Irreführende Grafik zu Influenza- und Coronavirus-Sterbefällen
In den Sozialen Medien kursiert die Behauptung, dass alle Influenza-Sterbefälle in diesem Jahr als Coronavirus-Fälle gezählt worden seien. RKI und Statistisches Bundesamt widersprechen großteils – und ein dazu geteiltes Diagramm führt in die Irre.
Ein Diagramm auf Facebook stellt angebliche Todesfälle durch Grippe und Covid-19 gegenüber. Es wurde am 8. Juli veröffentlicht und seitdem mehr als 3.900 Mal auf Facebook geteilt.
Das Diagramm zeigt vier Zeiträume: 2014/15, 2016/17, 2017/18 und 2019/20. Für jeden Zeitraum sind je zwei Balken dargestellt: Einer zeigt jeweils angebliche Influenza-Todesfälle und einer zeigt Covid-19-Todesfälle. In einer Fußnote wird darauf hingewiesen, dass für die Grippe-Fälle unterschiedliche Daten zugrunde liegen: „Schätzungen“ (für den Zeitraum 2014 bis 2018) und „tatsächlich gemeldet“ für die Grippe-Saison 2019/20. Als Quelle für die Schätzungen wird das Robert-Koch-Institut (RKI) genannt.
Im Beitragstext steht unter anderem: „Selbst wenn man die tatsächlich gemeldeten Grippe-Toten der letzten Saison durch Schätzungen um einiges nach oben korrigiert, scheint es, dass schlicht alle Todesopfer in diesem Land mit passenden Symptomen 2020 konsequent dem *Team Corona* zugerechnet worden. Das *Team Grippe* schaut dementsprechend 2020 echt alt aus…“ Der Nutzer behauptet demnach: Es gebe weniger Grippe-Todesfälle, weil sie angeblich als Corona-Fälle gezählt würden.
Wir haben das Diagramm und die Behauptung überprüft. Unser Ergebnis: Die Grafik führt in die Irre. Für die Behauptung zur Zählweise von Grippe-Toten gibt es nach unseren Recherchen keine Hinweise.
Die Zahlen der angeblichen Grippe-Toten basieren auf unterschiedlichen Daten
Zuerst haben wir uns die Daten angesehen, die in dem Diagramm auf Facebook verwendet werden. Die Zahlen der Grippe-Todesfälle für 2014 bis 2018 stimmen größtenteils: Experten schätzen tatsächlich, dass es in der Grippesaison 2017/18 rund 25.100 Grippetote gegeben haben könnte. Das geht aus dem damaligen Saisonbericht des RKI hervor. Es sei eine „ungewöhnlich starke“ Grippewelle gewesen, heißt es in dem Dokument (Seite 7 und 8). Auch die Zahlen im Diagramm für 2014/15 und 2016/17 stimmen grob mit den Angaben im Bericht des RKI überein (u.a. hier auf Seite 47).
Für die Saison 2019/20 werden im Diagramm auf Facebook hingegen nur 434 Sterbefälle aufgeführt. Eine Quelle ist nicht angegeben. Die Zahl bezieht sich jedoch offenbar auf eine andere Statistik: Es sind die „mit laborbestätigter Influenza-Infektion“ an das RKI gemeldeten Fälle, die im „Influenza-Wochenbericht“ aufgeführt werden. Demnach gab es zwischen Oktober 2019 (40. KW) und April 2020 (15. KW) insgesamt „434 Todesfälle mit Influenzavirusinfektion“ (Seite 1).
Hier wurden unterschiedliche Zahlen miteinander verglichen, die nicht das Gleiche messen.
Grundlage für die Schätzung bildet die sogenannte Exzess-Mortalität
Um die große Differenz zwischen den Zahlen zu verstehen, muss man wissen, wie sie erhoben werden:
Die 25.100 Todesfälle der Saison 2018/2019 basieren – im Gegensatz zu den tatsächlich gemeldeten Grippetoten – auf statistischen Schätzungen, erklärt das RKI in seinem Grippe-Saisonbericht 2018/19 (Seite 21 und 22). Grundlage für diese Schätzung bildet die sogenannte Exzess-Mortalität. Experten beobachten dabei, wie viele Menschen in der Grippesaison im Vergleich zu den übrigen Monaten im Jahr sterben. Sollte es in der Zeit einen „Mortalitätsanstieg“ geben, werden diese zusätzlichen Todesfälle der Influenza zugeordnet. Dies wird auch als „Übersterblichkeit“ bezeichnet (PDF, Seite 34).
Influenza wird oft nicht als Todesursache eingetragen
Häufig werde Influenza nicht als Todesursache in den Totenschein eingetragen und „verberge“ sich hinter anderen Vorerkrankungen. Deshalb werde die Sterberate statistisch geschätzt, so begründet das Institut sein Vorgehen. Tatsächlich liegt die statistische Schätzung oft weitaus höher als die Zahl der als Grippetote gemeldeten Fälle.
Für die Grippesaison 2019/2020, die die Arbeitsgemeinschaft Influenza des RKI bereits Mitte März für beendet erklärt hat, wurden also insgesamt 434 Todesfälle mit bestätigter Influenza-Infektion an das Institut übermittelt. Die statistischen Schätzungen zu den Todesfällen wurden jedoch noch nicht veröffentlicht. Ebenso gibt es noch keine Schätzungen zu den Influenza-bedingten Todesfällen der Grippesaison 2018/2019.
Zum Vergleich: In der Saison mit der „ungewöhnlich starken“ Grippewelle wurden 1.674 Todesfälle „mit laborbestätigter Influenza-Infektion“ an das RKI gemeldet (Seite 35); in der Saison 2014/2015 hingegen nur 274 Fälle (PDF, Seite 43). Daraus lässt sich schließen: In diesem Jahr ist die Grippesaison also vergleichsweise mild verlaufen.
Die Influenza-Saison war dieses Jahr kürzer als in den vergangenen Jahren
Tatsächlich endete die Grippewelle laut den Saisonberichten dieses Jahr zwei Wochen früher als in den beiden Jahren davor (PDF für 2018/2019, PDF für 2017/2018, jeweils Seite 7). „Die Influenzasaison war kurz nach Einführung der bundesweiten Maßnahmen zur Eindämmung und Verlangsamung der COVID-19-Pandemie in Deutschland beendet (KW 12)“, schreibt das RKI uns per Mail. In einem Wochenbericht vom 16. April schreibt das Institut, dass die vergangene Grippesaison „kürzer als in den letzten fünf Saisons“ gewesen ist (Seite 3).
Dies begründet das RKI wie folgt: „Zu dieser Verkürzung (…) dürften (…) die bundesweiten Maßnahmen zur Eindämmung und Verlangsamung der COVID-19-Pandemie in Deutschland erheblich beigetragen haben. Da Kinder für die Verbreitung der jährlichen Grippe eine wesentliche Rolle spielen, sind hier insbesondere die Schulschließungen ab der 12. KW 2020 zu nennen.“ Diese Mutmaßung äußerte die Behörde bereits im Wochenbericht der 13. Kalenderwoche. CORRECTIV hatte in einem Faktencheck im April darüber berichtet.
Fazit: Mit den in dem Facebook-Beitrag dargestellten Daten lassen sich die vergangene Grippe-Saison und diejenigen in den Jahren davor also nicht vergleichen, weil sie teils auf Schätzungen, teils auf laborbestätigten Fällen basieren.
Zudem wurde das neuartige Coronavirus erst im Dezember 2019 entdeckt. Zuvor gab es keine bestätigten Infektionen mit SARS-CoV-2. Anzuführen, dass in der Zeit vor 2020 keine Fälle von Covid-19 gemeldet wurden, ist demnach irreführend.
RKI-Statistik zählt alle Todesfälle, die mit Covid-19-Erkrankung in Verbindung standen
Und wie steht es um die Behauptung im Facebook-Beitrag, dass Influenza-Tote in der diesjährigen Influenza-Saison als Corona-Tote gezählt wurden?
Zunächst ist wichtig zu verstehen, wie die Corona-Fälle überhaupt gezählt werden. Im Gegensatz zur eher niedrigen Zahl der Grippe-Sterbefälle zeigt das Diagramm auf Facebook 9.000 Covid-19-Fälle im Jahr 2020 an. Nach Angaben des RKI waren bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Facebook-Beitrags tatsächlich 9.036 Menschen in Deutschland gestorben, die positiv auf das neuartige Coronavirus getestet worden waren (Stand: 8. Juli).
In der RKI-Statistik werden alle Todesfälle gezählt, die mit einer Covid-19-Erkrankung in Verbindung stehen. Also sowohl Menschen, die direkt an der Erkrankung gestorben sind („gestorben an“), als auch Patienten mit Grundkrankheiten, die mit Covid-19 infiziert waren und bei denen sich nicht klar nachweisen lässt, was letzten Endes die Todesursache war („gestorben mit“). Das erklärt das RKI auf seiner Webseite (unter Fallzahlen und Meldungen).
Das bedeutet aber nicht automatisch, dass Menschen, die in diesem Jahr an der Grippe starben, einfach so als Corona-Tote gezählt worden sind.
RKI: Seit Ende der Influenza-Saison gab es nur eine „Doppelinfektion von SARS-CoV-2 und Influenza“
Auf Nachfrage beim RKI, ob Influenza-Todesfälle in dieser Saison als Corona-Tote gezählt wurden, teilt die Behörde per E-Mail mit: Sogenannte Doppelinfektionen von SARS-CoV-2 und Influenza seien vor dem Ende der Influenza-Saison zwar vorgekommen, aber „selten“ gewesen. Während der Influenzasaison habe es „einen Nachweis einer Doppelinfektion von SARS-CoV-2 und Influenza“ gegeben. Seit dem Ende der Saison habe es „nur einen einzigen Influenzavirusnachweis“ gegeben, „bei dem aber keine Koinfektion mit SARS-CoV-2 vorlag“.
CORRECTIV hat dazu außerdem beim Statistischen Bundesamt nachgefragt, das die Todesursachenstatistik anfertigt. Eine Sprecherin schrieb: „Bei einer vorliegenden Doppeldiagnose (Influenza und COVID-19) wird NICHT automatisch das eine durch das andere ersetzt, sondern es wird diejenige Erkrankung zugrunde gelegt, die letzten Endes tödlich war. Das ist im Einzelfall nicht unbedingt klar voneinander zu trennen, einen Automatismus bei der Zuordnung der Todesursachen gibt es hingegen nicht.“
Fazit: Es gibt keine Hinweise für die Behauptung, dass Grippe-Tote in der diesjährigen Saison als Corona-Tote gezählt wurden. Während der Influenzasaison habe es laut RKI nur einen Nachweis einer Doppelinfektion von SARS-CoV-2 und Influenza gegeben. Das Statistische Bundesamt schreibt, dass bei einer vorliegenden Doppeldiagnose (Influenza und Covid-19) nicht automatisch das Eine durch das Andere ersetzt werde. Hierbei komme es auf den Einzelfall an.