Vorkaufsrecht für Stadt-Mitarbeitende: Wie die Uefa Tausende EM-Tickets am offiziellen Verkauf vorbei lenkte
Ende 2023 erreichte mehrere EM-Städte ein fragwürdiges Angebot der Uefa: ein Vorkaufsrecht für Tickets. Mehrere Städte lehnten ab – unter anderem, weil Antikorruptionsbeauftragte davon abrieten. Umso erstaunlicher, dass andere Städte das Angebot dankend annahmen.
Der Andrang für Tickets zur EM 2024 in Deutschland war ein halbes Jahr vor dem Turnierstart enorm. „30 Millionen Ticketbewerbungen aus 206 Ländern“, schrieb der europäische Fußballverband Uefa im Dezember. Bereits zuvor hatten sich in einer ersten Verkaufsphase 20 Millionen Menschen beworben. Die meisten gingen leer aus.
Kurz bevor Millionen an Absagen versendet wurden, erreichte mehrere Münchner Polizeibeamte, die in Vorbereitungen zur EM 2024 involviert waren, eine E-Mail von der Landeshauptstadt München. Darin enthalten war ein exklusives Angebot, von dem Millionen andere geträumt hätten: eine Ticketgarantie für zwei Personen für ein EM-Spiel in München, zum regulären Kaufpreis.
Nach Veröffentlichung einer Recherche von CORRECTIV und FragDenStaat über explodierende Kosten für die zehn EM-Spielorte erreichte die Redaktion dieser Hinweis zum Angebot für die Münchner Polizei. Wir folgten der Spur.
In München lehnte die Behördenleitung für die betroffenen eigenen Mitarbeiter „dankend“ ab, schreibt uns ein Sprecher des Polizeipräsidiums München. Wir fragten in den weiteren Spielorten nach. Eine käufliche Ticketgarantie an die Polizei gab es nur in München. Die Polizei Dortmund wird dabei deutlich: Die Annahme wäre eine Vorteilsannahme und somit eine Straftat gewesen.
Uefa verteilte mehr als 10.000 exklusive Ticketangebote an EM-Städte
Weitere Recherchen von CORRECTIV und FragDenStaat zeigen, dass das exklusive Vorkaufsrecht von der Uefa deutlich größer war als der erste Hinweis erscheinen ließ. Offenbar erhielten alle zehn EM-Städte exklusive Vorkaufsrechte für tausende EM-Tickets und machten diese in mehreren Fällen nicht transparent. Überall standen die Städte vor der Entscheidung, wie sie mit den lukrativen Ticketoptionen umgehen sollten, ohne Korruptionsvorwürfen ausgesetzt zu sein oder auch gerecht im Sinne der Öffentlichkeit zu handeln. Die Auskünfte der Städte zeigen, dass diese sehr unterschiedliche Lösungen fanden.
Der Vorgang ist politisch relevant – für die Glaubwürdigkeit der Kommunalpolitik. Denn die Verantwortlichen in den Städten waren es, die sich entschieden, viel Geld für die EM in Deutschland auszugeben – durch Public Viewing-Bereiche, Infrastruktur, Sicherheitsvorkehrungen. In den Monaten vor dem Turnierstart mussten viele Entscheidungen getroffen werden, in denen Interessen der Stadt, der Uefa und der Öffentlichkeit abgewogen werden mussten. Wenn die für die Umsetzung zuständigen Mitarbeitenden der Städte ein besonderes Bonbon angeboten bekommen, das sie dem Fußball-Fest (noch) zugeneigter machen, hat das zumindest ein Geschmäckle.
Auf Anfrage von CORRECTIV und FragDenStaat schreibt die Uefa zum Angebot: Damit sollten keine Entscheidungen beeinflusst werden in den Städten, im Sinne des Fußballverbandes zu handeln. Die Uefa kündigte das Kartenangebot bereits im Januar 2023 in einem sogenannten „Sideletter“ an (zum Original-Dokument am Beispiel Hamburg), also eine Ergänzung zu den Verträgen, die alle Austragungsorte mit dem Veranstalter unterschrieben. Darin nannte die Uefa aber noch keine Details. Das konkrete Ticketkontigent erreichte die Städte erst im November 2023.
Drei Städte gaben keine Tickets für die EM 2024 weiter
Hamburg, Frankfurt am Main und Leipzig nahmen das Angebot nicht an. Eine Sprecherin der Stadt Leipzig schreibt dazu: „Der Vorschlag zur Ablehnung kam von beteiligten Ämtern der Stadtverwaltung sowie dem Antikorruptionsbeauftragten.“
Stuttgart gab als einzige der EM-Spielorte keine Auskunft.
Die anderen EM-Städte waren weniger vorsichtig – dort profitieren tausende Personen vom Vorkaufsrecht. Sie verteilten die garantierten Tickets weiter an die Politik, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, andere städtische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder auch Ehrenamtliche. Wer das Angebot erhielt, wurde in den Städten unterschiedlich geregelt. Mehrere verlosten die Tickets unter ihren Bediensteten, andere verteilten nach harten Kriterien. Das liegt daran, dass es keine allgemeingültigen Anti-Korruptions-Kriterien für Städten und Gemeinden gibt.
Die Übersicht:
München: Die bayerische Landeshauptstadt bekam 4.200 Tickets angeboten. Die Stadt reichte das Angebot für 32 Tickets an einzelne Mitarbeitende der Polizei, bevor die Annahme dort von der Behördenleitung intern verboten wurde. Außerdem bekamen 127 „Projektbeteiligte“ Zugang zu jeweils zwei Tickets und 1.200 Beschäftigte der Landeshauptstadt München bekamen über eine Verlosung ein Vorkaufsrecht zugesprochen. Am Ende wurden so 2.029 Tickets in Anspruch genommen. Die Stadt argumentiert: Leistung und Gegenleistung stünden in einem angemessenen Verhältnis, da der Erwerb zum regulären Kaufpreis erfolgte.
Düsseldorf: Hier ging ein Angebot für 3.500 Tickets ein. Die Landeshauptstadt entschied sich für eine Verlosung an ihre rund 12.000 Mitarbeitenden. Am Ende griffen 881 Personen mit jeweils zwei Tickets zu. Im Vorfeld habe es eine juristische Prüfung gegeben. Eine mögliche Vorteilsannahme sei durch das reine Vorkaufsrecht nicht berührt, schreibt die Stadtverwaltung. Warum dies nicht der Fall war, führte die Stadt nicht weiter aus.
Köln: Knapp 40 Kilometer entfernt am Rhein ging laut Auskunft der Stadt ein deutlich geringeres Angebot der Uefa ein, obwohl auch hier fünf EM-Spiele stattfanden. Für die Gruppenspiele habe es nur 100 Vorkaufsrechte gegeben, dazu acht Kaufkarten für das Achtelfinale. Am Ende wurde das Angebot nur minimal genutzt: Lediglich vier Beamte oder Beschäftigte im öffentlichen Dienst kauften der Auskunft der Stadt zufolge Karten für das Achtelfinale, das Spanien gegen Georgien gewann.
Gelsenkirchen: Die Stadt im Ruhrgebiet erhielt neben 170 Freitickets zusätzlich 2.800 Tickets zum Vorkaufsrecht. Im Protokoll einer Stadtratssitzung lässt sich im Detail nachlesen, was im Dezember 2023 beschlossen wurde. Auffällig ist, dass hier die Politik im direkten Vergleich besonders profitierte: So gingen jeweils zwei Tickets an knapp 100 Stadtverordnete und Bezirksbürgermeisterinnen. An weitere 1.302 Mitarbeitende aus der Verwaltung wurden zudem jeweils zwei weitere Tickets verlost.
Dortmund: Die Uefa hat für die sechs Spiele in der Stadt insgesamt 4.200 Tickets zum Vorverkauf angeboten. Die Stadt weiß nicht, wie viele davon genutzt wurden. Die Ticketoption wurde über ein Losverfahren an 11.000 „städtische Beschäftigten und politischen Vertreter*innen“ weitergegeben. Zudem hätten das Jugendamt für einen Schüleraustausch und lokale Förderer profitiert. Das gesamte Verfahren sei per Ratsbeschluss im November 2023 (Drucksache Nr. 32434-23) öffentlich gewesen und vorab durch das Rechtsamt und Compliance-Verantwortliche geprüft worden. Es sei nicht darum gegangen, Amtsträger zu beeinflussen, sondern einen Vertrag „zur Durchführung der EURO 2024“ zu erfüllen.
Berlin: Die Hauptstadt bekam eine Ticketgarantie für 4.200 Plätze. Auffällig ist, dass hier öffentliche Bedienstete kein Angebot von der Stadt erhielten. Stattdessen griffen der Berliner Fußballverband mit 250 Tickets und der Landessportbund mit 300 Tickets für Ehrenamtliche, Schiedsrichter und andere im Sport Engagierte zu. Berlin selbst kaufte 100 Karten für „Protokollarische Anforderungen aus dem Bereich von Botschaften oder Partnerstädten“.
Im Vorfeld sei in Berlin ein Rechtsgutachten erstellt worden und die Generalstaatsanwaltschaft Berlin äußerte sich. „Danach ist die Annahme zulässig, wenn der Besuch der Veranstaltung dienstlichen Interessen dient oder repräsentative Aufgaben wahrgenommen werden“, schreibt ein Sprecher der Stadt. Mit dieser Begründung wurde offenbar auch eine Freikarte angenommen, die von der Uefa direkt an die Polizei Berlin ging und von der Polizei zu „repräsentativen Zwecken“ genutzt worden sei.
Korruptionsexpertin plädiert für sensiblen Umgang beim Verteilen von begehrten EM-Tickets
CORRECTIV hat verschiedene Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen um eine Einschätzung gebeten.
„Wenn das Kartenkontingent in die Verlosung geht, halte ich das für wenig problematisch“, sagt Politikwissenschaftlerin Anna Schwickerath von der Uni Köln. Sie ist Mitbegründerin des Interdisciplinary Corruption Research Network, einem Netzwerk, das Korruptionsthemen aus verschiedenen Forschungsperspektiven betrachtet. Als problematischer beurteilt Schwickerath, wenn Tickets gezielt an Personen gehen, die „Einfluss im Rahmen des Organisationsprozesses“ nehmen. Zudem plädiert sie in Zeiten des erstarkten Populismus für eine besondere Sensibilität. Die Bevölkerung müsse gegenüber Beamten und öffentlichen Angestellten gleich behandelt werden.
„Klare praxisbezogene Vorgaben für Kommunen, wie rechtssicher vorzugehen ist, bestehen nicht“, sagt Jurist Till Zimmermann von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der mehrere Jahre geschäftsführender Direktor des Trierer Instituts für Geldwäsche- und Korruptions-Strafrecht war. Zimmermann sieht allein einen Vorteil darin, dass Tickets bei gleichzeitig großer Nachfrage angeboten wurden. Das Argument – wie von der Stadt München gebracht – es ist der reguläre Kaufpreis bezahlt worden, sei korruptionsstrafrechtlich irrelevant.
Von einer Bestechung würde Zimmermann ohne belastbare Anhaltspunkte nicht sprechen. „Dafür wäre erforderlich, dass ein Amtsträger als Gegenleistung für den Vorteil eine rechtswidrige Diensthandlung vornimmt.“ Dann bleibt dennoch die Frage, ob eine illegale Vorteilsannahme passiert sei. Dafür müsste geprüft werden, ob die Verträge mit dem je nach Bundesland unterschiedlichen Landesrecht rechtssicher seien. „Es ist zumindest nicht fernliegend, dass die Uefa den Hintergedanken verfolgt hat, sich die Entscheidungsträger der Stadt gewogen zu machen, etwa in Bezug auf Entscheidungen, Demonstrationen in Stadionnähe zuzulassen oder verstärkten ÖPNV“, sagt Zimmermann.
In der Vergangenheit sorgten Ticketvergaben – auch bei Sportveranstaltungen – immer wieder für Diskussionen. Mehrere Fälle landeten vor Gericht. Ein Manager musste sich verantworten, weil sein Unternehmen Gutscheine für Eintrittskarten bei der Fußball-WM 2006 an sieben hochrangige Politiker in Baden-Württemberg verschenkt hatte. Der Bundesgerichtshof sprach ihn vom Vorwurf der Bestechung aus Mangel an Beweisen frei. Das oberste Gericht beschäftigte sich vor kurzem mit einer weiteren Ticketaffäre, die ein Rolling Stones Konzert in Hamburg betraf und Freikarten an politische Beamte. Ob Ticketvergaben bei der EM 2024 auch noch Ermittlungsbehörden beschäftigen, wird sich zeigen.
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Korrektur 16.7.2024: In der ursprünglichen Version hieß es im Absatz zu München „Die Stadt reichte 32 Tickets an die Polizei“. Das war missverständlich formuliert. Es wurde lediglich ein Angebot für Tickets weitergereicht und dieses ging direkt an einzelne Mitarbeitende der Polizei. Der Satz wurde korrigiert.
Aktualisierung 8.7.2024: Der Artikel enthält nun die Antworten der Stadt Dortmund, die sich nach Redaktionsschluss gemeldet hat.
Aktualisierung 4.7.2024: Nach der Veröffentlichung meldete sich das Sportamt von Frankfurt am Main bei CORRECTIV und FragDenStaat mit der Auskunft: „Die Stadt Frankfurt am Main hätte in ihrer Rolle als Host City sogenannte Kaufkarten erwerben können. Von diesem Recht hat die Stadt keinen Gebrauch gemacht.“ Wir haben den Artikel mit dieser Information aktualisiert.
Sie haben Hinweise zur EM in Deutschland? Dann schreiben Sie an jonathan.sachse@correctiv.org oder für sensible Informationen eine verschlüsselte Nachricht über unseren anonymen Briefkasten. Bei dieser Recherche arbeitet CORRECTIV.Lokal mit Lokal- und Regionalmedien in allen Bundesländern zusammen, die in der Lage sind, auch Hinweise auf einzelne lokale Missstände zu verfolgen.