Barrierefreiheit

Denkmalschutz und Barrierefreiheit: Wie Tangermünde den Balanceakt schafft

Oft heißt es bei Hindernissen in älteren Gebäuden: Ein Umbau geht nicht wegen Denkmalschutz. Tangermünde zeigt, dass es konstruktive Lösungen gibt, um Barrierefreiheit und Denkmalschutz zu vereinbaren.

von Chiara Swenson

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Tangermünde ist ein kleines Stadt-Juwel mit vielen Altbauten in Sachsen-Anhalt. Hindernisse gibt es genug, aber die Stadt sucht mit Betroffenen nach Lösungen Foto © Ricarda Wenge

Wer das Café Kerkow in Tangermünde zum ersten Mal betreten möchte, wundert sich: Es gibt zwei Eingangstüren, doch nur eine lässt sich öffnen. Die andere Tür existiert für den Denkmalschutz: Es soll ersichtlich sein, dass hier ehemals zwei einzelne Häuser standen. Auch eine kleine Stufe am Eingang musste bleiben, Rollstuhlfahrer können sie nur mit Hilfe überwinden. Doch für Monika Zilkenat, Leiterin der Selbsthilfegruppe Barrierefreies Tangermünde, ist das Café trotzdem ein Gewinn. „Hier in Tangermünde muss man Kompromisse mit dem Denkmalschutz machen“, sagt sie. Sonst komme man nicht voran. 

Diese Recherche ist Teil des crossmedialen Projektes „Stopp! Wo kommst du nicht voran?“ von CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT zur Barrierefreiheit in Sachsen-Anhalt. Zur CrowdNewsroom-Umfrage und den mobilen Redaktionen in Dessau, Halberstadt und Tangermünde gibt es hier mehr Informationen.

Denkmalschutz und Barrierefreiheit stehen heutzutage in einem Spannungsfeld zueinander. Denn: Zu den Bauzeiten historischer Gebäude war ihre Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung nebensächlich. Heute haben wir unterschiedliche Gesetze, die zum einen den historischen Baubestand schützen und zum anderen die Teilhabe von Menschen mit Behinderung ermöglichen sollen. Eine Lösung für beides zu finden, ist ein Balanceakt, der im Kleinen und beim Einsatz aller Beteiligten gelingen kann.

Mit den Betroffenen zusammen Barrieren abschaffen

Monika Zilkenat ist körperlich nicht eingeschränkt. Doch sie kennt die alltäglichen Barrieren von Menschen mit Behinderungen gut, denn Zilkenat war vorher im Integrationsfachdienst als Jobvermittlerin tätig. Dort lernte Sie auch Hartmut Behr kennen, der Fachberater für berufliche Rehabilitation ist und durch eine neuromuskuläre Erkrankung nur eingeschränkt laufen kann. Gemeinsam gründeten sie 2018 die Selbsthilfegruppe „Barrierefreies Tangermünde“. „Am Anfang waren wir noch sehr unsicher. Wir sind nicht davon ausgegangen, dass wir so viel erreichen können“, sagt Hartmut Behr. Doch heute ist die Liste lang. Bei einer Tasse Kaffee im Kerkow zählen die beiden die bisherigen Erfolge auf: Die Salzkirche und die Friedhofskapelle sind nun über Rampen befahrbar, es gibt einen barrierefreien Zugang zum Burgmuseum und Menschen mit Mobilitätseinschränkungen können das Neustädter Tor über eine Videotafel besichtigen. Alles historische Denkmäler, die nun für alle zugänglich sind.

Fragt man Monika Zilkenat und Hartmut Behr, wie diese Lösungen entstehen, wird schnell deutlich: In Tangermünde sind Zivilgesellschaft und Verwaltung in regelmäßigem Austausch. „Wir versuchen alle ins Boot zu holen, den Bürgermeister, das Bauamt und unsere Gruppe“, erzählt Monika Zilkenat. Dieses proaktive Vorgehen ist auch notwendig, denn wie in vielen anderen Gemeinden auch, sind die Stadtratssitzungen in Tangermünde beispielsweise nicht barrierefrei zugänglich. Menschen mit Rollstuhl haben dort keine Möglichkeit, Unterlagen einzusehen, sich über bauliche Maßnahmen zu informieren und ihre Perspektive zu vertreten.

In Tangermünde rückt man deshalb umso näher zusammen: Bei den regelmäßigen Treffen der Selbsthilfegruppe laden Monika Zilkenat und Hartmut Behr den Bauamtsleiter samt seiner Planungsunterlagen ein. Auch der Tangermünder Bürgermeister Steffen Schilm nimmt am “Stammtisch” teil, wie er das Treffen noch aus früheren Zeiten nennt, als die Selbsthilfegruppe deutlich kleiner war. Er selbst war vor seiner Zeit als Bürgermeister in der Stadtverwaltung von Tangermünde tätig, dort war ihm unter anderem die bauliche Leitung unterstellt. Er wisse noch von damals, dass es beim Thema Barrierefreiheit immer Zielkonflikte gebe, erzählt er. 

Denkmalschutz muss kein Hindernis sein

Grundsätzlich ist der Bereich Bauen unterteilt in Neubauprojekte und Instandsetzung oder Sanierung. Für barrierefreie Elemente in Neubauten gibt es Förderungen, weshalb diese für kleinere Gemeinden wie Tangermünde leichter zu finanzieren und umzusetzen sind. Doch wenn bestehende Gebäude oder historische Denkmäler barrierefrei gestaltet werden sollen, muss das aus der Haushaltskasse finanziert werden. Dieser Topf ist schmal, das weiß auch die Selbsthilfegruppe. Und dann wäre da auch noch die Denkmalschutzbehörde, deren Auftrag es ist, so viel wie möglich an Substanz und historischem Charme zu erhalten. Und insbesondere im pittoresken Tangermünde, das Touristen von überall her lockt, sind Maßnahmen, die in das Stadtbild eingreifen, auch im Stadtrat nicht gern gesehen. 

Diesen Zielkonflikten gilt es mit Verständnis entgegenzutreten und gemeinsame Lösungen zu finden. Steffen Schilm ist selbst Angehöriger einer Person mit Rollstuhl und seit Jahren mit der Selbsthilfegruppe im Austausch. Barrierefreiheit im öffentlichen Raum bedeutet für ihn aber nicht nur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Er weiß auch, dass von Barrierefreiheit am Ende alle profitieren: „Die Kollegen vom Denkmalschutz werden schließlich auch nicht jünger“, scherzt er. Die zuständige Denkmalschutzbehörde ist in der Verwaltung des Landkreis Stendal angesiedelt. Hier müsse man Wünsche äußern, vorsichtig nachfragen und regelmäßig über neue Planungsstände informieren, erklärt Steffen Schilm. Man habe zwar einen wertschätzenden Austausch, aber es sei eben nicht immer einfach. 

Stadt wird zugänglicher – für alle

Bei einem Eis am Nachmittag trifft der Bürgermeister auf Hartmut Behr und Siegfried König vor der Redaktion von CORRECTIV und MDR Sachsen-Anhalt auf dem Marktplatz. König ist seit Kindheit von progressiver Muskeldystrophie betroffen, bekannt auch als Muskelschwund. Seit dreißig Jahren etwa ist er deshalb auf den Rollstuhl angewiesen. Er ist Tangermünder, er ist hier zur Schule gegangen, hat in der Schokoladenfabrik gearbeitet. König kennt die Stadt und ihre Geschichte sehr gut. Wenn man ihm zuhört, wird schnell klar, dass er ihre historische Vergangenheit zu schätzen weiß. Auf die Frage, ob er Denkmalschutz oder Barrierefreiheit wichtiger findet, überlegt er tatsächlich kurz und sagt dann: „Barrierefreiheit. Denn jetzt kann auch ich die Salzkirche von innen sehen“.