Auf alten Gleisen in die Zukunft
Der von Staus und Verspätungen geprägte Verkehr in NRW soll wieder flüssiger laufen, Autofahrer sollen auf die Bahn umsteigen. Das Projekt dazu: Der Rhein-Ruhr-Express, kurz RRX. Die neue Schnellbahn wird 2,6 Milliarden Euro teuer werden. Doch erfüllt sie die Erwartungen wirklich? Der Plan ist in Teilen eine Mogelpackung.
Die Politik in Nordrhein-Westfalen feiert ihren RRX-Plan als „Jahrhundertprojekt“ und „Quantensprung“. Die neue Regionalschnellbahn Rhein-Ruhr-Express zwischen Dortmund und Köln soll im größten Ballungsraum der Republik, dem deutschen Stauland Nr.1, die Verkehrsprobleme der Zukunft lösen. Das wird 2,6 Milliarden Euro kosten, zum großen Teil bezahlt vom Bund.
82 neue und 160 Stundenkilometer schnelle Doppelstock-Triebwagen mit mehr Sitzplätzen, als sie die heutigen Regionalzüge aufweisen, sollen das in einem 15-Minuten-Takt möglich machen. Das bedeutet: Vier statt heute drei Regionalverbindungen pro Stunde soll es auf der Kernstrecke dann geben. Um das Jahr 2030 herum soll es soweit sein.
Doch es gibt Zweifel, dass der RRX die Erwartungen erfüllen kann. Was Politiker und Bahn-Manager gerne verschweigen: Auch künftig werden Fern- und Regionalzüge zwischen Duisburg und Dortmund über die vier schon heute vorhandenen und gemeinsam genutzten Gleise fahren. Nur zwischen Köln und Duisburg gibt es einen sechsgleisigen Ausbau — und damit eigene Schienen für den neuen Zug. So bleibt der Flaschenhals Ruhrgebiet bestehen. „Mit dem Mischverkehr werden wir leben müssen“, sagt der Chef des federführenden Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR), Martin Husmann.
Zudem: Die bestellten modernen Siemens-Züge werden das Revier auch nach Ende der Bauzeit auf den alten Gleisen kreuzen müssen. Größere Investitionen sind auf dem Ost-Abschnitt des RRX zwischen Duisburg und Dortmund nicht vorgesehen. Nur wenige Weichen und Kurven werden erneuert. „Punktuell“ werde modernisiert, sagt die Bahn.
Dass sich Fern-, Regional- und S-Bahn-Verkehr die knappen vier Gleise weiterhin teilen müssen, hält DB Netz, das Staatsunternehmen, das für den Streckenausbau zuständig ist, für nicht so schlimm. Es setzt auf eine höhere Beschleunigung der neuen Züge und behauptet: „Die Maßnahmen reichen aus, um auf einen Neubau von zusätzlichen Gleisen für den RRX verzichten zu können“.
„Auf Kante genäht“
Dabei fehlt es nicht an warnenden Stimmen. Beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr weist man vorsorglich auf die „sehr enge Infrastruktur“ hin. 2017 hat auch der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) festgestellt: Zwischen Duisburg und Dortmund gebe es eine „zu geringe Trassenkapazität“. Ein engerer Fahrplan sei so nicht möglich. Experten, die ihre Namen nicht nennen wollten, sagten gegenüber CORRECTIV: Der RRX-Plan sei „auf Kante genäht“.
Die Landesregierung hält sich mit kritischen Äußerungen zurück. Sie ist froh, dass aus der Bundeskasse nach langen Jahren der Dürre überhaupt wieder Investitionsmittel in den Westen fließen. Denn die Konkurrenz schläft nicht. Bayern will in München die zweite Stammstrecke für die S-Bahn der Landeshauptstadt bauen. In einem neuen Tunnel. Kosten: Zwei Milliarden Euro mindestens. Auch hier kommt das Geld vom Bund.
Juristisch haben die RRX-Planer inzwischen ersten Ärger auch im geplanten sechsgleisigen rheinischen Abschnitt zwischen Düsseldorf und Duisburg. Das könnte den Baustart verzögern. Die Initiative Angermund, ein Zusammenschluss von Bahnlärm-Gegnern, klagt wegen fehlender planungsrechtlicher Voraussetzungen. Kurios: Ihr Einwand richtet sich nicht gegen die aktuellen Bauabsichten, sondern gegen die fehlenden Planfeststellungsverfahren aus der Bauzeit der bestehenden Strecke. Das war um 1845. Ihr Argument: Auch damals galten schon strenge preußische Planungsbestimmungen. Die seien umgangen worden. Das sei nicht verjährt — und die bestehende Strecke damit ein Schwarzbau. Tatsächlich sind die 170 Jahre alten Unterlagen nicht aufzufinden.
Wie entwickelt sich die Bahn in NRW?
Immer mehr Menschen, darunter viele Pendler, befahren die 6000 Kilometer langen Schienenwege in NRW. Insgesamt 500 Millionen mal im Jahr nutzen sie das Angebot. Seit 2010 sind die Fahrgastzahlen um bis zu 17 Prozent gestiegen und zeugen von dem anhaltenden Trend. Zwischen Düsseldorf und Duisburg sind täglich im Schnitt 70 000 Menschen auf Regionalzugstrecken unterwegs, zwischen Duisburg und Essen 61 000, von Essen nach Dortmund fast 50 000 Fahrgäste.
Laut der Studie „Fahrplan 2025“ der Fachleute des Verkehrsverbandes Westfalen und der Universität Münster bilden sich in Bochum, Gelsenkirchen, Minden und Oberhausen neue Knotenproblematiken heraus. Insgesamt zeige die Engpassanalyse für ganz NRW eine steigende Zahl von „Bottlenecks“ auf, d.h. auf verengten Strecken fahren deutlich mehr Züge als diese bewältigen können — einem engen Flaschenhals gleich eben. In den nächsten zehn Jahren soll es zudem zu einem Anstieg der durchschnittlichen Zugzahl pro Strecke um 17,2 Prozent kommen.
Wo liegen die Probleme heute?
Das zeigt ein kurzer Ausschnitt aus dem aktuellen Bahnalltag im Ruhrgebiet. Ein Mittwochmorgen am Dortmunder Hauptbahnhof. Die erste Rushhour des Tages geht zu Ende. Der Fahrplan ist Makulatur. Der Regionalexpress RE 3 nach Hamm um 9.01 Uhr ist zehn Minuten verspätet. Der RE 6 nach Köln/Bonn, planmäßige Abfahrt um 9.06 Uhr, wird 35 Minuten später kommen. Zehn Minuten hinter dem Plan liegt der Intercity IC 2222 um 9.12 Uhr nach Berlin, 15 Minuten zu spät dran ist der RE1 nach Hamm, der für 9.16 Uhr vorgesehen war.
Das System ist also überlastet. 128 Züge pro Tag muss jeder Streckenabschnitt im Schnitt bewältigen. Wissenschaftler der Uni Münster haben schon vor Jahren eine Auslastung von 110 Prozent errechnet — mehr, als verkraftbar ist. Verspätungen und Zugausfälle sind an der Tagesordnung. Ist ein Intercity-Express verspätet, bleibt der zeitlich folgende Regionalexpress oft erstmal auf der Strecke stehen. Der RRX soll das ändern.
Was kostet das RRX-Vorhaben?
Insgesamt 2,6 Milliarden Euro — ohne die Kosten für die Fahrzeuge — will der Bund in den Netzausbau der künftigen RRX-Linie investieren. Auf insgesamt 84 Kilometern werden Gleise neu- und umgebaut, 70 zusätzliche Weichen gelegt, 26 Brücken breiter gemacht, und elf neu errichtet. Siemens baut derzeit in Dortmund ein Depot für 82 neue RRX-Züge. Dort sollen die Fahrzeuge gewartet und zum täglichen Einsatz fit gemacht werden.
Was ist das verkehrspolitische Ziel?
Rund 4,4 der fast neun Millionen Erwerbstätigen in NRW pendeln über die Grenzen ihres Wohnortes hinaus. Die meisten nutzen das Auto. Den Regionalverkehr auf der Schiene zu beschleunigen, komfortabler zu machen und in der Folge mehr Pendler von der Straße auf die Schiene zu holen, ist deshalb das Ziel: 24 000 am Tag sollen es sein, die am Ende ihr Transportmittel wechseln.
Wird der RRX schneller als die heutige Bahn sein?
Die RRX-Züge selbst erreichen eine Spitzengeschwindigkeit von 160 Stundenkilometern, sie haben auch eine höhere Beschleunigungskraft. 140 km/h schafft dagegen der heutige Regionalexpress. Doch der Streckenausbau und die Verkehrsdichte bestimmen entscheidend das Tempo. Bis heute ist unklar, wie weit das Projekt die Fahrzeiten im Rhein-Ruhr-Gebiet tatsächlich verkürzen kann. Die Planer versprechen dies „auf einigen Relationen“, halten sich aber mit detaillierteren Informationen zurück. So nennt das 2016 von der damaligen Landesregierung in Auftrag gegebene Nutzer-Gutachten des Kölner Unternehmens SCI als einziges Beispiel die Verbindung Düsseldorf-Münster – die aber heute nicht über die zentrale Ruhrgebiets-Achse nach Dortmund führt, sondern über Oberhausen. Die Fahrzeit von 104 Minuten im heutigen Regionalexpress „Rhein Haard“ soll sich hier im künftigen RRX 7 um 15 Minuten reduzieren.
Wo sind die Schwachstellen des Plans?
Die erste: Der größte Teil der Strecken-Modernisierung findet zwischen Köln und Duisburg statt. Hier kommt es zu einem sechsgleisigen Ausbau mit eigenem Fahrweg für den RRX. Erste Bohrungen sind gesetzt. Doch wie bei fast allen Großvorhaben wird die Planung von rechtlich exzellent beratenen Bürgerinitiativen bekämpft, die sich gegen den drohenden zusätzlichen Lärm wenden. Die Initiative Angermund hat bereits die juristische Lücke identifiziert, an der sie angreifen will. Sie sagt, schon der heutige Streckenabschnitt im Rheinland sei eigentlich ein Schwarzbau: Für die bestehende Strecke, gebaut vor 170 Jahren, fehlten die eigentlich schon zu preußischen Zeiten nötigen Plangenehmigungen. „Es muss in Sachen Lärmschutz eine für beide Seiten akzeptable Lösung gefunden werden“, hat der Chef des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr, Martin Husmann, vorsorglich gemahnt. Er ahnt, dass es sonst Schwierigkeiten gibt: „Sollte das nicht gelingen, müssen wir uns auf ein juristisches Tauziehen einrichten, das bis zu zehn Jahre dauern könnte“.
Die zweite: Im Kern des Ruhrgebiets, zwischen Duisburg und Dortmund, werden mit Ausnahme weniger Weichen und Kurven kaum Modernisierungen vorgenommen. Statt einer Ausweitung auf sechs Gleise soll diese Strecke viergleisig bleiben — zwei Gleise für die S-Bahnen und Nahverkehrszüge, die anderen beiden für den gemeinschaftlichen Betrieb von RRX und Fernverkehr. Eine eigene RRX-Trasse ist nicht vorgesehen. Dabei kommen sich heute schon Fern- und Regionalzüge in die Quere. Die Ruhr-Hauptstrecke zwischen Essen und Duisburg gehört seit etwa drei Jahren zu den besonders ausgewiesenen „Engpass-Strecken“ der Bahn, auf der sich wie in einem Brennglas die nationalen und regionalen Verkehre begegnen.
Die dritte: Gerade im Ruhrgebiet fehlt oberirdisch Raum für nötige Erweiterungen. Von „sehr enger Infrastruktur“ spricht man beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) mit Blick auf die aktuelle Lage. Die Bahnhöfe lägen „extrem nahe beieinander“. Wohn- und Industriebebauungen reichen von Mülheim bis hinter Bochum vielfach bis nah an den Rand des Bahndamms. Genau das war der Grund dafür, dass die Planer einer „Rheinisch-Westfälischen Städtebahn“ in den 1920er-Jahren die eigene Trasse unter den Innenstädten des Ruhrgebiets in Tunnel verlegen wollten. Diese Pläne dürften heute noch viel weiter von der Wirklichkeit entfernt sein als vor einem knappen Jahrhundert — als Siemens, AEG und RWE die Idee der nie verwirklichten „Städtebahn“ zu Papier brachten.
Geplanter Ausbau
Was ist im Revier konkret geplant?
Wenn es im Ruhrgebiets-Abschnitt überhaupt bauliche Veränderungen gibt, werden sie „punktuell“ sein, heißt es im RRX-Konzept. In Mülheim/Ruhr werden danach vier neue Weichen entstehen als „neue Abzweigstelle“, zusätzlich noch „Anpassungen an der Oberleitung“. Ein Gleiswechsel der Züge bei Tempo 100 soll dadurch möglich werden.
Zwischen Essen und Bochum sind neue Weichen zwischen den heutigen Fernbahn- und S-Bahn-Gleisen und eine neue Verbindungskurve in Bochum-Langendreer geplant, damit die heutigen Regionalzug-Linien Siegen-Essen und Hagen-Bochum-Essen auf die S-Bahn-Trasse gelegt werden können.
Im Westen des Dortmunder Hauptbahnhofs werden ebenfalls nur neue Weichen eingebaut. Östlich der Bahnsteige kommt es nach den Plänen dagegen zu größeren Umbauten. Hier „wird das Gleisfeld deutlich erweitert“, und neue Ein- und Ausfahrten geschaffen, um vorgesehene RRX-Zweiglinien nach Münster und Hamm unterzubringen. Der eigentlichen Kernlinie Dortmund-Köln, die im Dortmunder Hauptbahnhof von Westen her endet, kommt das nicht zugute.
Gibt es Entlastungs-Alternativen?
Ja. Aber sie sind brisant. Eine dieser Entlastungen der Revier-Strecke ist vor 15 Jahren von der Bahn selbst entwickelt worden. Sie lief darauf hinaus, weniger ICE-Züge durchs Revier zu führen.
Rückblende: Damals setzte die Politik auf den Bau einer Magnetbahn, den „Metrorapid“. Wie der RRX sollte auch er — allerdings auf eigener Hochtrasse und alle zehn Minuten — Dortmund mit Köln verbinden. Im Erläuterungsbericht der damaligen Machbarkeitsstudie schlug die Bahn AG „für Fahrgäste im Korridor Düsseldorf — Dortmund“ die Nutzung der Magnetbahn „als Alternative zum Fernverkehr“ vor. Im Klartext: ICE-Züge, die bis dahin nach den geltenden Fahrplänen im Ruhrgebiet endeten, sollten von Süden und Westen kommend in Düsseldorf, von Norden und Osten her in Dortmund Schluss machen. Die Großstädte Duisburg, Essen und Bochum wären von täglich mehreren ICE-Linien nicht mehr angefahren worden. Die Kunden hätten für diesen Abschnitt auf den schnellen Regionalverkehr umsteigen müssen. Ob die Bahn auf so eine Idee auch im Zusammenhang mit dem RRX zurückkommt? Das ist unsicher.
Bleibt der Vorrang für Fernzüge?
Beim VRR in Gelsenkirchen hofft man auf einen anderen Kompromiss. Vielleicht lässt er sich in näherer Zukunft umsetzen, um die Drängelei heute wie auch in der RRX-Zukunft etwas zu entschärfen. VRR-Boss Husmann drängt darauf, dass die Deutsche Bahn ihr Prinzip aufgibt, zu Stoßzeiten ihren eigenen Fernzügen Vorrang vor den Nahverkehrszügen der Region zu geben. Dieses Prinzip ist in der Richtlinie 420.0201 der DB Netz niedergelegt und heißt übersetzt: Schnell vor langsam. Der verspätete ICE darf fahren. Der eigentlich pünktliche Regionalexpress muss den ICE passieren lassen und handelt sich so zwangsläufig eine Verspätung ein. Heute ist jeder dritte ICE verspätet.
Husmann akzeptiert diese Zwei-Klassen-Gesellschaft auf der Schiene nicht mehr. Er sieht nicht ein, dass Fernreisende etwas früher, aber immer noch verspätet an ihr Ziel gelangen, während „tausende Nahverkehrs-Kunden“ wegen der Verspätung im Fernverkehr „zu spät zur Arbeit, zum Ausbildungsplatz oder in die Schule kommen“. Weil das der Punkt ist, an dem die Kundschaft wütend wird, an dem sie vielleicht beim Auto bleibt oder schlimmstenfalls zurück aufs Auto wechselt. Der VRR-Boss hofft, dass die Deutsche Bahn wenigstens das bald einsehen könnte.