. Und darüber hinaus bietet die Partei den Russlanddeutschen etwas, was ihnen lange verwehrt geblieben ist: Wertschätzung.

Im Hotelzimmer denke ich: Es wäre an der Zeit, mal eine positive Geschichte über Russlanddeutsche zu schreiben.

Die Recherche in Kooperation mit „Zeitenspiegel Reportagen“ wurde von Raphael Thelen über die Plattform crowdfunding.CORRECTIV finanziert. Wir bedanken uns bei der Rudolf Augstein Stiftung und mehr als 100 Einzelspendern für die Unterstützung.

Sofern die Spender einer Namensnennung zugestimmt haben, werden sie hier aufgeführt.

Bert Rothkugel, Andres Eberhard, Jonas Aust, Philipp Lienhard, Wiebke Buth, Laura Sundermann, Felix Kamella, Diana Di Maria, Sven Brose, Kai Schächtele, Hannes Opel, Volker Vienken, Friedrich Dimmling, Ulrike Kahl, Felix Weykenat, Constanze Günther, Carolin Wilms, Maria Schmidt-Lorenz, Heiko Hilken, Petra Sorge, Lien Pham-Dao, Elisabeth Ferrari, Wolfgang Weidtmann, Gerhard Dimmling-Jung, Hanfried Victor, Michael Vogel, Tina Friedrich, Stefan Z, Nicole Graaf, Alexander Surowiec, Michael Rasenberger, David Weyand, Christian Mair, Christian Vey, Jörn Barkemeyer, Katharina Müller-Güldmeister, Pia Schauerte, Sybille Förster, Heiko Mielke, Marcus Windus, Christiane Specht, Sebastian Cunitz, Felix Schmitt, Khazer Alizadeh, Tobias Brabanski, Veronika Wulf, Christian Frey, Linda Salicka, Anna Kaleri, Lutz Wallhorn, Edith Luschmann, Thomas Stroh, Christoph Gemaßmer, Matthias Kneis, Gunnar Findeiß, Christiane R, Friedemann Huse, Werner Thelen, Lukas Ladig, Stephan Thiel, Tobias Hill, Florian Berger, Marcus Anhäuser