Evangelische Kirche

Diakonie: Der letzte Kampf einer selbstlosen Schwesternschaft

Mitten in unserer Gesellschaft lebt eine Gemeinschaft von Diakonissen. Ihnen gegenüber steht ein mächtiger Mann. Ihr Vermögen hat er bereits gestohlen. Jetzt kämpfen sie noch um ihre Schwesternschaft und vor allem um das Versprechen ihres Lebens.

von Frederik Richter , Jonathan Sachse

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Mit Erika Lüllau (links) und Christa Friedel, beide über 80 Jahre alt, sprechen zum ersten Mal zwei Diakonissen der Schwesternschaft öffentlich über die Vorgänge im Gesundheitswerk Bethel. Foto: Nikita Teryoshin

Aktualisierung: Die Diakonie Deutschland hat auf diese Recherche reagiert. Mit dieser Reaktion wurde der Artikel am 27. Mai aktualisiert. 

Wer Christa Friedel und Erika Lüllau nach ihrem Leben fragt, erhält lapidare Antworten. Vielleicht liegt das daran, dass es darin immer nur um andere ging.

Zum Beispiel, als Friedel Anfang der 1960er Jahre auf dem Land in Brandenburg weite Wege auf sich nahm und Gemeindemitglieder besuchte, die aus den deutschen Ostgebieten geflohen waren.

„Das war damals genauso, dass die Leute verteilt worden sind, wie es eben heute auch ist“, sagt Friedel so leicht sächselnd wie lakonisch in Bezug auf die Bewältigung der steigenden Zahlen von Flüchtlingen aus der Ukraine.

Friedel macht nicht gern große Worte. Sie hat zeitlebens getan, was sie für ihre Pflicht hält, ohne viel Aufhebens und ohne etwas dafür zu fordern. Aber jetzt stehen sie und ihre Schwestern einem Gegner gegenüber, der viel Geld und Macht hat. Um das zu retten, was ihr geblieben ist, bricht sie jetzt mit den Prinzipien ihrer Gemeinschaft.

Zwei Schwestern aus der Diakonie sprechen zum ersten Mal öffentlich über Missstände

Christa Friedel ist eine der letzten Diakonissen. Diese sind, was in der evangelischen Kirche den Nonnen am nächsten kommt. Sie sehen sich als Frauen, die das Wort Christi in die Tat umsetzen. Sie leben ehelos in geistlichen Ordensgemeinschaften und arbeiten meist in sozialen Berufen.

Nun sitzt Friedel am Tisch der kleinen 1,5-Zimmer-Wohnung ihrer Diakonieschwester Erika Lüllau in einem Seniorenzentrum im Berliner Südwesten. Beide Frauen sind inzwischen über 80 Jahre alt. Vor ihnen liegen neben Gläsern mit Mineralwasser Fotoalben, die das Leben und vor allem die Arbeit der Diakonissen zeigen. Friedel stand fast drei Jahrzehnte lang einem Behindertenzentrum vor. Die Fotos zeigen Ausflüge der Einrichtung.

Diakonie in Berlin: Die Diakonisse Christa Friedel zeigt den CORRECTIV-Reportern ihr Fotoalbum und teilt Erinnerungen zu Bethel
Die Diakonissen Christa Friedel (links) und Erika Lüllau (mitte) erzählen ihre Lebensgeschichte und ihren Weg in die Diakonie. Foto: Nikita Teryoshin

Lüllau leitete früher selbst das Seniorenheim, in dem beide heute leben. Es ist eines von 14 Krankenhäusern und Seniorenzentren des Gesundheitswerk Bethel Berlin, eines christlich geprägten Wohlfahrtskonzerns mit einem Vermögen aus Immobilien und Wertpapieren von über 90 Millionen Euro. Keimzelle dieses Konzerns ist die ehrenamtliche Arbeit der diakonischen Schwesternschaft Bethel. Auch Frauen wie Friedel und Lüllau haben diesen Konzern und sein Vermögen aufgebaut.

Sie selbst ließen sich immer vom Gedanken der Selbstlosigkeit leiten. „Ich frage nicht danach, was bringt mir das? Was bekomme ich dafür?“, sagt Erika Lüllau. „Ich bin bei den Menschen, bei den Kranken, bei denen auf der Flucht.“

Im Gesundheitswerk Bethel: Diakonissen sorgen sich um ihre Gemeinschaft

In ihrem Zimmer steht ein schmales Bett. Es gibt nur den niedrigen Wohnzimmertisch, an dem sie sitzt, keinen richtigen Esstisch. Denn die Gemeinschaft ist neben der Arbeit Lebensinhalt der Diakonissen. Sie beten und essen gemeinsam.

Deswegen steht für die Diakonissen Erika Lüllau und Christa Friedel viel auf dem Spiel. Für sie ist es ein sehr außergewöhnlicher Schritt, hier zu sitzen und zu sprechen. Denn neben Armut und Ehelosigkeit zählt Gehorsam zu den Prinzipien ihres Lebens. Es ist ihre Oberin, die die Angelegenheiten der Schwesternschaft regelt und sie nach außen vertritt.

Was sind Diakonissen?

Diakonissen sind Frauen, die ein für viele heute kaum noch vorstellbares Leben führen. Sie leben ehelos und in Armut in einer diakonischen Glaubensgemeinschaft. Zu erkennen an ihrer Tracht und einem Häubchen arbeiten sie meist in Sozial- oder Pflegeberufen oder in der Gemeindearbeit. Dafür erhalten sie lediglich Verpflegung, Unterkunft und ein Taschengeld. Zudem gilt das Versprechen, dass sie im Ruhestand finanziell abgesichert sind.

Noch nach dem zweiten Weltkrieg gab es geschätzt 60.000 Diakonissen. Sie gehörten in vielen Gemeinden zum Stadtbild. Heute soll es noch etwa 4.000 Diakonissen in Deutschland geben. Dazu zählen auch eine neue Form der Diakonisse, die teilweise in gemischten Gemeinschaften mit Männern oder eigenständig lebt und keine Tracht trägt.

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Die Diakonisse Erika Lüllau schloss sich in den 1950er Jahren im Rheinland einer Gemeinschaft von Diakonissen an, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs aus dem polnischen Lodz vor der Sowjet-Armee geflohen war. Die Diakonissen bauten kurzerhand ein neues Altenheim im nordrhein-westfälischen Wiehl auf, das mittlerweile zum Gesundheitswerk Bethel gehört. Lüllau arbeitete in Einrichtungen in Wiehl, Köln und Aachen, bis sie Ende der 1990er Jahre nach Berlin zog und das Seniorenheim Bethel in Berlin-Lichterfelde leitete.

„Ich wollte für den Menschen und Gott da sein. Ich wollte frei von materiellen Dingen sein“, beschreibt sie heute ihre Motivation zum Eintritt. „Barmherzigkeit: Wenn das Herz den Arm bewegt. Das ist für mich heute noch der Kern der Diakonie.“

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Die Diakonisse Christa Friedel spürte Ende der 1950er Jahre den Ruf Gottes. Zunächst zögerte sie, weil mit dem Eintritt in eine diakonische Schwesternschaft eine Ausbildung zur Krankenschwester verbunden war und sie kein Blut sehen konnte. Sie bat Gott um ein weiteres Zeichen und schlug die Bibel an einer zufälligen Stelle auf. Ihr Blick fiel auf die Worte „Gehet hin und lehret alle Völker“, was sie als Ruf Gottes verstand.

Nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester in Leipzig arbeitete sie 14 Jahre im Gemeindedienst. Später leitete sie 27 Jahre lang eine Behinderteneinrichtung im thüringischen Schmalkalden. 2014 zog sie nach Berlin in das Mutterhaus der Schwesterngemeinschaft Bethel.

 

Lüllau und Friedel haben diesen großen Schritt trotzdem getan – weil sie Angst um ihre Gemeinschaft haben und deren Versorgung. 21 Mitschwestern haben sie noch, zwischen 68 und 100 Jahre alt sind sie.

Das ist das Versprechen der diakonischen Schwesternschaften: Sie arbeiten ein Leben lang nur für Kost, Logis und ein Taschengeld. Dafür sollen sie im Alter versorgt sein. Es ist ein Versprechen, das in der Lebensordnung der Gemeinschaft schriftlich festgehalten ist. Denn ihre Rentenansprüche treten sie im Gegenzug ab.

Ein Gruppenbild zeigt die Bethel Diakonissen aus Berlin in ihrer blauen Tracht der Diakonie
Eine zurückgezogene Gemeinschaft: Im Sommer 2019 feiern die Diakonissen verschiedene Jubiläen. Foto: Nikita Teryoshin

Aber jetzt scheint es, als gelten die alten Gewissheiten nicht mehr. Die Diakonissen der Schwesternschaft Bethel müssen darum kämpfen, dass ihre Wohnung ausreichend geputzt wird, dass sie selber entscheiden können, wann sie in ein Pflegeheim umziehen und dass sie noch gemeinsam essen und beten können. So, wie sie es jahrzehntelang gekannt haben. Das Gesundheitswerk Bethel weist die Vorwürfe zurück und bekennt sich zu der mit ihm verbundenen Schwesternschaft. „Die Altersversorgung unserer Diakonissen ist über das Gesundheitswerk Bethel voll abgesichert“, teilt es auf Anfrage mit.

Es ist jedenfalls nicht mehr viel, um das die Diakonissen noch kämpfen. Denn ihr Vermögen hat die Schwesternschaft Bethel bereits verloren.

Ein Manager brachte einen Konzern aus der Diakonie unter seine Kontrolle und entmachtete die Diakonissen

Im Vorstand des Gesundheitswerk Bethel sitzt Karl Behle. Mit einem Trick wandelte der Manager den Konzern in seinen Privatbesitz um, wie CORRECTIV 2017 aufdeckte.

Behle arbeitet seit den 1980er Jahren in dem Konzern und baute Stück für Stück seine Stellung aus. Bis 2011 hatte das Diakoniewerk mit seinen Einrichtungen und seinen millionenschweren Immobilien einem Trägerverein gehört und damit der Schwesternschaft. Behle schlug vor, den Verein in eine GmbH zu verwandeln. Diese sollte fortan zwei Stiftungen gehören. Das sollte angeblich auch dazu dienen, die Versorgung der Schwestern im Alter abzusichern.

Was damals fast niemand verstand: Behle trug sich heimlich selbst als Stifter der beiden Stiftungen ein. Damit hatte er den Konzern Gesundheitswerk Bethel in seinen Privatbesitz umgewandelt: ein einmaliger Diebstahl in der Geschichte des deutschen Wohlfahrtssektors. Die Schwestern verloren mit der Auflösung des Vereins auch das rechtliche Organ ihrer geistlichen Gemeinschaft. Seitdem leben sie in einem rechtlichen Vakuum.

Während also die Diakonissen immer nur an andere dachten, hat Karl Behle vor allem an sich gedacht. Nach CORRECTIV-Recherchen erhielt er zumindest damals ein Jahresgehalt von mindestens 700.000 Euro. Aus dem Immobilienvermögen der Bethel-Gemeinschaft schanzte er sich zu einem erstaunlich günstigen Preis eine millionenschwere Villa zu. Behle äußerte sich damals nicht zu den Recherchen.

Karl Behle, im Anzug gekleidet, stößt mit Sekt auf einem Empfang an. Neben ihm steht seine Bethel-Vorstandskollegin Katja Lehmann-Gianotti, die ein rotes Tuch um hat.
Karl Behle (mitte) stößt auf einer Feier mit seiner Vorstands-Kollegin Katja Lehmann-Gianotti (rechts) an. Foto: Andrea Pollak Copyright 2022 isarbote.de

Als Stifter und Konzernvorstand hat Behle im Gesundheitswerk Bethel alle Macht auf sich vereint. An seiner Seite steht noch eine Frau: Die Ärztin Katja Lehmann-Giannotti ist seit 2013 Vorstandsvorsitzende. Ihre Rolle und ihre Motivation sind nicht immer klar. Doch auch sie scheint Behle gegenüber wenig Spielraum zu haben.

Diakonie beschloss, Gesundheitswerk Bethel aus dem Verband zu werfen

Nach dem Skandal rund um die Umwandlung erklärte Behle im September 2018 den Austritt seines Konzerns aus der Diakonie Deutschland und kam damit einem bereits beschlossenen Rauswurf zuvor. Seitdem unterliegt sein Treiben auch keinerlei kirchlicher Kontrolle mehr.

Der Skandal war eine Blamage für die evangelische Kirche in Deutschland. Im Aufsichtsrat des Konzerns Gesundheitswerk Bethel – übrigens nicht zu verwechseln mit den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld – saßen Vertreter von evangelisch-freikirchlichen Gemeinden, die Behle regelmäßig zu luxuriösen Städtereisen eingeladen hatte.

Blick auf die mehrstöckige Villa von Karl Behle mit einer großen Terrasse.
Blick auf die Villa in Berlin-Lichterfelde, die Karl Behle mit seiner Frau Jahr 2010 vom Diakoniewerk Bethel gekauft hat. Foto: David Wünschel / CORRECTIV

Aber auch die Diakonie hatte nicht aufgepasst. Deren Einrichtungen sind mit etwa 600.000 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber in Deutschland. Die Vorgängerinnen von Lüllau und Friedel begründeten die moderne Krankenpflege. Zur Linderung der Not der Armen bauten sie im 19. Jahrhundert soziale Einrichtungen und Krankenhäuser auf. Sie waren die ersten professionellen Pflegekräfte in Deutschland.

Was ist die Diakonie?

Die Diakonie ist der Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche. Mehr als 600.000 Menschen arbeiten in verschiedenen sozialen Einrichtungen der Altenpflege, Krankenpflege oder Obdachlosenhilfe. Die Einrichtungen der Diakonie sind somit einer der größten Arbeitgeber in Deutschland. Rund 700.000 Menschen engagieren sich nach Angaben der Diakonie ehrenamtlich.

Auch das Diakoniewerk Bethel war bis 2018 Teil der Diakonie Deutschland. Der Pastor Eduard Scheve und seine Frau Berta gründeten im Jahr 1887 in Berlin das Diakonissenhaus Bethel, um den Armen und Kranken zu helfen. Daraus entwickelte sich ein Konzern, in dem heute rund 1.700 Mitarbeitende in 14 Krankenhaus- und Pflegeeinrichtungen in ganz Deutschland tätig sind.

Nach Enthüllungen durch CORRECTIV trat das Diakoniewerk Bethel aus dem Diakonischen Landesverband Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (DWBO) aus – wenige Tage, bevor der Rauswurf beschlossen werden sollte. Der Konzern durfte den Namen Diakonie fortan nicht länger tragen. Aus dem Diakoniewerk wurde das Gesundheitswerk Bethel.

Auch die Mitgliedschaft in einem weiteren kirchlichen Verband, dem baptistischen Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) beendete Bethel 2018.

Mit Christa Friedel und Erika Lüllau sprechen zum ersten Mal Diakonissen der Schwesternschaft Bethel öffentlich. Diakonische Schwesternschaften sind sehr zurückgezogene Gemeinschaften. Entsprechend hoch ist das Risiko von Machtmissbrauch. Die Geschichte der Schwesternschaft Bethel wirft vor allem die Frage auf, wie die Gesellschaft alternde religiöse Gemeinschaften und ihren Reichtum schützen kann vor Männern wie Karl Behle.

Schwarz-Weiß Foto: Die junge Erika Lüllau lächelt in ihrer Tracht mit drei weiteren Diakonissen. An diesem Tag beginnt für sie ein neues Leben in der Diakonie.
Am 1. April 1963 wurde Erika Lüllau (2. v. l.) als Diakonisse im Garten des Mutterhauses der nordrhein-westfälischen Diakoniegemeinschaft Bethlehem-Tabea eingesegnet. Foto: privat

Von früher weit mehr als 30.000 Diakonissen soll es heute noch rund 4.000 in Deutschland geben. Der Fall Bethel dürfte ein Extrembeispiel sein, der auch mit mangelnder Aufsicht durch Verbände der evangelischen Kirche zu tun hat. Bei den Katholiken gibt es das Solidarwerk der katholischen Orden in Deutschland. Darin haben sich knapp 300 Gemeinschaften zusammengeschlossen für den Fall, dass eine von ihnen die Altersversorgung der Mönche oder Nonnen nicht mehr stemmen kann.

Diakonie-Expertin: Altersversorgung von Diakonissen ist Herausforderung

Doch Expertinnen sagen, dass älter werdende religiöse Gemeinschaften grundsätzlich anfällig sind für Machtmissbrauch und Angriffe auf ihr Vermögen und ihre Immobilien.

„Wir haben natürlich die Situation, dass Menschen, die an diesen Bauten interessiert sind, die Gemeinschaften möglicherweise auch über den Tisch ziehen“, sagt Cornelia Coenen-Marx. Die Theologin war Oberkirchenrätin der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) und leitete für einige Jahre die Kaiserswerther Diakonissen-Schwesternschaft, eine der größten in Deutschland. „Weil diese Haltung, diese Selbstvergessenheit, die lädt ja geradezu dazu ein. Diese Schwestern sind fast alle nicht mehr in der Lage, diese Unternehmen, die sie aufgebaut haben, zu kontrollieren.“

Besonders die Altersversorgung der Schwestern sei in fast allen Diakoniewerken eine Herausforderung, sagt die Theologin und Expertin. „Erst wenn es Konflikte gibt, ist die Frage: Was ist mit mir?“

CORRECTIV hat Briefwechsel zwischen den Schwestern und dem Vorstand des Gesundheitswerk Bethel sowie Gedächtnisprotokolle ausgewertet und mit weiteren Beteiligten gesprochen. Daraus geht hervor, wie der Vorstand des Gesundheitskonzerns seit Jahren das Leben der Schwesternschaft immer weiter erschwert. Das Motiv ist nicht immer klar. Doch immer wieder scheint es um das zu gehen, um das es in der selbstlosen Diakonie eigentlich gar nicht gehen sollte: Geld.

Schon 2014 soll Karl Behle die Schwestern laut CORRECTIV vorliegenden Gedächtnisprotokollen aus jener Zeit vor eine brutale Wahl gestellt haben. Sie sollen wählen zwischen einer Auflösung ihrer Gemeinschaft – sie hätten sich dann für den Rest ihres Lebens selber versorgen müssen –, einer Halbierung ihrer Wohnfläche oder einem Ende der gemeinsamen Mahlzeiten. Die Schwestern entscheiden sich für die dritte Möglichkeit. Fortan essen sie nicht mehr in ihren eigenen Gemeinschaftsräumen, sondern in einer benachbarten Krankenhauskantine.

Der Konzern weist diese Darstellung zurück. Die Schwestern hätten auch weiterhin die Möglichkeit, das Mittagessen gemeinsam einzunehmen.

Putzen, Umzug, Tod: Diakonissen fühlen sich nach Austritt aus der Diakonie drangsaliert

2014 ist auch das Jahr, in dem der Konzern das Mutterhaus der Schwesternschaft in Berlin für 7,5 Millionen Euro verkauft. Es ist unklar, wohin die Millionen aus dem Verkauf geflossen sind. Das Gesundheitswerk Bethel teilt dazu mit, dass der Verkaufserlös in das konzerneigene Seniorenzentrum investiert wurde, in dem die Diakonissen betreut und gepflegt werden.

Doch die Schwesternschaft hat nicht das Gefühl, dass die Gelder ihnen zugute gekommen sind. Denn an ihnen und ihrem Leben soll offenbar immer weiter gespart werden.

Das wöchentliche Putzen der Wohnungen wird von einer halben Stunde auf eine Viertelstunde reduziert. Die betagten Diakonissen erstellen Listen, wer sich gegenseitig beim Putzen helfen kann.

Es gibt sogar Diskussionen darum, ob die leiblichen Verwandten der Diakonissen noch nach ihrem Tod für Kosten aufkommen sollen. Als 2021 eine Schwester stirbt, sollen Angehörige das Ausräumen ihres Zimmers übernehmen.

Der Konzern weist diese Darstellung jeweils zurück. Für das Ausräumen der Zimmer verstorbener Diakonissen könne bei Bedarf der Service des Gesundheitswerks in Anspruch genommen werden. Und: „Die Reinigung erfolgt individuell je nach persönlicher Situation der Diakonissen.“

Um einen Wohnplatz abzusichern, sollen Diakonissen ein Pflegetagebuch führen

Im Jahr 2020 überlegen die Diakonissen wieder einmal, sich an die Öffentlichkeit zu wenden aus Angst vor Karl Behle. Denn plötzlich sollen sie ein Pflegetagebuch führen. Sie haben Angst, gegen ihren Willen in ein Pflegeheim gesteckt zu werden. Sie füllen die Pflegetagebücher aus. Sie sehen bei sich keinen Pflegebedarf.

In einem Brief vom 19. Mai 2020 scheinen Behle und Lehmann-Giannotti zu drängen. Wenn sich die Schwestern jetzt nicht für einen Pflegeplatz entschieden, müssten sie später warten oder in ein anderes Pflegeheim gehen. „Die Plätze in unserem Seniorenzentrum sind sehr begehrt, wir haben lange Wartelisten“, heißt es in dem Brief, der gemäß der Tradition der Schwesternbriefe mit einer biblischen Tageslosung schließt: „So kehrt nun um von euren bösen Wegen. Warum wollt ihr sterben? (Hesekiel 33,11)“

Nach allem, was sie bis hierhin mit Karl Behle erlebt haben, empfinden die Schwestern den Brief als Drohung.

Der Konzern teilt dazu auf Anfrage mit, dass über längere Zeit Diakonissen bevorzugt in dem Pflegeheim aufgenommen wurden. „Inzwischen können Diakonissen, wie alle anderen Personen auf der Warteliste, umziehen, sobald ein Zimmer im Seniorenzentrum frei wird.“

Letztlich muss keine Diakonisse gegen ihren Willen in ein Pflegeheim umziehen. Ihre eigene Einschätzung wird akzeptiert.

Ein Jahr später eskaliert die Situation erneut. Jetzt sollen die Schwestern Behle und Lehmann-Giannotti als Vormund in Generalvollmachten einsetzen. Bei den Vollmachten geht es auch um die Frage, wer am Sterbebett einer Diakonisse über das Ende von lebenserhaltenden Behandlungen entscheidet. Karl Behle, der bereits ihr Lebenswerk übernommen, ihre Gemeinschaft angegriffen und ihre Versorgungsleistungen gekürzt hat, soll also auch diese Entscheidung noch treffen können.

Ein Notar legt Diakonissen unterschriftsreife Generalvollmachten auf den Tisch

Es ist ein Schritt, gegen den sich die Schwesternschaft wehrt. Bei einem Notartermin im Juli 2021 stellen sie laut Schilderungen von Teilnehmerinnen so viele Fragen, dass der beauftragte Notar kalte Füße bekommt und die unterschriftsreifen Vollmachten unverrichteter Dinge wieder mitnimmt. Das Gesundheitswerk Bethel teilt dazu mit, dass die Diakonissen über ihre Vollmachten selbst entscheiden.

Mit den Vollmachten wäre die Ohnmacht der Diakonissen gegenüber Behle und Lehmann-Giannotti vollkommen gewesen. Denn selbst die Ärzte, die sie im Krankheitsfall im Krankenhaus des Gesundheitskonzern Bethel in Berlin-Lichterfelde behandeln, haben letztlich Karl Behle als ihren Vorgesetzten.

Und bis heute hegen manche den Verdacht, dass Behle 2014 neben zwei weiteren Diakonissen eine an Krebs erkrankte Schwester aus der Gemeinschaft ausschloss, um die teuren Versorgungskosten zu sparen. Behle wies das damals von sich. Die Diakonisse habe nicht mehr ausreichend an der Gemeinschaft teilgenommen, lautete sein Argument. Die Diakonisse starb jedenfalls kurz nach dem Streit. Als Teil eines gerichtlichen Vergleichs wurde sie posthum wieder in die Gemeinschaft aufgenommen.

„Aus meiner Sicht haben die Bethel-Diakonissen Machtmissbrauch erlebt“, sagt die Theologin Astrid Giebel. Sie gehört zu einem Freundeskreis der Diakonissen. Dieser hilft im Hintergrund den Schwestern, ihre Gemeinschaft auch nach dem Austritt aus der Diakonie zu erhalten und sich gegen Karl Behle zu wehren. Der Freundeskreis hat eine Gruppe engagierter Menschen gewonnen, die die Vollmachten für die Schwestern übernommen haben, die Behle und Lehmann-Giannotti als Vormund ablehnten.

„Es bedarf aus meiner Sicht einer finanziellen und rechtlichen Neuregelung der Versorgungssituation sowie einer unabhängigen Ombudsstelle“, sagt Giebel. „An die könnten sie sich dann mit ihren berechtigten Anliegen wenden, ohne Sorge haben zu müssen, Konsequenzen angedroht zu bekommen, wenn sie sich nicht wohlverhalten.“

Das gelte zum Beispiel für die Entscheidung, wann eine Schwester in ein Pflegeheim umziehe.

Bethel gibt an, mit Maßnahmen die Gemeinschaft der Diakonissen zu stärken

In der abgeschotteten Welt der Schwesternschaft ist nicht immer nachvollziehbar, welche Vorwürfe berechtigt sind. Sicherlich stellt nicht jede Maßnahme von Behle und Lehmann-Giannotti ein Angriff auf ihre Gemeinschaft dar. CORRECTIV hat Briefe eingesehen, mit denen Behle und Lehmann-Giannotti die betagten Diakonissen regelmäßig über den Verlauf der Covid-19-Pandemie und die Maßnahmen der Bundesregierung informieren. In den Briefen wird die Sorge um die Gesundheit der Schwestern deutlich.

Das Gesundheitswerk Bethel sag, dass es keine Maßnahmen zur Aushöhlung der Gemeinschaft der Diakonissen gebe. „Hingegen gibt es viele Maßnahmen zur Stärkung der Gemeinschaft.“

Fest steht, dass es keinerlei Vertrauen mehr gibt. Die Kommunikation zwischen Behle und Lehmann-Giannotti auf der einen und den Diakonissen auf der anderen Seite findet überwiegend per Brief statt, den sogenannten Schwesternbriefen. Diese haben in der Diakonie Tradition als geistliche Briefe, mit denen die Oberin sich an die Schwestern wandte. Heute informieren Behle und Lehmann-Giannotti in den Briefen über praktische Dinge. Noch immer enden sie mit der biblischen Tageslosung.

Auf dem langen Weg des Niedergangs der Bethel-Schwesternschaft bildet der November 2020 noch einmal einen besonderen Tiefpunkt. In der geistlichen Gemeinschaft der Diakonissen hat die Oberin eine ganz besondere Stellung. Sie vertritt die Schwesternschaft nach außen und schützt sie. Die Diakonissen wählen sie aus ihren eigenen Reihen.

Seit mehr als zehn Jahren ist es Angelika Voigt, die in einer langen Reihe von starken Frauen steht. 2020 zieht sich Voigt, auch wegen einer Erkrankung, von ihren Aufgaben zurück. Die Schwestern brauchen also eine neue Oberin, die sie vertritt, die ihnen Mut macht, die sie verteidigt gegen Karl Behle.

Bethel-Vorstandsvorsitzende gibt sich als neue Oberin für die Diakonissen

Im November 2020 geschieht das Unglaubliche: Katja Lehmann-Giannotti, die Managerin an Behles Seite, ist die neue Oberin der Bethel-Diakonissen. Das ist wohl ein weiterer einmaliger Vorgang in der Geschichte der Ordensgemeinschaften in Deutschland. Die Schwesternschaft hat Lehmann-Giannotti nicht gewählt. Sie wurde nie als Diakonisse eingesegnet. Ihre Selbsternennung könnte also ein Verstoß gegen die Ordnung der Schwesternschaft sein. Auf die Fragen nach der Ernennung von Lehmann-Giannotti zur Oberin teilt das Gesundheitswerk Bethel ohne weitere Erläuterung lediglich mit, dies sei nicht zutreffend.

Dieser Schritt zementiert jedenfalls die Machtposition von Behle und Lehmann-Giannotti gegenüber den Diakonissen. Erst verloren sie im auch von ihnen aufgebauten Konzern jeglichen Einfluss, jetzt müssen sie die beiden auch an der Spitze ihrer geistlichen Ordensgemeinschaft ertragen. Lehmann-Giannotti als Oberin, Behle als weltlicher Vorsteher.

Hört man sich in der freikirchlichen Gemeinschaft in Deutschland um, deren Spitzenvertreter dem Treiben von Karl Behle lange Zeit tatenlos zugesehen haben, hat dieser Schritt dort noch einmal für Aufsehen gesorgt.

„Das halte ich für unglaublich“, sagt auch die Theologin Coenen-Marx. Das zeige, wie schwach die Schwesternschaft geworden ist. „Das ist ein totaler Bruch.“

Man könnte auch sagen, dass die Schwesternschaft Bethel gar keine Oberin mehr hat. Denn Lehmann-Giannotti schweigt. Die Diakonissen haben immer wieder Briefe geschrieben mit ihren Anliegen und um Gespräche gebeten – sie erhalten nur noch Briefe als Antworten, samt biblischer Tageslosung. „Siehe, die Völker sind geachtet wie ein Tropfen am Eimer und wie ein Sandkorn auf der Waage. (Jesaja 40,15)”, schließt ein Brief am 2. Juli 2021.

Der Konzern sagt, der Vorwurf mangelnder Kommunikation sei unzutreffend. „Gespräche sind jederzeit möglich. Alle Schwestern haben 24 Stunden am Tag und an sieben Tagen der Woche die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Keine Bitte auf ein Gespräch wird unbeantwortet gelassen.“

Der Vorstand verteilt eine neue Lebensordnung an die Schwesternschaft

Und Gesprächsbedarf gibt es. So wollen Behle und Lehmann-Giannotti der Schwesternschaft Bethel derzeit eine neue Lebensordnung verpassen. Den Entwurf dazu verteilten sie einfach an die Schwesternschaft.

Es geht auch darin weiter um Geld und damit die Frage, was eine Gemeinschaft kosten darf. Die Schwestern im Seniorenzentrum sollen neben ihrem Taschengeld zukünftig ein Wirtschaftsgeld in Höhe von 450 Euro bekommen. Jede Diakonisse soll damit selber einkaufen, kochen oder das knappe Geld für einen Essensdienst ausgeben. Das Gesundheitswerk Bethel weist darauf hin, dass es viele Aufwendungen für die Diakonissen übernehme, „wie zum Beispiel Miete, Nebenkosten, Telefonkosten, Wohnungsreinigung, Hilfsmittel, oder der Eigenanteil bei stationärer Pflege“.

Die Schwestern sehen in dem Wirtschaftsgeld jedoch das endgültige Ende ihrer Gemeinschaft. „Es ist ein Bruch mit dem Versprechen, das uns beim Eintritt in die Diakoniegemeinschaft gemacht wurde“, schrieben elf Schwestern im Februar 2022 an Behle und Lehmann-Giannotti. Wenn jede Diakonisse für sich einkauft und kocht oder Essen bestellt, ist ihre Gemeinschaft endgültig aufgelöst, denken sie.

Die Brosche der Bethel-Diakonissen hängt an einer Kette: Ein Kreuz ist mit dem Weinstock verbunden.
Als Zeichen ihrer Verbundenheit untereinander tragen Diakonissen eine einheitliche Tracht. In Bethel zählt dazu auch eine Brosche mit dem Kreuz und dem Weinstock. Foto: Nikita Teryoshin

Immer wieder überlegte die Schwesternschaft nach den CORRECTIV-Recherchen 2017, sich öffentlich zu äußern. Jetzt sind mit Erika Lüllau und Christa Friedel zwei von ihnen den Schritt gegangen, mit Außenstehenden zu sprechen – gutgeheißen von der Gemeinschaft.

Ein Leben für die Diakonie: Im Alter von über 80 Jahren geben Diakonissen nicht auf

Dabei haben diese beiden ihre Angst überwunden, dass sie, wie bei drei Schwestern bereits geschehen, ausgeschlossen werden aus ihrer Gemeinschaft. Damit würden sie ihre Wohnung und ihre Versorgung verlieren. Sie müssten mit 80 Jahren noch einmal von vorne beginnen.

Doch Christa Friedel und Erika Lüllau wollen nicht aufgeben, sondern um ihre Gemeinschaft kämpfen. „Ich möchte endlich das Recht haben zu sagen, was uns geschehen ist, dass die Verpflichtung für die Schwestern, für meine Mitschwestern nicht mehr geleistet ist und damit gefährdet ist“, sagt Lüllau.

Doch was auch immer Karl Behle tut, die beiden leben weiter nach dem Motto ihrer Gemeinschaft: „Was die eine nicht mehr kann, das tut die andere für sie.“

Also kümmert sich Erika Lüllau jetzt um Wasserkisten aus dem nahegelegenen Getränkemarkt für ihre Mitschwestern und sorgt dafür, dass die Rechnungen bezahlt werden.

„Wir leben noch“, sagt sie. „Wir wollen leben.“

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Auf diesen Kanälen können Sie unsere Reporter erreichen:

Frederik Richter (frederik.richter@correctiv.org, über den Threema-Messenger oder unter 0176 7562 8865)
Jonathan Sachse (jonathan.sachse@correctiv.org oder im Threema-Messenger oder unter 0151 2859 6609)

Über unseren Anonymen Briefkasten können Sie uns zudem auf sichere und vertrauliche Weise Hinweise und Dokumente zukommen lassen.

Text und Recherche: Frederik Richter, Jonathan Sachse
Redaktion: Gabriela Keller, Marcus Bensmann

 

Aktualisierung vom 25. Mai 2022:

In dem Kapitel mit der Zwischenüberschrift „Bethel-Vorstandsvorsitzende gibt sich als neue Oberin für die Diakonissen“ haben wir verdeutlicht, dass Spitzenvertreter der evangelisch-freikirchlichen Gemeinschaft dem Treiben Karl Behles „lange Zeit“ tatenlos zusahen. Bislang fehlte dieser Zusatz. Wir haben zudem das Jahr, in dem Schwestern aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, auf das Jahr 2014 korrigiert.

 

Aktualisierung vom 27. Mai 2022:

Nach der Veröffentlichung dieses Artikels hat die Diakonie Deutschland reagiert. Der Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen kündigt an, den Diakonissen helfen zu wollen. Die vollständige Äußerung von Maria Loheide, Diakonie-Vorständin Sozialpolitik, im Wortlaut:

„Mit großer Betroffenheit haben wir von der schwierigen Lage der Diakonissen in der Gemeinschaft des Gesundheitsnetzwerkes Bethel erfahren. Der von Ihnen geschilderte Umgang mit den Schwestern widerspricht allen Grundsätzen in der Diakonie. Das Gesundheitsnetzwerk Bethel ist nicht Mitglied der Diakonie. Seine Vorgängerinstitution ist 2018 aus dem Landesverband nach einer konflikthaften Auseinandersetzung über das Geschäftsgebaren der Verantwortlichen ausgetreten. Formal hat die Diakonie Deutschland deshalb keine Handhabe und keine Zuständigkeit. Ungeachtet dessen sehen wir die dringende Notwendigkeit, den betroffenen Frauen zu helfen. Dazu prüfen wir aktuell verschiedene Alternativen im Rahmen unserer Möglichkeiten. Die Diakonissen haben sich ein Leben lang selbstlos für andere eingesetzt. Ihnen gebührt ein würdiger Lebensabend.“