Anschlag in Hanau: Vergleiche mit Breitscheidplatz sind irreführend
Eine Collage auf Facebook vergleicht die Anschläge in Hanau und auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016. Die Behauptung darin: Die Politik behandele Täter und Opfer der Anschläge unterschiedlich. Die Fakten wurden aus dem Kontext gerissen.
Seit dem Anschlag in Hanau vom 19. Februar kursieren in den Sozialen Netzwerken zahlreiche irreführende Beiträge und Artikel. In einer Fotocollage vergleicht der rechte Youtuber Henryk Stöckl am 21. Februar den Anschlag der vergangenen Woche mit dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016.
Er behauptet unter anderem: Angela Merkel habe den Angehörigen der Opfer in Hanau nach nur 14 Stunden kondoliert, aber denen der Opfer des Breitscheidplatzes erst nach über einem Jahr. Zudem erweckt die Collage den Eindruck, die Behörden würden die Angehörigen in Hanau finanziell stärker unterstützen.
Collage vergleicht Anschläge auf irreführende Weise
Die Vergleiche in der Fotocollage führen in die Irre: Tatsächlich sprach Angela Merkel beide Male unmittelbar nach der Anschlägen öffentlich ihr Beileid aus. Auch gab es in beiden Fällen Soforthilfen für die betroffenen Familien. Die Fakten und die Reaktionen der Politiker werden von Stöckl zudem tendenziös und ohne Kontext präsentiert.
Die Fotocollage listet zu den beiden Anschlägen jeweils drei Behauptungen auf:
- Nach dem Anschlag am Breitscheidplatz sei angeblich ein Jahr verstrichen, ohne dass Angela Merkel den Hinterbliebenen persönlich oder schriftlich kondoliert habe. Bei der Tat in Hanau hingegen habe die Kanzlerin nur 14 Stunden nach der Tat den Angehörigen ihr Mitgefühl ausgesprochen und wegen des Anschlags Termine abgesagt.
- Zur Gedenkfeier des Breitscheidplatz-Anschlags seien den Angehörigen nur Teile der Fahrtkosten erstattet worden. Den Familien der Opfer in Hanau seien aber Soforthilfen in Höhe von 30.000 Euro zugesagt worden.
- Die ersten Reaktionen der Politiker seien nach den beiden Anschlägen unterschiedlich gewesen: 2016 hätten viele Politiker davor gewarnt, „voreilige Schlüsse zu ziehen“ und „Schuldzuweisungen zu machen“. Nach Hanau hingegen hätten „Politiker aller Parteien innerhalb von 24 Stunden der AfD eine Mitschuld“ an dem Anschlag gegeben.
Erste Behauptung: Merkel habe den Hinterbliebenen nach dem Anschlag in Berlin nicht kondoliert
Angela Merkel äußerte sich am 20. Februar 2020 zur Mittagszeit, also etwa 14 Stunden nach dem Anschlag in Hanau, öffentlich zu der Tat. Wie Regierungssprecher Steffen Seibert auf Twitter mitteilte, sagte die Kanzlerin zudem eine Reise nach Halle ab.
Der Facebook-Beitrag von Henryk Stöckl erweckt den Eindruck, die Bundeskanzlerin habe an dem Leid der Anschlagsopfer vom Breitscheidplatz im Dezember 2016 hingegen keinen Anteil genommen. Das stimmt nicht: Am 20. Dezember, also auch hier einen Tag nach dem Anschlag, trat die Kanzlerin vor die Presse.
Sie sagte laut Pressemitteilung wörtlich: „Ich bin wie Millionen von Menschen in Deutschland entsetzt, erschüttert und tieftraurig über das, was gestern Abend am Berliner Breitscheidplatz geschehen ist. […] Ich denke in diesen Stunden zuallererst an diese Menschen: An die Toten und die Verletzten, und an ihre Familien, Angehörigen und Freunde. Ich möchte, dass sie wissen: Wir alle, ein ganzes Land, ist mit Ihnen in tiefer Trauer vereint.“ Am selben Tag legte sie am Anschlagsort Blumen nieder.
Angela Merkel sprach also in beiden Fällen unmittelbar nach der Anschlägen ihr Beileid aus. Ihre öffentliche Anteilnahme mit persönlichen Kondolenzen zu vergleichen, ist irreführend.
Ja, die Angehörigen der Opfer des Breitscheidplatzes kritisierten Angela Merkel in einem Brief
Es stimmt, dass die Angehörigen der Menschen, die 2016 am Breitscheidplatz getötet wurden, einen öffentlichen Brief an die Kanzlerin formuliert haben. Dieser wurde am 1. Dezember 2017 – also fast ein Jahr nach dem Anschlag – vom Spiegel veröffentlicht.
Darin heißt es: „In Bezug auf den Umgang mit uns Hinterbliebenen müssen wir zur Kenntnis nehmen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie uns auch fast ein Jahr nach dem Anschlag weder persönlich noch schriftlich kondoliert haben. Wir sind der Auffassung, dass Sie damit Ihrem Amt nicht gerecht werden.“
Als der Brief veröffentlicht wurde, waren die Opferfamilien laut Bundesregierung bereits zu einem persönlichen Treffen mit der Bundeskanzlerin eingeladen worden. Das Treffen fand am 18. Dezember 2017 unter Ausschluss der Öffentlichkeit (laut Pressekonferenz vom 15. Dezember 2017) statt. Die Bundesregierung teilte damals mit, die Kanzlerin wolle zuhören, „was aus Sicht der Betroffenen hätte anders und besser laufen können“ und darüber reden, welche Konsequenzen die Bundesregierung aus dem Ereignis ziehe.
Zweite Behauptung: Es habe keine Soforthilfen für die Angehörigen der Opfer des Breitscheidplatzes gegeben
Die Behauptung, der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Edgar Franke (SPD), habe den Angehörigen in Hanau eine Soforthilfe von 30.000 Euro zugesichert, ist richtig: Das sagte er in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland am 21. Februar. Demnach sollen Ehepartner, Kinder und Eltern von Getöteten 30.000 Euro und Geschwister 15.000 Euro erhalten.
Allerdings erhielten auch die Familien der Opfer des Breitscheidplatz-Anschlags Soforthilfen. Sie lagen bei 10.000 Euro beziehungsweise 5.000 Euro, schrieb der damalige Opferbeauftragte Kurt Beck (SPD) in seinem Abschlussbericht im Dezember 2017 (PDF, Seite 22 und 23). Beck kritisierte in dem Bericht aber, die Beträge seien „zu niedrig“ und sollten „deutlich angehoben werden“ (Seite 33). Dieser Forderung hat das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz im Jahr 2018 entsprochen und die Soforthilfen verdreifacht.
Es wurden alle Fahrtkosten übernommen
In der Collage wird weiter behauptet, nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz 2016 sei den Angehörigen nur ein Teil der Fahrtkosten zu einer Gedenkfeier erstattet worden. Das hätten die Betroffenen durch ein „behördliches Schreiben“ erfahren. Diese Darstellung ist falsch.
Im Dezember 2017 gab es Aufregung um eine Einladung des Berliner Bürgermeisters zum Jahresgedenken des Anschlags: Medien berichteten damals, der persönlichen Einladung an die Angehörigen habe ein Formblatt beigelegen, in dem es hieß, dass beispielsweise Taxifahrten nicht erstattet würden
Auf Nachfrage von CORRECTIV bestätigt die Berliner Senatskanzlei per E-Mail am 25. Februar, dass es dieses Formblatt gegeben hat. Es habe Formulierungen enthalten, die vor dem Hintergrund der Situation der Opfer und deren Angehöriger unglücklich gewesen seien, teilt ein Pressesprecher mit. Am Ende seien aber alle Fahrtkosten übernommen worden.
Dritte Behauptung: Politiker hätten unterschiedlich auf die beiden Anschläge reagiert
Die dritte Behauptung in der Fotocollage, dass Politiker nach den Anschlägen unterschiedlich reagiert hätten, lässt sich nicht vollständig prüfen. Es gibt Hinweise, dass sich Politiker ähnlich wie in den Zitaten auf der Collage geäußert haben. Beispielsweise sagte die CDU-Bundesvorsitzende, Annegret Kramp-Karrenbauer, in einer öffentlichen Stellungnahme, die AfD habe „eine Mitschuld an einer Tat wie in Hanau zu tragen“ (Video). Gregor Gysi (Linke) schrieb auf Twitter zu Hanau, die AfD liefere „eine Grundlage für solche extremistischen Täter“.
Fest steht jedoch auch, dass Politiker auf Twitter in ihrer ersten Reaktion Betroffenheit zeigten und ihr Mitgefühl ausdrückten, ohne Schuldzuweisungen auszusprechen oder davor zu warnen – nach dem Anschlag in Berlin ebenso wie nach der Tat in Hanau.
Die Tat in Hanau war kein Amoklauf
Insgesamt fehlt allen in der Collage von Henryk Stöckl genannten Fakten wichtiger Kontext. Die Überschriften – „Terroranschlag am Breitscheidplatz“ und „Amoklauf in Hanau“ – sind zudem irreführend und tendenziös formuliert. Die Tat in Hanau war kein Amoklauf, sondern wird vom Generalbundesanwalt als ein Anschlag mit starken Indizien auf ein rassistisches Motiv bezeichnet, wie CORRECTIV bereits berichtete. Innenminister Horst Seehofer (CSU) spricht sogar von einem „rechtsterroristischen Anschlag“.