Coronavirus nicht gefährlicher als Grippe? Warum Stefan Hockertz’ Behauptungen in die Irre führen
Der Immunologe Stefan Hockertz behauptet in einem Radiointerview, das neuartige Coronavirus sei nicht gefährlicher als die Grippe, die Reaktion der Politik sei maßlos und überzogen. Der Mitschnitt verbreitet sich rasant, vor allem auf Whatsapp. Seine Behauptungen sind jedoch teilweise irreführend.
In einem Radiointerview bei dem privaten Sender 94,3 rs2 in Berlin stellt Stefan Hockertz, der von den Moderatoren als Immunologe und Toxikologe mit Professorentitel vorgestellt wird, verschiedene Behauptungen rund um das neuartige Coronavirus und die Krankheit Covid-19 auf. Sein Grundtenor: Die Reaktion der Politiker sei überzogen; das Virus sei nicht gefährlicher als ein Grippevirus.
Der Interview-Mitschnitt wurde am 24. März in zwei verschiedenen Versionen (hier und hier) auf der Webseite des Radiosenders veröffentlicht. Der Mitschnitt und der dazugehörige Facebook-Beitrag von 94,3 rs2 wurden zusammengenommen mehr als 12.500 Mal auf Facebook geteilt (Stand: 31. März). Zudem haben zahlreiche Blogs und Webseiten den Mitschnitt aufgegriffen, es gibt Artikel auf PI-News, der Achse des Guten und Zur Zeit. Auch auf Whatsapp verbreitet sich das Interview aktuell vermehrt. Der Journalist Jakob Augstein hat das Interview auf Twitter mit einem Link zu einem Youtube-Video empfohlen. Das Video wurde mittlerweile jedoch wegen Urheberrechtsverletzung gelöscht.
Stefan Hockertz selbst hat nach eigenen Angaben zuletzt vor 16 Jahren im Forschungsbereich gearbeitet. Heute ist er demnach Geschäftsführer einer Beratungsfirma für toxikologische und pharmakologische Technologie.
Der BR hat zu den Aussagen von Hockertz bereits einen Faktencheck veröffentlicht. Das Ergebnis: Für einen Vergleich des Coronavirus mit Influenza ist es zu früh. Zu dieser Schlussfolgerung kommt auch CORRECTIV: Viele der Behauptungen von Hockertz sind irreführend, wie unser Faktencheck zeigt.
1. Behauptung: Covid-19 besitze die gleiche Gefährlichkeit wie Influenza und die Todesraten seien vergleichbar
Hockertz behauptet in dem Interview (ab Minute 1:17), das neuartige Coronavirus sei vergleichbar mit dem Virus, das Influenza auslöst und besitze auch „in etwa die gleiche Gefährlichkeit“ (ab Minute 1:40). Diese Behauptung ist irreführend.
Es ist richtig, dass beide Virentypen Atemwegserkrankungen auslösen und schnell von Person zu Person übertragbar sind. Abgesehen davon seien SARS-CoV-2 und die saisonalen Grippeviren aber „sehr unterschiedlich“, schreibt das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC).
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) verbreitet sich Influenza wegen ihrer kürzeren Inkubationszeit schneller als Covid-19. Gleichwohl deuteten die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse an, dass es bei Covid-19 mehr schwere Infektionsverläufe gebe als bei einer Influenza-Infektion.
Hinzu kommt laut WHO, dass es im Gegensatz zu Influenza gegen Covid-19 keine Impfstoffe gibt. Da es ein neuer Virus sei, sei außerdem niemand gegen die Krankheit immun, schreibt das ECDC. Das bedeute: „Theoretisch ist die gesamte menschliche Bevölkerung potenziell für eine Infektion mit Covid-19 anfällig.“
Diese Punkte lässt Hockertz in dem Interview unerwähnt.
Letalität von SARS-CoV-2 ist noch unklar
Der Immunologe behauptet außerdem, die Todesrate liege bei beiden Krankheiten zwischen 0,5 und einem Prozent (ab Minute 1:26). Für SARS-CoV-2 gibt es aber noch gar keine gesicherten Erkenntnisse zur Sterberate. Die Todesfälle sind nicht miteinander vergleichbar, weil sie unterschiedlich gemessen werden.
Das ECDC erklärt, an der saisonalen Grippe würden in Europa wegen der hohen Zahl der Ansteckungen jedes Jahr geschätzt zwischen 15.000 und 75.000 Menschen sterben. Dies sei etwa einer von 1.000 Infizierten (0,1 Prozent).
Die WHO schreibt, auf Basis bisheriger Erkenntnisse scheine die Sterblichkeitsrate für Covid-19 höher zu sein als bei Influenza, insbesondere höher als bei der saisonalen Grippe. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) gibt es über die Letalität – also den Anteil der Verstorbenen an den tatsächlich Erkrankten – für SARS-CoV-2 noch keine verlässlichen Daten (unter Punkt 8), weil nicht klar ist, wie viele Menschen momentan infiziert sind. Die bisherigen Studien liefern je nach Region und Messzeitpunkt sehr unterschiedliche Werte zwischen 0,8 und 7,7 Prozent, schreibt das Institut.
Zahl der Grippetoten basiert auf statistischen Schätzungen
Die Zahl der Grippetoten basiert auf der sogenannten Exzess-Mortalität, erklärte das RKI in seinem Grippe-Saisonbericht 2018 (Seite 21 und 22). Häufig werde Influenza nicht als Todesursache in den Totenschein eingetragen und „verberge“ sich hinter anderen Vorerkrankungen. Deshalb werde die Sterberate statistisch geschätzt: Experten beobachten, wie viele Menschen in der Grippesaison im Vergleich zu den übrigen Monaten im Jahr sterben. Sollte es in der Zeit einen „Mortalitätsanstieg“ geben, werden diese zusätzlichen Todesfälle der Influenza zugeordnet. Dies wird auch als „Übersterblichkeit“ bezeichnet (PDF, Seite 34).
Die statistische Schätzung liegt oft weitaus höher als die Zahl der tatsächlich als Grippetote gemeldeten Fälle. In der Grippesaison 2017/2018, die im Radiointerview von dem Moderator erwähnt wird (Minute 3:05), errechnete man so 25.000 Tote in Deutschland – was eine „ungewöhnlich starke“ Grippewelle gewesen sei, heißt es in dem Bericht des RKI (Seite 7 und 8). Zum Vergleich: 1.674 Todesfälle wurden in dieser Saison tatsächlich „mit laborbestätigter Influenza-Infektion“ an das RKI gemeldet (Seite 35).
RKI: Jeder Verstorbene, der positiv auf Corona getestet wurde, zählt als Corona-Todesfall
Beim Coronavirus ist es für solche statistischen Schätzungen zu früh. Es werden aktuell die Covid-19-positiv getesteten Todesfälle gemeldet. Auch hier vermutet Hockertz Verzerrungen (ab Minute 2:13): Die bisherigen Corona-Toten seien „so oder so gestorben, und zwar sind sie mit Corona gestorben und nicht an Corona.“
Richtig ist, dass jeder, der positiv auf das neuartige Coronavirus getestet wurde und dann stirbt, als Corona-Todesfall zählt. Das sagte der Präsident des RKI, Lothar Wieler, in einem Lagebericht am 20. März (Minute 17:50). Das schließt nicht aus, dass diese Personen auch andere Erkrankungen hatten. Es bedeutet aber auch nicht, dass sie an diesen anderen Erkrankungen „so oder so“ gestorben wären.
Bisher sei in Europa (noch) kein nationaler Anstieg der Übersterblichkeit erkennbar, den man auf die Covid-19-Pandemie zurückführen könne, heißt es auf dem Portal Euromomo (European Mortality Monitoring Project), das die Mortalitätsraten europäischer Länder auswertet. Das bedeute aber nicht, dass es nicht in bestimmten Gebieten oder Altersgruppen doch einen Anstieg gebe, der mit Covid-19 zusammenhänge. Zudem sei die Registrierung und Meldung von Todesfällen immer einige Wochen verzögert.
Auch RKI-Präsident Wieler warnte am 20. März (Minute 17:30): „Wir stehen am Anfang einer Epidemie […] und wir werden leider in Zukunft mehr Fälle haben.“ Es ist also momentan noch nicht möglich abzuschätzen, wie viele Todesfälle es durch Covid-19 geben wird.
2. Behauptung: Covid-19 sei nur für fünf Prozent der Bevölkerung gefährlich
An einer weiteren Stelle im Radiointerview (ab Minute 8:25) behauptet Hockertz, Covid-19 sei für etwa fünf Prozent der Bevölkerung wirklich gefährlich: alte, kranke, schwache, vorgeschädigte Menschen und Raucher. Die übrigen 95 Prozent „machen diese Krankheit leicht durch oder haben gar keine Symptome“, sagt Hockertz.
Zu den Risikogruppen von Covid-19 zählen nach Angaben des RKI (Punkt 2) tatsächlich ältere Menschen ab 50 bis 60 Jahren, Raucher und Personen mit bestimmten Vorerkrankungen.
Ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland raucht, 28 Prozent sind 60 Jahre oder älter
Allerdings sind allein fast ein Viertel aller Erwachsenen in Deutschland Raucher, sagt das Bundesgesundheitsministerium (23,8 Prozent). Nach Angaben des Statistischen Bundesamts sind 28,2 Prozent der Deutschen 60 Jahre oder älter (Stand: 2018).
Zwar gibt es keine Angaben dazu, wie viel Prozent der deutschen Bevölkerung insgesamt zur Risikogruppe gehören – es dürften aber vor dem Hintergrund dieser Zahlen deutlich mehr als fünf Prozent sein. Zuerst hatte eine Analyse des ARD-Faktenfinders diesen Widerspruch aufgedeckt.
Experten gehen momentan davon aus, dass die Krankheit Covid-19 bei etwa 80 Prozent der Infizierten „mild bis moderat“ und bei 20 Prozent schwerer verläuft (Punkt 2). Dabei wurden auch bei jüngeren Patienten und Personen ohne Vorerkrankungen schon schwere Verläufe beobachtet, schreibt das RKI.
3. Behauptung: Die vielen Todesfälle in Italien seien auf mangelnde Krankenhaushygiene zurückzuführen
Hockertz nennt in dem Interview ab Minute 6:15 eine Studie, anhand der er belegen will, dass die hohe Zahl der Todesfälle in Italien nicht auf Covid-19, sondern auf die mangelnde Krankenhaushygiene in dem Land zurückzuführen sei. Diese führe zu sogenannten nosokomialen Infektionen, sagt Hockertz: „Das sind Menschen, die kommen mit einem Beinbruch ins Krankenhaus und sterben an einer Lungenentzündung.“ Diese Infektionen kämen in Italien besonders häufig vor, behauptet er.
Nosokomiale Infektionen sind Infektionen, die sich Patienten in einem Krankenhaus zuziehen.
Es gibt zwar Hinweise darauf, dass die Hygiene in italienischen Krankenhäusern schlechter ist als in anderen Ländern. So sagte beispielsweise ein Gesundheitssoziologe, Claus Wendt, am 24. März gegenüber dem ZDF, dass Italien im europäischen Vergleich besonders schlecht abschneide.
Für die 2018 vom ECDC veröffentlichte Studie, deren Ergebnisse Hockertz zitiert, wurden Todesfälle in Folge von Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien geschätzt – und nicht etwa, wie er behauptet, Todesfälle durch Krankenhausinfektionen insgesamt. Die Daten dazu wurden schon im Jahr 2015 erhoben.
Die Studie, die Hockertz zitiert, belegt nicht seine These
Nach Informationen des RKI machen antibiotikaresistente Bakterien, um die es in der Studie geht, jedoch nur einen Teil aller Krankenhausinfektionen aus. Umgekehrt sind auch nicht alle Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien auf einen Krankenhausaufenthalt zurückzuführen (Frage: „Wie viele Infektionen werden durch multiresistente Erreger verursacht?“).
Zahlen zu diesen Infektionen als Beleg für eine mangelnde Krankenhaushygiene anzuführen, ist also irreführend. Wie viele Krankenhausinfektionen (und daraus resultierende Todesfälle) es in Italien wirklich gibt, konnte CORRECTIV nicht herausfinden.
Es gibt zudem keine Belege für die These, dass Krankenhauskeime statt SARS-CoV-2 für die Todesfälle in Italien verantwortlich sind; dies ist Spekulation. Im Widerspruch dazu steht außerdem, dass laut den italienischen Behörden die bestätigten Todesfälle mit dem Coronavirus infiziert waren (Bericht des italienischen Gesundheitsinstituts vom 30. März).
4. Behauptung: In Italien gebe es mehr Corona-Tote, weil die Luftverschmutzung dort hoch ist
Zu der Behauptung Hockertz’, die hohe Zahl der Todesfälle in Italien sei auf die hohe Luftverschmutzung in Italien zurückzuführen (ab Minute 8:25), gibt es bisher keine wissenschaftlichen Belege. Jedoch vermuten einige Forscher einen Zusammenhang zwischen der Luftverschmutzung und der Virusverbreitung.
So schrieben Forscher verschiedener italienischer Universitäten sowie der Gesellschaft für Umweltmedizin im März in einem gemeinsamen Positionspapier, dass die Luftverschmutzung durch Feinstaubpartikel in Norditalien die Ausbreitung von Viren möglicherweise begünstigen könnte. Diese Vermutung ist aber noch nicht belegt.
Update 21. April: Am 17. April veröffentlichte das Statistische Bundesamt eine Sonderauswertung zu den ersten Sterbefallzahlen des Jahres bis Mitte März. Demnach gab es bis dahin noch keine Hinweise auf eine Übersterblichkeit durch COVID-19 in Deutschland. Die Auszählung schloss nur Sterbefälle bis zum 15. März ein: „Vor diesem Datum traten nur vereinzelt Sterbefälle auf, die mit COVID-19 in Verbindung gebracht werden“, schreibt das Bundesamt. Bis zum 15. März gab es in Deutschland nach Angaben des RKI zwölf Tote, die mit einer Covid-19-Erkrankung in Verbindung standen. Ob die Sterbefallzahlen ab der zweiten Märzhälfte insgesamt erhöht seien, sollen die künftig regelmäßig veröffentlichten Sonderauswertungen zeigen.