Blick in die Zukunft: Perspektiven für die Ukraine und Russland nach dem Krieg
Ein Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist nicht in Sicht. Aber es wird für beide Länder eine Zeit nach dem Krieg geben. Über Perspektiven und die Rolle der Zivilgesellschaft haben wir die ukrainische Journalistin Anna Babinets und den Leiter des russischen Sacharow Zentrums Sergey Lukashevsky im Video interviewt.
Es ist nicht klar, wann der Krieg Russlands gegen die Ukraine aufhört; nicht wie er beendet werden kann oder welche kriegerischen Mittel noch eingesetzt werden. Auch wenn es derzeit kaum vorstellbar ist, wie eine Zukunft in der Ukraine und in Russland aussehen kann, ist es notwendig, den Blick auch auf die Zeit danach zu richten.
Wir sprechen in zwei Interviews darüber, wie Perspektiven für die Gesellschaft in beiden Ländern aussehen könnten:
Was braucht die Ukraine, um nicht nur ihre Häuser aufzubauen, sondern auch eine stabile Demokratie zu sichern?
Welche gesellschaftlichen Strömungen entwickeln sich in Russland, die nichts mehr erhoffen als ein Russland ohne Putin?
Dafür haben wir zwei außergewöhnliche Gesprächspartner gewonnen, die in zwei Interviews über die Zukunft ihres jeweiligen Landes aus interner Perspektive sprechen.
Anna Babinets ist eine mehrfach ausgezeichnete ukrainische Journalistin und leitet das investigative Magazin Slidstvo in Kiew. Sie dokumentiert mit ihrem Team zur Zeit Kriegsverbrechen mit dem Ziel, dass Kriegsverbrecher nach dem Krieg vor ein Tribunal kommen.
„Wir bereiten uns jetzt darauf vor, wie die Ukraine aufgebaut werden kann, wenn der Krieg vorbei ist,“ sagt Anna Babinets.
Sergey Lukashevsky ist Leiter des Sacharow Zentrums für Menschenrechte in Moskau. Er arbeitet daran, die Zivilgesellschaft in Russland zu stärken. Seine Organisation ist von Putin als „ausländischer Agent“ eingestuft und verboten, er lebt derzeit im Exil in Berlin.
„Wenn die Verwaltung in Russland das Vertrauen verliert, kann ein Russland ohne Putin entstehen,“ sagt Sergey Lukashevsky.
Zwei Gespräche – zwei Perspektiven auf die Zukunft
Anna Babinets berichtet in unserem Gespräch, wie ein stabiles politisches System in der Ukraine aufgebaut werden kann. Sie hofft darauf, dann wieder die Funktion auszuüben, die dem Journalismus als Vierte Gewalt zukommt: die Mächtigen zu kontrollieren. Sonst, so sagt Babinets, „wird es gefährlich, weil es zu große Skandale geben könnte“. Und sie ist überzeugt, dass das bald wieder möglich sein wird.
Schon jetzt untersucht ihr Team einen Fall von Korruption ihrer Regierung. „Das ist ein wichtiges Signal, wir bereiten uns auch damit auf den Aufbau einer stabilen Demokratie vor.“ Für das Gespräch ist sie aus Kiew zugeschaltet.
Sergey Lukashevsky spricht über mehrere Szenarien, die für die Zeit nach dem Krieg in Russland denkbar sind – mit und ohne Putin. Über eine Verwaltung, die zwischen Loyalität und Zermürbung wankt. Und eine Gesellschaft, die stumm geworden ist, in der aber viele auf ein anderes Russland hoffen. Lukashevsky sieht die Möglichkeit, dass die Verwaltung und die Gesellschaft sich fragen werden, warum „zahlen wir so einen hohen Preis, ohne etwas davon zu haben?“.
Er spricht auch über diejenigen, die auf eine Zeit nach Putin warten und darauf hoffen, dass eine politische Figur die Kräfte der Opposition zusammenführt – was aber noch nicht in Sicht sei. Und über den realistischen Blick, welche Dynamik Russland im Inneren entwickeln wird.
Eine notwendige Debatte
Der Krieg bestimmt alles in der Ukraine. Putin hat ein faschistisches Russland geschaffen. Es ist und bleibt schwierig, über die Zeit nach dem Krieg zu sprechen. Aber beide Interviews zeigen, wie sich die Gesellschaften im Inneren entwickeln. Wie sich ein starker zivilgesellschaftlicher Kern in der Ukraine auf den Aufbau und die Sicherung einer stabilen Demokratie vorbereitet. Und welche Gruppen in Russland auf Änderungen setzen.
Es wird wichtiger werden, über diese Perspektiven zu debattieren. Dafür möchten wir einen Anstoß geben.