Russland/Ukraine

Gefangen in der Kriegswirtschaftszone

Russland attackiert die Ukraine fast täglich mit Kamikaze-Drohnen. Produziert werden die Maschinen in einer Sonderwirtschaftszone in Tatarstan, die über Jahre ein attraktiver Standort für ausländische Unternehmen war. Nun steht ein deutsch-russisches Joint-Venture im Verdacht, Glasfaserprodukte für den Drohnenbau bereitzustellen.

von Alexej Hock

Drohne Tatarstan

Die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer kennen nach zwei Jahren Krieg das Geräusch nur zu gut, das wie ein altes Moped klingt. Fast täglich hören sie das charakteristische Brummen über ihren Köpfen. Wenn sie es wahrnehmen, wissen sie, dass sich von irgendwo eine Shahed-Drohne nähert, beladen mit Sprengstoff und mit dem einzigen Zweck der Zerstörung. 

Shahed-Drohnen haben den Lauf des Krieges verändert. Sie wurden im Iran entwickelt und wurden im ersten Kriegsjahr von Russland eingekauft – erst ganze Maschinen, dann die Baupläne und die Lizenz. Ihr Vorteil: Sie sind billig und lassen sich mit einfachen Bauteilen und Prozessen fertigen. Die Sonderwirtschaftszone Alabuga in der Region Tatarstan westlich des Uralgebirges ist zur Hauptproduktionsstätte in Russland geworden. 

CORRECTIV konnte interne Dokumente einsehen, die den Aufbau der Produktion dokumentieren. Sie zeigen, wie der einstige attraktive Standort für ausländische Investoren zum Zulieferer der russischen Kriegsmaschinerie geworden ist. Und sie werfen Fragen auf zur Rolle eines sächsischen Unternehmens, das dort an einem Joint-Venture für Glasfaserprodukte beteiligt ist. Es ist ein Lehrstück darüber, dass jede noch so vorbildliche deutsch-russische Kooperation der vergangenen Jahrzehnte zu einem Zahnrad von Putins Kriegswirtschaft werden kann.

Projekt Motorboot

Schritt für Schritt dokumentiert eine 214-seitige Präsentation anhand von Fotos und Skizzen, wie die Seitenverkleidung, die Winglets und der Rumpf der Drohne hergestellt werden sollen. In die Matrizen werden nacheinander Glasfaser- und Kohlefasergewebe eingelegt und mit Hilfe von Pinsel und Spatel mit Chemikalien getränkt. Nach und nach setzt sich die Drohne zusammen. „Das ist keine hochwertige Produktionsmethode“, sagt Manfred Hajek von der TU München, der sich dort mit der Anwendung von Leichtbaustrukturen in der Luftfahrt beschäftigt hat. „Im Grunde könnte es eine Anleitung zur Reparatur eines Bootes sein“.

Die Ähnlichkeit zum Bootsbau wird der Grund sein, warum das Projekt in diesem und anderen Dokumenten den Codenamen „Projekt Motorboot“ erhielt. Die Washington Post hatte im August vergangenen Jahres über das russische Programm berichtet und aus dem Schriftverkehr mit der iranischen Seite zitiert. Darin wird je nach Drohnen-Untertyp von „großen“ und „kleinen“ Booten die Rede, die Sprengstoffbeladung wird als „bumper“, also Stoßstange codiert. 

Aufschluss über Materialverbrauch und mögliche Zulieferer gibt ein zweites internes Dokument. So werden beispielsweise für ein „Boot“ 56,34 Quadratmeter Karbonfaser- und 36,02 Quadratmeter Glasfasermatte veranschlagt. Es folgt eine Auflistung von möglichen Lieferanten. Die meisten der Firmen stammen aus Russland, zwei von ihnen sind direkte Nachbarn der Drohnen-Produktionsstätte. Umatex, so heißt es in dem Dokument, sei bereit, Kohlefaserstoffe zu liefern. Bei der Firma PD Tatneft-Alabuga hingegen, die offenbar gewünschte Glasfaserprodukte bereitstellen könnte, sei die „Nachrüstung des Unternehmens für die Herstellung des benötigten Stoffes für das Projekt Boot’ im Gang“. 

Während die erste Firma ein russisches Unternehmen ist, ist der zweite anvisierte Zulieferer eine Besonderheit. Denn bei der PD Tatneft-Alabuga handelt es sich um ein deutsch-russisches Joint Venture. Bis heute hält der sächsische Glasverarbeiter P-D Glasseiden aus Oschatz 25 Prozent. Wurden die Pläne umgesetzt, geben Gewebe aus der gemeinsamen Produktionsstätte den russischen Tötungsmaschinen die nötige Struktur.

Die deutsche Beteiligung

Das Joint Venture mit dem russischen Erdölkonzern Tatneft wurde 2007 gegründet, ein Jahr später begann der Bau für das gemeinsame Glasfaserwerk in der Sonderwirtschaftszone Tatarstan. Zur Werkseröffnung im Jahr 2010 war der damalige sächsische Wirtschaftsminister Sven Morlok (FDP) angereist. Er lobte die Kooperation als „herausragendes Beispiel für die deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft“. 

Nach der Krim-Annexion ging es mit der PD Tatneft-Alabuga bergauf, so dass sich der deutsche Anteilseigner von früheren Ausstiegsplänen wieder verabschiedete. „In Anbetracht der außerordentlich positiven Ertragsaussichten der Tochtergesellschaft“ habe man den Verkauf der verbleibenden 25 Prozent „vorerst“ zurückgestellt, heißt es in dem Jahresbericht für 2016. Selbst für 2022 wurde in Oschatz noch mit einem „deutlich positiven Ergebnis“ gerechnet. Das Unternehmen stieg in Russland zu einem führenden Hersteller von Glasfasergeweben und -matten auf. 

Mitglieder einer Sonderwirtschaftszone erfahren steuerliche und bürokratische Vorteile. Alabuga war bis zum Februar 2022 die größte und attraktivste in Russland. Doch nach dem Angriff auf die Ukraine zogen sich viele ausländische Investoren aus dem russischen Markt zurück – auch aus der Zone in Tatarstan. So ist Ford Motor aus seinem Joint Venture mit dem russischen Konzern Sollers ausgestiegen. Gemeinsam hatte man in Alabuga das Automodell Aurus produziert. Auch der Hersteller technischer Gase Air Liquide oder der Technologiekonzern 3M verließen die Zone. Den Sachsen gelang dies nicht.

Womöglich liegt das auch an der Umorientierung, die in jenem Herbst des ersten Kriegsjahres in Alabuga stattfand  von einer Sonder- in eine Kriegswirtschaftszone. Die Drohnenproduktion, so offenbar das Kalkül der Betreiber, sollte von der Kriegswirtschaft profitieren und den Standort retten. Eine Delegation reiste in den Iran und ließ sich unterrichten, zwei Hallen wurden für die Produktion errichtet, Studentinnen und Studenten eines benachbarten Polytechnikums für den Zusammenbau der Flugobjekte akquiriert, berichteten das russische Portal Razvorot und die Washington Post im Juli und August vergangenen Jahres. Das Ziel: 6.000 Drohnen in  33 Monaten.

Ein Fund der Firma Molfar weist darauf hin, dass das Werk von PD Tatneft-Alabuga eingebunden wurde. Bei Molfar handelt es sich um Analysten, die Recherchen und Trainings auf dem Feld von OSINT anbieten, also basierend auf offenen Quellen im Internet. Sie haben gesammelt, welche Gadgets – Smartphones oder Pads – in der Produktionsstätte von Lancets, eines anderen Drohnentyps, registriert wurden. Eines der Geräte tauchte im Sommer 2023 auch auf dem Fabrikgelände des Joint Ventures in Alabuga auf.

Ausstieg nur mit Zustimmung der Regierung

Die Präsentationen, die den Aufbau der Produktion in Alabuga dokumentieren, tragen das Logo und Design der Betreiberfirma. Diese und weitere Dokumente stammen aus einem Konvolut, das anonym ins Internet geladen worden ist. Es ist weiterhin abrufbar und beinhaltet Verträge, Skizzen und E-Mails beteiligter Unternehmen. Die Inhalte decken sich mit bisheriger Berichterstattung und werden von der Redaktion als authentisch eingestuft. 

Für ihre Rolle an der Drohnenproduktion ist die Betreiberfirma SEZ Alabuga vor wenigen Wochen von der EU und den USA sanktioniert worden. Das US-Finanzministeriums teilte dazu mit, das Unternehmen habe einen Vertrag mit dem russischen Militär, um die Drohnen aus dem Iran zusammenzubauen und „heimische Kapazitäten für die Produktion vieler Komponenten“ in Russland hochzufahren. Betroffen von den Sanktionen sind auch weitere Residenten der Sonderwirtschaftszone und verantwortliche Personen. 

Das Joint Venture PD Tatneft-Alabuga ist bislang nicht namentlich gelistet, allerdings ist fast jeder Beitrag zur russischen Aufrüstung ohnehin von europäischen Sanktionen abgedeckt. Das hat Konsequenzen für den deutschen Anteilseigner. Die P-D Glasseiden teilte auf Anfrage mit, man habe gemäß den Sanktionen bereits im April 2022 „jede Form von kommerzieller und technischer Zusammenarbeit und Unterstützung unmittelbar eingestellt“. Von dem Drohnenbau habe man keine Kenntnis.

„Die bloße gesellschaftsrechtliche Beteiligung an einem russischen Unternehmen verstößt in aller Regel gegen keine sanktionsrechtlichen Verbote“, erläutert Christoph Herrmann, Professor für internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau. Für einen Verstoß bräuchte es eine aktive Förderung. Und diese bestreitet das sächsische Unternehmen vehement. Es finde „faktisch keinerlei unternehmerische Mitsprache“ statt. Der vor Ort ansässige deutsche Mitarbeiter sei abberufen worden, sämtliche Dienstreisen nach Russland eingestellt. Auch habe man seit Inbetriebnahme keine Gewinnausschüttungen erhalten. 

Die restlichen Anteile versuche man abzustoßen, allerdings „in Anbetracht der erheblichen bürokratischen Hürden“ bislang erfolglos. Bereits im Herbst 2022 habe man die Anteile dem Hauptgesellschafter Tatneft angeboten. Nun geht man davon aus, dass der Verkauf noch in diesem Jahr stattfinden wird – „mit einem erheblichen Buchverlust in zweistelliger Millionenhöhe“. Man könnte es auch Erpressung oder Kaperung nennen.

Für Christoph Herrmann ist das ein bekanntes Problem. Mittlerweile sei der Verkauf regelmäßig nur noch mit Zustimmung der russischen Regierung überhaupt möglich. Und die ist offenbar nicht besonders daran interessiert, den ausländischen Partner zu entlassen.

Frühe Hinweise

Im Jahr 2017 betonte der russische Vize-Wirtschaftsminister Wassili Osmakow die Wichtigkeit der Produktion als Ersatz für Importe, da diese die Basis für Komposit-Teile seien, die in der Rüstungsbranche zugelassen seien. In einer Werbebroschüre führte Tatneft 2021 aus, dass 70 Prozent der Produktion des gemeinsamen Glasfaserwerks auf den russischen Markt komme. Es stelle Produkte unter anderem für die Automobilbranche, den Schiffs- und Flugzeugbau – und die Rüstungsindustrie her. 

Auch dazu habe die P-D Glasseiden keine Erkenntnisse, heißt es. Dabei wäre ein Ausstieg damals vermutlich noch möglich gewesen. Doch das Beispiel zeigt: Wer nicht rechtzeitig die Reißleine gezogen hat, ist nun in der russischen Kriegsmaschinerie gefangen.

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