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Ein leeres Versprechen

Als erstes Bundesland hat Bremen verbindlich zugesagt, dass jeder Jugendliche eine Lehrstelle bekommt. Funktioniert es? Nein – Tausende Jugendliche stehen ohne Ausbildungsplatz da. Doch sie tauchen in der offiziellen Statistik gar nicht auf, weil die Bundesagentur für Arbeit sie mit allerlei Tricks herausrechnet

von Grit Thümmel

Jugendliche vor Arbeitsagentur© Ivo Mayr

Ein feierlicher Moment im Kaminzimmer des Bremer Rathauses. Es ist Anfang April 2015, Arbeitssenator Martin Günthner (SPD) strahlt in die Kameras. Gerade hat der rot-grüne Senat eine „Ausbildungsgarantie“ für jeden Bremer unter 25 Jahren beschlossen. Auch Arbeitgebervertreter sind da, schütteln Hände und beteuern, sie wollen sich engagieren – schließlich warnen sie schon lange vor Fachkräftemangel.

Wie gut, dass die Politik jetzt handelt: Schon für 2015 soll es 513 neue Ausbildungsplätze geben, dazu soll zusätzliche Beratung die Vermittlungsquote verbessern. Zwei Millionen Euro investiert der Bremer Senat allein 2015 in diese Maßnahme.

Sie ist dringend nötig: Bremen ist Spitzenreiter bei den Ungelernten. Rund 25 Prozent der über 30-Jährigen haben keine Berufsausbildung gemacht; bundesweit sind es 16 Prozent. Es gibt in Bremen Stadtteile, in denen ein Viertel der Jugendlichen arbeitslos ist; dort ist es die Ausnahme, wenn jemand eine abgeschlossene Berufsausbildung hat. Gerade für diese Jugendlichen hat der Senator sein Versprechen gegeben.

Bremen

Anteil der Jugendlichen ohne echte Lehrstelle 2014

Spitzenreiter: In Gröpelingen gehen 57 Prozent der Berufsschüler in berufsvorbereitende Maßnahmen. Oder holen in diesem sogenannten Übergangssystem ihren Schulabschluss nach. Nur die Minderheit lernt in diesem migrantischen Stadtteil tatsächlich noch einen Beruf. Ganz anders im wohlhabenden Schwachhausen. Dort sind drei Viertel in einer echten Ausbildung.

Jugendarbeitslosigkeit 2014

Das Problem setzt sich fort: In keinem anderen Stadtteil sind so viele Jugendliche arbeitslos. Fast ein Viertel der Gröpelinger zwischen 18 und 25 Jahren sucht eine Stelle. In Schwachhausen oder Horn-Lehe sind es nur um die 5 Prozent.

Fünf Monate später steht Marcel – seinen Nachnamen möchte er nicht veröffentlicht sehen – in der technischen Berufsschule Bremen Mitte an einer Werkbank und feilt an einem faustdicken Würfel aus Aluminium. Sein Ausbildungsplatz als Industriemechaniker ist brandneu: Marcel ist „Schülerazubi“ und hat einen der Garantie-Plätze des Arbeitssenators ergattert. Er bekommt im ersten Jahr zwar weder Gehalt noch Schüler-Bafög, freut sich aber trotzdem über den Platz. Er hatte sich mit seinem Mittleren Schulabschluss – vergleichbar dem Realschulabschluss – bei vielen Betrieben beworben und war auch zu etlichen Einstellungstests eingeladen worden, fand diese sogar meist noch einfach – „aber dann kamen einfach nur Absagen“, sagt er, „und das war’s“. Jetzt übernimmt das Land seine Ausbildungskosten.

Schätze mit dem Schieberegler, wie viele zusätzliche Plätze Bremen zum Ausbildungsstart geschafft hat:

Quelle: Bremer Senat, eigene Recherche

Marcel hatte Glück, doch insgesamt ist in Bremen die Bilanz des ersten Vermittlungsjahres mau: Von den versprochenen 513 zusätzlichen Ausbildungsplätzen hat Bremen bislang noch nicht mal die Hälfte besetzt.

Arbeitssenator Günthner rudert bereits zurück. „Man kann das Problem nicht auf einen Schlag erledigen.“ Er will Betriebe überzeugen, sich mehr zu beteiligen. „Wir haben ja hier kein staatliches Ausbildungskombinat, wo Leute ausgebildet werden, egal ob es den Bedarf gibt“. Das klang im Frühjahr, vor der Bürgerschaftswahl, noch ganz anders.

Nach dem neuen Modell erhalten Betriebe Subventionen, wenn sie zusätzliche Ausbildungsplätze anbieten; doch die Zuschüsse werden von den Firmen kaum abgerufen. Nur 22 von 240 angestrebten Verträgen haben die Betriebe abgeschlossen. Das reißt die Bilanz des Arbeitssenators in den Keller.

Ausbildungsplätze Soll versus Ist

Auch bei Marcel gibt es Probleme: Es gibt noch keinen Partnerbetrieb, der ihn ab dem zweiten Lehrjahr übernimmt. Dabei war Dirk Jacobs, er leitet die Berufsschule, selbst bei den Unternehmen Klinken putzen. „Harte Arbeit“, sagt er. An einem Infoabend ist von 30 eingeladenen Betrieben kein einziger gekommen. Andere Berufsschulleiter hatten sogar 500 Betriebe angeschrieben, aber nur 15 Antworten bekommen.

Industrie und Betriebe sind skeptisch. „Unternehmen reagieren verhalten auf finanzielle Anreize“, heißt es bei der Bremer Handelskammer. Betriebe müssten einen Ausbilder stellen, der sich um den Jugendlichen kümmert und sicherstellen, dass alle Inhalte der Ausbildung im Betrieb auch gelernt werden können. Die angebotenen Subventionen deckten die tatsächlichen Mehrkosten für einen zusätzlichen Ausbildungsplatz nicht annähernd ab. Viel mehr würde den Betrieben eine bessere Vermittlung der Jugendlichen helfen. Damit freie Plätze und unversorgte Jugendliche besser zusammen finden.

Das soll in Bremen die Jugendberufsagentur regeln. Berufsberater und Vermittler von Arbeitsagentur und Jobcenter arbeiten dort seit diesem Jahr unter einem Dach, damit Jugendliche nur noch einen Ansprechpartner haben und nicht mehr von Behörde zu Behörde laufen müssen. Auf einem der langen Flure warten Rene und Serkan – auch sie möchten ihre Nachnamen nicht nennen. Sie sind zur „Nachvermittlungsaktion“ eingeladen.

„Das ist hier wie Sommerschlussverkauf“, scherzt einer der Vermittler sarkastisch. „Da kann man nicht mehr wählerisch sein“. Die Jungs wissen das. Rene ist 20 Jahre alt, sein Schulabschluss liegt drei Jahre zurück. „Danach war ich in der TBZ, dann FAA, jetzt IBS“. Abkürzungen für berufsvorbereitende Maßnahmen. Gebracht haben sie nichts.   

Rene gibt zu, dass er sich zwischendurch auch mal hat hängen lassen und „private Dinge“ in den Griff kriegen musste. Jetzt will er es noch mal angehen. Er träumt davon, Zweiradmechaniker oder Anlagenmechaniker zu werden, aber Maler oder Lackierer wäre auch ok. Angeblich hat er sich schon bei sämtlichen Fahrradwerkstätten in Bremen beworben, ohne Erfolg. „Es ist schon frustrierend, man bekommt nur Absagen und viele bilden gar nicht aus“, sagt er. Serkan möchte gern Einzelhandelskaufmann werden. Auch er erzählt von zig Bewerbungen, zig Absagen. Frustrierend.

Sie sind nur zwei von vielen: Die aktuelle Vermittlungsbilanz in Bremen ist schlechter als im Vorjahr – und schlechter als im bundesdeutschen Durchschnitt.

Nur 29 Prozent der gemeldeten Bewerber konnten zum Ausbildungsstart vermittelt werden. Deutschlandweit waren es 46 Prozent. Und dabei gibt es in Bremen sogar vergleichsweise viele Ausbildungsbetriebe.

Land BIP pro Kopf in Euro 2013 Anteil der Betriebe, die ausbilden 2013 Bewerber, die 2013
in duale Ausbildung vermittelt wurden
Baden-Württemberg 70.784 € 22,0 % 45,7 %
Bayern 71.209 € 21,3 % 59,7 %
Berlin 63.331 € 12,5 % 35,0 %
Brandenburg 55.776 € 14,0 % 46,9 %
Bremen 70.630 € 23,4 % 29,5 %
Hamburg 84.309 € 17,3 % 39,8 %
Hessen 74.160 € 19,9 % 40,7 %
Mecklenburg-Vorpommern 51.127 € 14,4 % 49,0 %
Niedersachsen 63.459 € 24,5 % 39,8 %
Nordrhein-Westfalen 67.063 € 23,8 % 39,8 %
Rheinland-Pfalz 63.653 € 23,8 % 46,4 %
Saarland 62.759 € 26,4 % 39,5 %
Sachsen 52.108 € 13,8 % 48,8 %
Sachsen-Anhalt 53.879 € 14,8 % 52,9 %
Schleswig-Holstein 60.949 € 22,5 % 43,0 %
Thüringen 50.249 € 14,6 % 51,2 %
Deutschland insgesamt 66.448 € 20,7 % 44,8 %

Bremer Senat, eigene Recherche

Kann die „Nachvermittlungsaktion“ Rene und Serkan helfen, mit der die Jugendberufsagentur nun nachbessern will? Nein. Es gibt, mal wieder, nur Beratungsgespräche. Die Ausbildungsgarantie, die zusätzlich bereit gestellten Plätze, sind kein Thema.

Serkan bekommt nur einen kleinen, grünen, gestempelten Zettel mit auf den Weg – die „Berechtigung zu einer Einstiegsqualifizierung“. Wenn er einen Praktikumsbetrieb findet, darf er dort für ein Jahr arbeiten und hoffen, dass er übernommen wird. Wenn Rene nichts mehr findet, geht er auch in die nächste Maßnahme. Es wäre seine Vierte, diesmal beim Bildungswerk der Bremer  Unternehmensverbände. Bezahlt wird sie von der Arbeitsagentur.

In der Statistik gelten Rene und Serkan trotzdem als „versorgt“, wenn in knapp zwei Monaten die Bilanz zum Ausbildungsmarkt rauskommt – weil sie in einer Maßnahme sind. Insofern war die Nachvermittlungsaktion ein Erfolg – nur eben nicht für die Jugendlichen, sondern für die Jugendberufsagentur und das Bildungswerk der Unternehmensverbände.

Und für den Bremer Arbeitssenator. Denn es ist schwierig, ihm nachzuweisen, wie viele Jugendliche er im Stich gelassen hat. Oder anders gesagt: zu wie vielen wirklich Unversorgten man sein Versprechen in Relation setzen müsste.

Der Grund: Die Arbeitsagentur hübscht nicht nur bei der Endabrechnung auf, sie hilft auch schon ganz am Anfang nach. Seit 2005 werden in Deutschland nur Jugendliche als Bewerber gezählt, die der Berater für „geeignet“ hält. Der Rest wird zum Berufswahltest oder der Psychologischen Beratung geschickt und ist kein Bewerber. Insider schätzen, dass so in Bremen 5 bis 10 Prozent der eigentlich Suchenden aussortiert werden.

Rechnen wir nach: Wie viele Jugendliche unter 25 müsste der Senator mit seiner Garantie eigentlich versorgen?

Addiert man Bremer Schulabgänger ohne Studiums-Ambitionen, die Wartenden im Übergangssystem und Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren, die weder in Ausbildung noch in einer Maßnahme sind – also zuhause rumhängen – kommt man für 2014 auf etwa 12.600 Jugendliche. Wenn die alle auf einmal zu einem Heimspiel von Werder Bremen kämen – das Weserstadion wäre zu knapp einem Drittel gefüllt. Ausbildungsplätze gab es aber nicht einmal für die Hälfte von ihnen. Denn ein Großteil der Plätze wird regelmäßig mit Jugendlichen aus Niedersachsen besetzt.

Ausbildungsangebot in Bremen

Eine Lücke von etwa 7.800 Ausbildungsplätzen, denen die Bremer Politik mit 213 zusätzlichen Plätzen und einer schlechten Vermittlung begegnet ist.

Geht man weiter davon aus, dass der Senator für die staatlich geförderten Garantie-Plätze im Schnitt 6.033 Euro pro Teilnehmer und Jahr veranschlagt, würde das bedeuten: Bremen hätte  in diesem Jahr etwa 47 Millionen Euro ausgeben müssen, um alle Jugendlichen in Ausbildung zu kriegen – statt aktuell knapp 2 Millionen Euro.

Fazit: Die Bremer Ausbildungsgarantie ist ein leeres Versprechen. Nicht einmal all jene, die offiziell einen Ausbildungsplatz suchen, werden vermittelt – statistische Schönrechnerei sorgt dafür, dass ein guter Teil der Jugendlichen erst gar nicht in den Bilanzen auftaucht. Diese Tricksereien verdecken, wie schlimm es wirklich steht um die Jugendarbeitslosigkeit in Bremen. Ziemlich schlimm.

Textchef: Ariel Hauptmeier
Grafiken: Stefan Wehrmeyer

Die Recherche für diesen Artikel wurde durch ein Fellowship des Recherchezentrums CORRECTIV und der Rudolf-Augstein-Stiftung ermöglicht. Die Autorin ist Redakteurin bei Radio Bremen, die Ergebnisse werden zeitgleich auch in den Hörfunkprogrammen und im Regionalfernsehen von Radio Bremen und auf www.radiobremen.de veröffentlicht.