Kann es in Erdoğans Türkei jemals wieder echte Demokratie geben?
Unter dem amtierenden türkischen Präsidenten wurde zwar gewählt, doch die Opposition kann einfach nicht gewinnen – weil sich Erdoğan und seine Partei Strukturen geschaffen haben, die den politischen Gegnern kaum eine Chance geben. Die Türkei ist nur eines von vielen autokratischen Ländern, in denen Politik so funktioniert. Was kann man tun?
Die türkische Politik der vergangenen 20 Jahre fühlt sich an wie die Fußball-Bundesliga der letzten zehn Jahre: Es spielen viele Mannschaften mit – aber der Sieger ist am Ende immer derselbe.
Seit 1994 hat Recep Tayyip Erdoğan sieben Parlamentswahlen, vier Kommunalwahlen, drei Volksabstimmungen und zwei Präsidentschaftswahlen gewonnen.
Ist er unbesiegbar? Nachdem Erdoğan Ende Mai seine dritten Präsidentschaftswahlen gewann, hat sich dieses Gefühl bei vielen in der Türkei festgesetzt. Aber ist dieser Erfolg das Ergebnis seines persönlichen Talents – oder liegt es daran, dass er und seine Weggefährten über die Jahrzehnte seines Wirkens hinweg ein politisches System geschaffen haben, das es faktisch unmöglich macht, dass andere an die Macht gelangen können?
Demokratien, die in Wahrheit keine sind
Es ist eine Frage, die weit über die Türkei hinausgeht; sie betrifft alle sogenannten „gewählten autoritären“ Regime von Ungarn bis Aserbaidschan. „Gewählt“, weil dort, wie in normalen Demokratien, in regelmäßigen Abständen Wahlurnen aufgestellt werden, Kandidaten antreten und die Wähler ihre Stimme abgeben können. „Autoritär“, weil es in diesen Regimen aber im Gegensatz zu normalen Demokratien viele Hindernisse gibt, die verhindern, dass der tatsächliche Wählerwille sich an der Wahlurne widerspiegelt.
Zwar gibt es Gesetze, aber sie werden nicht durchgesetzt. Zwar gibt es Regeln, aber sie begünstigen stets den Autokraten. Wahlkampf ist möglich, aber die Kandidaten werden nicht gerecht behandelt. Daher können Kandidaten zwar konkurrieren, aber nicht gewinnen.
Hilfe vom Obersten Wahlrat
Lassen Sie mich ein Beispiel aus der letzten Wahl in der Türkei anführen: Erdoğan kandidierte zum dritten Mal für das Präsidentenamt – obwohl die türkische Verfassung dies nicht zulässt. Dort heißt es: „Eine Person kann höchstens zweimal zum Präsidenten der Republik gewählt werden.“
Erdoğan kandidierte trotzdem. Seine Regierungspartei, die AKP, beharrte auf seiner illegalen Kandidatur mit der Begründung, das „Präsidialsystem in der Türkei“ sei „gerade erst eingeführt“ worden – womit es sich formal erst um dessen zweite Wahlperiode handele.
Weiter geht es damit: Der Verfassung zufolge muss der Präsident einen Universitätsabschluss vorweisen. Nun ist Erdoğans Universitätsabschluss fragwürdig: Das von ihm vorgelegte Diplomzeugnis sieht anders aus als jene anderer Absolventen aus den Jahrgängen, in denen er die Hochschule besucht haben will. Es existiert auch kein einziges Foto von ihm an der Universität – und es ist niemand öffentlich bekannt, der bezeugen kann, mit ihm gemeinsam studiert zu haben.
Dennoch stellte sich das für Erdoğans Zulassung zur Präsidentschaftswahl zuständige Gremium, der Oberste Wahlrat, auf seine Seite: Es wischte die Bedenken mit den Worten zur Seite, die Anschuldigungen seien „abstrakt“, es gebe keinen echten Beweis, dass er die Universität nicht besucht habe.
Ein juristischer Coup
Ekrem İmamoğlu dagegen, der gegen Erdoğan antreten wollte, wurde im letzten Moment von der Kandidatur ausgeschlossen. Imamoğlu hatte im Vorfeld als stärkster Gegenkandidat gegolten. Seine Kandidatur verhinderte die Justiz: Er wurde sieben Monate vor der Wahl wegen eines Beleidigungsfalls zu zwei Jahren und sieben Monaten Gefängnis verurteilt.
In dem Zusammenhang beschloss ein höheres Gericht, İmamoğlu bei einer Verurteilung ein politisches Verbot zu erteilen – ihn also von der Kandidatur auszuschließen. Erdoğan schaltete seinen stärksten Konkurrenten also durch einen juristischen Coup aus.
Der Fall zeigt, wie eng auch die Drähte zwischen Richtern und Präsidentenpalast sind. Ein anderes Beispiel für diese Verquickung ist die: Die Ko-Vorsitzenden der zweitgrößten Partei im Parlament sitzen seit sieben Jahren im Gefängnis, weil sie angeblich eine terroristische Organisation unterstützt haben sollen.
Sieg trotz Imageschadens
Obwohl er die faktische Kontrolle über weite Teile des demokratischen Apparats besitzt, bildete sich vor der Wahl gegen Erdoğan die breiteste Koalition in der Geschichte der Türkei. Parteien mit sehr unterschiedlicher Ausrichtung beteiligten sich. Grund dafür war der Zustand des Landes: Nach 21 Jahren Erdoğan-Regierung war und ist die wirtschaftliche Lage im Land desaströs; und auch die von vielen im Land empfundene Untätigkeit der Regierung nach dem verheerenden Erdbeben im Februar mit mehr als 50.000 Toten hatte deren Image nachhaltig beschädigt.
Die meisten Meinungsumfragen sagten eine Niederlage Erdoğans voraus. Bis zum letzten Tag zeigte er sich dennoch äußerst zuversichtlich, die Wahl gewinnen zu können.
Kein Wunder, denn das System, das er sich selbst geschaffen hat, machte es ihm so gut wie unmöglich, zu verlieren.
Wie die Medien dem Präsidenten halfen
Zu seinen Verbündeten gehörten auch die Medien: Während des Wahlkampfs berichtete das öffentlich-rechtliche Fernsehen insgesamt 48 Stunden über Erdoğan, während der Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu nur 32 Minuten Sendezeit erhielt.
Und auch die überwiegende Mehrheit der privaten Fernsehsender, die sich zu 90 Prozent im Besitz von Erdoğan-freundlichen Geschäftsleuten befinden, arbeitete in vielfacher Hinsicht im Sinne der Regierung: Sie gaben der Opposition kaum Raum, ihre Sichtweisen einzubringen. Die wenigen verbliebenen objektiven Kanäle wurden durch schwere Strafen der für die Überwachung der Sendungen zuständigen Behörde zum Schweigen gebracht.
Die Liste weiterer Unterstützer aus dem demokratischen System ist lang: Staatsanwälte, Richter, Bürokraten, Gouverneure, Bezirksgouverneure, Polizeichefs, Kommandeure, Imame, Geheimdienstmitarbeiter, Rektoren und Journalisten des regierenden Parteistaates machten für Erdoğan mobil. Trotzdem erhielt die Opposition 47 Prozent der Stimmen, aber dieses Mal gab es Vorwürfe wegen Betrugs bei der Stimmenauszählung.
Nicht mehr als eine Schaufensterübung
Es stellt sich, um auf die eingangs erwähnte Fußballmetapher zurückzukommen, folgende Frage: Wenn eine Mannschaft den Schiedsrichter kauft, die wichtigsten Spieler der gegnerischen Mannschaft verletzt, den Torwart an den Torpfosten fesselt – und dann das Spiel gewinnt: Kann man dann von einem „fairen Spiel“ sprechen?
Angewendet auf die Türkei: Wenn das, was das Regime als Wahl vorschreibt, nicht mehr als eine Schaufensterübung ist; wenn der Amtsinhaber echte politische Herausforderer verhindert; wenn er unter unfairen Bedingungen antritt und jedes Mal gewinnt; und wenn er dann noch, sollte er die Wahl trotz allem versehentlich verlieren, versucht, das Ergebnis zu „korrigieren“, indem er die ihm unterstellten Milizen mobilisiert:
Was kann dann mit den Mitteln der Demokratie überhaupt noch getan werden, um diese verfestigten Machtverhältnisse jemals wieder aufzubrechen und zu echter Demokratie zurückzukehren?
Dies ist die Hauptfrage, die sich die Menschen in allen „wahlautoritären“ Regimen stellen.
Die Gefahr, dass viele resignierte Erdoğankritiker in der Türkei nach den 17 verlorenen Wahlen einfach aufgeben und nie wieder an die Wahlurne zurückkehren, ist groß. Doch was sind mögliche Lösungen?
Verantwortung für den Westen
Ein Militärputsch? Erdoğan hat diese Option ausgeschlossen, indem er die Armee nach einem verdächtigen Putschversuch gegen ihn weitgehend gesäubert hat.
Ein Bürgeraufstand? Der größte derartige Versuch, der Gezi-Widerstand im Jahr 2013, wurde gewaltsam niedergeschlagen, indem die Polizei das Feuer auf die Bevölkerung eröffnete. Unterstützer der Zivilgesellschaft wurden mit falschen Unterstellungen inhaftiert, um sie vom Demonstrieren abzuhalten.
Durch Druck von außen? Davon ist zumindest von deutscher Seite aus derzeit nichts zu spüren: Bundeskanzler Olaf Scholz war einer der ersten, der Erdoğan nach der Wahl gratulierte. In einer Erklärung, die die 25 Millionen Menschen, die bei der Wahl gegen den Despotismus gestimmt hatten, ignorierte, lud er Erdoğan nach Deutschland ein.
Wie lange wird dieses Spiel der Demokratie im faktisch autoritären Regime unter diesen Bedingungen noch funktionieren? Wenn die Institutionen nicht funktionieren, wenn neben der Legislative und der Exekutive auch die Judikative und die Medien unter der Kontrolle der Regierung stehen, wenn die demokratischen Wege völlig blockiert sind, wie soll dann der Wandel erreicht werden, für den die Hälfte der Gesellschaft kämpft?
Ein klares Signal ist nötig
Das ist die ernste Frage, die sich uns stellt.
Da das Problem mit den „gewählten Autokratien“ eines ist, das auch andere Länder betrifft, muss auch die Lösung auf globaler Ebene liegen: bei den Regierungen. Europa kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Seine Diplomaten müssen es schaffen, bei der Durchsetzung europäischer Interessen stets auch prinzipientreu zu handeln; sie müssen Autokraten klar signalisieren, dass diese keinen Freifahrtschein besitzen – etwa mit Sanktionen –, um Verstöße gegen demokratische Prinzipien zu ahnden.
Es braucht ein internationales Netzwerk der Solidarität, das jene unterstützt, die in Ländern wie der Türkei um Demokratie kämpfen. Es braucht enge Verbindungen zu den Parteien, den Handelsorganisationen, den Kommunalverwaltungen und der Zivilgesellschaft in diesen Ländern, auch mit Frauenrechts- und Jugendorganisationen.
Es braucht eine Stärkung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Durchsetzungsfähigkeit seiner Urteile in diesen Ländern. Und bessere Arbeitsbedingungen für die unabhängige Presse, um über deren Berichterstattung der Opposition echtes Gehör in der Bevölkerung zu verschaffen.
Um „gewählte Autokratien“ zu überwinden, muss die Welt zeigen, dass es bei der Demokratie um mehr geht als um Wahlen. Es braucht einen nachhaltigen, jeden Tag aufs Neue geführten Kampf um Recht und Freiheit.
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