Fakten-Check

Nein, es sollen keine 50.000 türkischen Pflegekräfte nach Deutschland kommen

Die Facebookseite „Frauenbündnis Kandel“ behauptet, durch ein deutsch-türkisches Anwerbeabkommen sollen 50.000 türkische Pflegekräfte nach Deutschland kommen. Unsere gemeinsame Recherche mit den türkischen Faktencheckern von Teyip.org hat ergeben: Ein solches Abkommen gibt es nicht – und ist auch nicht geplant.

von Caroline Schmüser

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50.000 türkische Pflegekräfte sollen nach Deutschland kommen, behauptet eine deutschsprachige Webseite. Das ist falsch. (Symbolbild, Foto von rawpixel / unsplash)
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Das ist völlig falsch. Ein Abkommen, laut dem 50.000 türkische Pflegekräfte nach Deutschland kommen sollen, gibt es nicht.

Die Facebookseite Frauenbündnis Kandel veröffentlichte am 25. Oktober einen Screenshot, auf dem es heißt: Das türkische Gesundheits- und Bildungsministerium und das deutsche Gesundheitsministerium hätten ein Abkommen geschlossen, nach dem bis zu 50.000 türkische Pflegekräfte nach Deutschland kommen sollen. Der Screenshot zeigt einen am 23. Oktober veröffentlichten Artikel der Webseite nex24.

Die Facebookseite „Frauenbündnis Kandel“ teilte am 25. Oktober diesen Screenshot von einem Artikel der Webseite nex24. Die Behauptungen im Artikel sind falsch. (Screenshot von Correctiv)

Die Webseite nex24 nannte als Bedingungen für türkische Anwerber ein Höchstalter von 36 Jahren, einen sogenannten „Lise“-Abschluss (vergleichbar mit dem deutschen Abitur) und Grundkenntnisse der deutschen Sprache. Die Ausbildung in Deutschland würde angeblich drei Jahre dauern und mit einem Lohn zwischen 800 und 950 Euro vergütet. Unterkunft und Verpflegung seien für die Auszubildenden während der Dauer der Ausbildung kostenfrei. Nach erfolgreichem Abschluss der Schulung würden die türkischen Teilnehmer eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis erhalten.

Der nex24-Artikel erhält auch eine Stellungnahme des baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten Lars Patrick Berg. „Die Anwerbung von 50.000 Pflegekräften – diese Zahl steht momentan im Raum –  aus der Türkei ist keine Lösung“, heißt er darin. Berg veröffentlichte die Stellungnahme auch auf seinem Facebook-Account – samt nex24-Artikel.

Gemeinsam mit unseren Kollegen der türkischen Faktencheck-Organisation Teyip.org haben wir herausgefunden: Ein solches Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland gibt es nicht.

Deutschen Ministerien ist Abkommen nicht bekannt

Zu Beginn unserer Recherche fragten wir per E-Mail beim deutschen Gesundheitsministerium, sowie beim türkischen Gesundheits- und Bildungsministerium an. Aus der Türkei erhielten wir bis Redaktionsschluss keine Rückmeldung, dafür antwortete das deutsche Gesundheitsministerium. Ein solches Abkommen sei dort nicht bekannt, teilte die Pressestelle mit:

(Screenshot von Correctiv)

Wir wurden stattdessen an das Auswärtige Amt verwiesen. Die dortige Pressestelle konnte ein solches Abkommen nicht bestätigen.

(Screenshot von Correctiv)

Schließlich setzten wir uns mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Verbindung. Die Antwort: „Auch dem BMAS ist kein solches Anwerbeabkommen und auch keine entsprechende Vorbereitung bekannt.“

(Screenshot von Correctiv)

Türkische Medien hingegen berichteten über das angebliche Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland. Darunter die Tageszeitung Hürriyet, der Fernsehsender TGRT Haber und die Nachrichtenagentur IHA. Nex24 erwähnte letztere als Quelle.

Berufsschule widerspricht Medienberichten

Die Medienberichte erwähnen die Berufsschule „Sis“ in der türkischen Großstadt Adana und zitieren den Schulleiter Ruhşi Gül. An seiner Schule seien die Vorbereitungskurse für das angebliche Projekt geplant.

Die Berufsschule widersprach in einem Statement vom 23. Oktober den Behauptungen der Medien: „Der Direktor unserer Schule sprach mit lokalen Zeitungen über Pflegeberufe in Deutschland.“ Ein konkretes Projekt zu diesem Thema hätte die Schule jedoch nicht.

Statement der Berufsschule zu Meldungen über angebliches Anwerbeabkommen. (Screenshot von Correctiv)

Die Schule habe weder die Befugnis, Menschen nach Deutschland zu schicken, noch würde sie Deutschkurse zu diesem Zweck anbieten. In der Schule habe es nur einen Vortrag zu dem Thema gegeben – dazu später mehr.

Wir suchten daraufhin den Kontakt zu unsere Kollegen der türkischen Faktencheck-Organisation Teyip.org. Diese konnte den Schulleiter Ruhşi Gül telefonisch erreichen. Gül erzählte, wie es zu den Berichten über das angebliche Anwerbeabkommen kam, und weshalb es an der Schule einen Vortrag zum Thema Pflegeberufe in Deutschland gab.

Abmachung zwischen dem türkischen Familienministerium und deutscher Akademie

Die Geschichte beginnt bereits im Jahr 2015: Damals unterzeichneten das türkische Ministerium für Familien- und Sozialpolitik und das Bildungszentrum „Deutsche Eliteakademie AG“ ein Protokoll zur Verbesserung der Altenpflegedienste in der Türkei.

Wir kontaktierten den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der „Deutschen Eliteakademie“, Rüdiger Schilke. Dieser erklärte, man habe damals türkische Pflegeeinrichtungen mit ähnlichen Einrichtungen in Deutschland vergleichen wollen. „Ziel sollte sein, die Heime auf denselben Qualitätslevel wie deutsche Einrichtungen zu bringen.“

Die Intentionen seien nach mehreren Personalwechseln im türkischen Ministerium nicht umgesetzt worden, so Schilke. „Eine verbindliche Vereinbarung war nicht getroffen worden.“ Deutsche Ministerien seien an der Angelegenheit nicht beteiligt gewesen. Die „Deutsche Eliteakademie“ hat ihren Betrieb mittlerweile eingestellt.

Nach dem Treffen des türkischen Familienministeriums und der „Deutschen Eliteakademie AG“ begannen einige Beratungsbüros in der Türkei, Pflegeausbildungen im Ausland anzubieten. Das erfuhren unsere Kollegen von Teyip im Gespräch mit dem Berufsschulleiter Ruhşi Gül. Zu diesen Büros gehört auch eine Bildungsberatung mit dem Namen „Beymel“. „Beymel“ hilft türkischen Schülern und Auszubildenden, Praktika oder Ausbildungsplätze im Ausland, beispielsweise in deutschen Krankenhäusern, zu finden. Das Programm ist kostenpflichtig.

Das steckt hinter der Falschmeldung

„Beymel“ war es auch, die den Vortrag an der Gül’s Berufsschule hielt – es handelte sich dabei um eine Werbeveranstaltung der Beratungsfirma. Der Vortrag fand am 19. Oktober 2018 statt. Von der Veranstaltung gibt es auch ein kurzes YouTube-Video.

„Wir hätten mindestens 20 Studenten für das Programm finden müssen. Die Medien schrieben aber 50.000. Das war ein Fehler“, sagte Gül gegenüber den Kollegen von Teyip.org. „Es war wie eine Krise für uns, als ich am Montagmorgen in die Schule kam. Viele Menschen riefen bei uns an, um die Wahrheit hinter den Meldungen zu erfahren.“

Die Beratungsfirma macht auf ihrer Webseite ebenfalls auf den Fehler der Presse aufmerksam. Beim Aufruf der Webseite öffnet sich folgendes Pop-up:

Die Webseite der Beratungsfirma „Beymel“. In einem Pop-up widerspricht „Beymel“ den Behauptungen der Medien. (Screenshot von Correctiv)

Darauf heißt es: „Derzeit verbreitet sich in den sozialen Medien die Behauptung, Deutschland wolle 50.000 Arbeiter anwerben. Von solch einem Sachverhalt wissen wir nichts.“

Zwei politische Treffen sorgten möglicherweise für Verwirrung

Zwei politische Ereignisse im ähnlichen Zeitraum der Schulveranstaltung könnten für Verwirrung in Medienredaktionen gesorgt haben: der Besuch des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier in der Türkei und das Treffen einer deutsch-türkischen Regierungskommission in Berlin.

Bundeswirtschaftsminister Altmaier reiste am 25. Oktober für einen zweitägigen Besuch in die Türkei. Ziel war die Vertiefung der Zusammenarbeit in Wirtschafts- und Energiefragen, insbesondere in den Bereichen Handel, industrielle Kooperation, Tourismus und Infrastruktur.

Vom 15. bis 17. Oktober fand die 21. Tagung der sogenannten „Gemischten deutsch-türkischen Expertenkommission“ für den Unterricht türkischer Schülerinnen und Schüler in der Bundesrepublik Deutschland in Berlin statt. Leiter der deutschen Delegation war Bildungsstaatssekretär Mark Rackles. Die Kommission beschäftigte sich mit Fragen der Beschulung und Förderung von in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen mit türkischem Familienhintergrund, schrieb die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie auf Facebook.

Beide Treffen hatten inhaltlich nichts mit einem angeblichen Anwerbeabkommen zu tun.