Barrierefreiheit

Diese Karte macht Barrieren im Alltag sichtbar

In Sachsen-Anhalt sind zahlreiche Orte nicht barrierefrei. Mit mobilen Redaktionen vor Ort und der Hilfe von Bürgerinnen und Bürgern haben CORRECTIV mit MDR SACHSEN-ANHALT Hindernisse auf einer interaktiven Karte zusammengetragen und vor Ort debattiert, wie Städte zugänglicher werden können.

von Duška Roth , Chiara Swenson

Sichtbare und unsichtbare Barrieren
Ein Aufdruck auf einer Glastür zu einem Raum zeigt an: Der Raum hinter der Tür bietet einen barrierefreien Zugang.

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Bürgersteige, die zu hoch sind; Ladenlokale, die man weder mit Kinderwagen noch Rollator oder Rollstuhl betreten kann; oder eine fehlende Anbindung von Bus und Bahn: Barrieren betreffen viele. Bürgerinnen und Bürger haben uns Hindernisse in eine Datenbank, den CrowdNewsroom, eingetragen oder in unseren mobilen Lokalredaktionen in Sachsen-Anhalt berichtet.

„Stopp! Wo kommst Du nicht voran?“ war der Titel eines interaktiven Projektes von CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT. Auf der Plattform CrowdNewsroom haben Bürgerinnen und Bürger Hindernisse eingetragen und Lösungen vorgeschlagen. In mobilen Redaktionen in Dessau, Halberstadt und Tangermünde wurde debattiert, wie Orte zugänglicher werden können.

Rund ein Drittel aller Einträge in Sachsen-Anhalt bezieht sich auf Orte, die nur schwer begehbar oder befahrbar sind. Darunter fallen in den meisten Fällen Treppen beziehungsweise Stufen, die vielen Menschen den Zugang zu Geschäften, Arztpraxen und Restaurants, aber auch Ämtern und Schulen erschweren. So fehlt ein barrierefreier Zugang zur Kinderbibliothek in Dessau, oder aber zu einer Grundschule in Tangermünde. „Es ist traurig, dass ich nicht einmal mein Kind zur Schule bringen kann“, beklagt sich eine Mutter im Rollstuhl im Gespräch.

Viele Weitere ärgern sich über Straßen und Gehwege, die nur beschwerlich zu überqueren sind, wie Kopfsteinpflaster, zu hohe Bordsteine, zugeparkte Überwege, fehlende Ampeln oder schmale, unebene Fußgängerwege. Das betrifft auch sanierte Orte, wie beispielsweise eine zentrale Straße in Dessau: „Für Rollstuhlfahrer/-innen ist es schwer, allein mit dem Rollstuhl über diese gepflasterte Rinne zu fahren. Auch wenn der Rollstuhl geschoben wird, ist das nicht einfach. Die kleinen vorderen Räder des Rollstuhls verkanten sich“, schreibt eine betroffene Person im CrowdNewsroom über die Zerbster Straße im Zentrum der Stadt Dessau. 2000 wurde die Straße erneuert. Dabei wurde eine Ablaufrinne in die Straße eingelassen, die sich als Stolperfalle erweist.

An mehreren Orten wurde auch die Zugänglichkeit zu Friedhöfen kritisiert, deren Wege uneben oder schottrig seien. „Da fällt einem das Gebiss raus!“ bemängelt beispielsweise ein Mann, der mit seiner Mutter, die im Rollstuhl sitzt, regelmäßig den Friedhof in Tangermünde besucht. Für ältere Menschen und Rollator- oder Rollstuhlfahrer ein großes Problem. 

Tangermünde, mit seiner charmanten Altstadt, birgt rund um bauliche Barrierefreiheit besonders viele Herausforderungen: Durch das historische Kopfsteinpflaster und viele denkmalgeschützte Gebäude sind zentrale Orte für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer nur schwer oder gar nicht selbstständig passierbar. Treppenstufen vor fast allen Ladeneingängen in der Innenstadt stellen ein großes Hindernis dar. Restaurants, Geschäfte und Arztpraxen sind somit oft nicht barrierefrei. 

Es sind kleinteilige Hindernisse, die aber große Folgen für den Alltag haben. Denn solche Hürden, so klein sie vielleicht erscheinen, führen dazu, dass viele Menschen nicht so am öffentlichen Leben teilnehmen können wie Andere.

Aus Gesprächen und Einträgen ging hervor, dass in allen drei Städten, in denen wir mit mobilen Redaktionen präsent waren, in den letzten Jahren einige Baudenkmäler für gehbeeinträchtigte Menschen zugänglich und erfahrbar gemacht wurden. In Halberstadt wurde beispielsweise der im Boden versenkbare Lift am Domplatz gelobt, der einen guten Kompromiss zwischen Denkmalschutz und Barrierefreiheit darstellt. „Das ist eine großartige Lösung“, schreibt ein Anwohner. Solche innovativen Lösungen sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel.

Busse oder Bahnen sind für viele keine Erleichterung im Alltag

Über alle drei Städte hinweg haben Bürgerinnen und Bürger Kritik am öffentlichen Nahverkehr geübt: Straßenbahnen seien nicht barrierefrei, hielten an Stellen, die für Rollatoren und Rollstühle schwer zugänglich seien oder wären zu schlecht getaktet. „Der Einstieg ist mit, aber auch ohne Rollator nur schwer möglich. Die Abstände sind zu groß und zu hoch“, berichtet ein Betroffener.

Eine andere Bürgerin schreibt, die Straßenbahn halte direkt auf der Fahrbahn, deshalb sei ein Ausstieg mit Rollator nicht möglich. „Ich muss zum Bahnhof fahren, dort aussteigen und dann zurücklaufen“, heißt es in seinem Eintrag in Halberstadt. 

Auch die Zugänglichkeit von Bahnhöfen wird mehrfach kritisiert: Obwohl schön und größtenteils barrierefrei, gäbe es am Halberstädter Bahnhof häufig defekte Fahrstühle, was Rollstuhlfahrern große Schwierigkeiten bereite. Ein Bürger, der im Rollstuhl sitzt, schreibt: „Mich haben schon einige Male nette Menschen die Treppe hochgeschleppt. Angenehm ist das nicht.“ Dem Bahnhof Meinsdorf fehlt ein Aufzug und am Bahnhof Dessau gibt es eine gefährliche Lücke zwischen S-Bahn und Gleis. Das Fazit: Man muss ganz genau planen, wo man ein- und aussteigt. Oder man nutzt den öffentlichen Verkehr gar nicht. Mehrere Meldungen über Sachsen-Anhalt verteilt beklagten zudem das Fehlen einer Bus- oder Bahnanbindung auf dem Land.

Fehlende Toiletten und zu wenig Sitzbänke in der Stadt

Es geht aber auch um Barrieren, die nicht auf den ersten Blick auffallen: Knapp zehn Prozent aller Einträge beziehen sich auf fehlende öffentliche barrierefreie Toiletten. Aus vielen geht hervor, dass sich Bürgerinnen und Bürger bereits dafür eingesetzt hätten, dass diese Hürde beseitigt werde – offenbar bisher erfolglos. Die jeweiligen Behörden haben trotz Hinweisen noch nicht reagiert.

Im Dessauer Zentrum gäbe es bisher keine barrierefreie öffentliche Toilette, schreiben einige in den CrowdNewsroom. Eine barrierefreie Toilette im Dessauer Rathaus-Center ist laut Anja Clement vom Behindertenbeirat Dessau für einige Rollstühle zu eng. 

Auch in Halberstadt fehlt seit Jahren eine zentral gelegene öffentliche Toilette, die für alle zugänglich ist. Dieses Problem wurde dem Stadtrat bereits 2022 von Kerstin Römer, Vorsitzende des Rolliclubs Halberstadt, vorgetragen. Doch ohne Erfolg. 

In einem Eintrag von Klaus-Dieter Schatter vom Sozialverband Halberstadt heißt es, man habe als Kreisvorstand schriftlich eine öffentliche barrierefreie Toilette bei der Sanierung einer Straße im Zentrum gefordert. Doch der Oberbürgermeister habe geantwortet, diese würde die Sichtachse stören. „Da wird ein neuer Wohlfühlort geschaffen, mit Spielgeräten, Sitzecken, grünen Oasen, aber ohne Möglichkeit, seine Notdurft zu verrichten. Unglaublich“, schreibt Schatter.

Die Stadt Halberstadt verweist darauf, dass die Planung unter Beteiligung der Öffentlichkeit stattgefunden habe und Toiletten keine Hauptforderung gewesen seien. Es seien außerdem in näherer Umgebung öffentliche Toiletten verfügbar. Ein kleines Einlenken gibt es aber dann doch: Aktuell wird geprüft, im künftigen Stadtcafé eine öffentliche Toilette einzurichten, weiter sei in den Nebenanlagen des Breiten Weges die Einrichtung denkbar. 

Ein weiterer Kritikpunkt, der im CrowdNewsroom häufiger geäußert wurde, waren fehlende Bänke in Parks und auf öffentlichen Plätzen. „Der Tierpark ist wirklich sehenswert, aber da ist keine einzige Bank zum Ausruhen!“, beklagt etwa eine Bürgerin aus Dessau, die mit einem Rollator unterwegs ist. Auf dem Marktplatz hätten vor ein paar Jahren noch mehr Bänke gestanden, erzählen zwei Frauen aus Halberstadt. Um sie herum sind alle Bänke belegt. Warum könne man diese Bänke nicht wieder dort hinstellen und somit mehr Sitzmöglichkeiten schaffen, fragen die beiden.

Baubürgermeisterin bietet Dialog an

In Dessau konnten Bürgerinnen und Bürger im Rahmen eines Teilhabe-Forums von CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT vor Ort über Hindernisse in ihrem Alltag mit Verantwortlichen aus der Landes- und Kommunalpolitik und einer Vertreterin des Bauhaus-Museums sprechen. In der Diskussion kamen Themen, die im CrowdNewsroom gemeldet wurden, zur Sprache. Die Dessauer Baubürgermeisterin Jaqueline Lohde suchte den direkten Austausch mit Betroffenen: „Ich möchte von ihren Erfahrungen zehren und schreibe mit“, sagt Lohde ins Publikum.

Zukünftige Bauanträge könne sie beeinflussen. Man solle sich dafür direkt an sie wenden. CORRECTIV fragte Jaqueline Lohde, welche Schlüsse sie aus dem Austausch und weiteren Einträgen gezogen habe. Bisher ließ Lohde die Anfrage noch unbeantwortet.

Die Behindertenbeauftragte Dessaus, Daniela Koppe, schreibt, sie habe aus den zahlreichen Einträgen im CrowdNewsroom auch Neues mitnehmen können: „Auch wenn mir einige Probleme bereits bekannt waren, bin ich auf andere tatsächlich durch Ihre Karte aufmerksam geworden“, sagt sie. Die Diskussionsveranstaltungen unseres Projekts „Stopp! Wo kommst du nicht voran?” seien ein zusätzliches Highlight gewesen, da hier ganz konkrete Probleme angesprochen und diskutiert werden konnten, sagt Koppe.

Halberstadt lässt Hinweise prüfen

Die Stadt Halberstadt lässt die 41 Einträge über Hindernisse im öffentlichen Raum durch die verantwortlichen Fachbereiche prüfen. Die Pressestelle der Stadt teilt auf Anfrage mit: „Manche Anmerkungen sind uns durchaus bekannt und werden bereits bearbeitet.“ Kerstin Römer vom Rolli-Club Halberstadt zieht Bilanz: „Ich kann sagen, dass das Thema in der Politik wieder mehr Beachtung gefunden hat durch Ihr Projekt“, und führt weiter aus: „Es ist wie mit vielen anderen Themen auch, man muss die Menschen darauf ansprechen, sie informieren und somit dafür sensibilisieren. Irgendwo werden sich Entscheidungsträger daran erinnern und vielleicht bei Ihrer Entscheidung umdenken und dieses wichtige Thema berücksichtigen.“ 

In Tangermünde gab es seitens des Stadtrats bisher keine Rückmeldung zu den eingetragenen Hindernissen. Oberbürgermeister Steffen Schilm kam jedoch während des Projektes in die mobile Lokalredaktion und suchte dort den Austausch mit betroffenen Bürgerinnen und Bürgern. Wie sich im Gespräch herausstellte, wird zumindest eines der eingetragenen Hindernisse aktuell von der Stadt behoben: An einer stark befahrenen Straße, die viele ältere und gehbeeinträchtige Menschen überqueren müssen, um eine barrierefreie Arztpraxis zu besuchen, wird nun eine Ampel gebaut.

Mehr Artikel zum Gesamtprojekt und Kontaktmöglichkeiten finden Sie hier.

Redaktion: Justus von Daniels