Nein, eine US-Forschungsorganisation hat nicht die Wirkungslosigkeit der Corona-Maßnahmen bestätigt
In einigen Blogs wird die Fachpublikation einer US-Forschungsorganisation irreführend interpretiert: Es wird behauptet, die Forscher hätten die Maßnahmen gegen das Coronavirus für wirkungslos erklärt. Das stimmt nicht.
In mehreren Blogs wird behauptet, dass „Lockdown und Maskenzwang“ keinen Einfluss auf die Ausbreitung von Covid-19 gehabt hätten – und zwar weltweit. Dies habe angeblich eine „Studie“ der US-amerikanischen Forschungsorganisation National Bureau of Economic Research (NBER) ergeben. Die Behauptung wurde am 6. September in einem Artikel des Blogs Unzensuriert veröffentlicht, zwei Tage später griff sie auch Journalistenwatch in einem Beitrag auf.
Die Texte wurden laut dem Analysetool Crowdtangle insgesamt mehr als 6.800 Mal auf Facebook geteilt. Auch auf mehreren Seiten von AfD-Politikern sowie über den AfD-Landesverband Niedersachsen wurde die Behauptung verbreitet (zum Beispiel hier, hier und hier).
Eine CORRECTIV-Recherche zeigt: Das Dokument der US-Forscher wurde falsch interpretiert. Es handelt sich dabei weder um eine Studie, noch wird darin behauptet, die Maßnahmen hätten keine Wirkung gezeigt.
Behauptet wird: „Lockdown und Maskenzwang“ hätten keinen Einfluss auf Covid-19-Entwicklung
In beiden Blog-Texten geht es um einen Text von drei Wissenschaftlern der Forschungsorganisation NBER, diese veröffentlichten ein sogenanntes Arbeitspapier. Es handelt es sich also nicht um eine Studie oder „Metastudie“, wie auf der Seite Unzensuriert behauptet wurde. Das Dokument wurde in beiden Blog-Texten falsch interpretiert.
Das Arbeitspapier wurde am 24. August gemeinsam mit 24 weiteren Arbeitspapieren auf der Internetseite des NBER veröffentlicht. Es trägt den Titel „Four Stylized Facts About Covid-19“, übersetzt heißt das „Vier stilisierte Fakten über Covid-19“.
In den Blog-Texten heißt es, die Autoren kämen zu dem Schluss, „dass die Corona-Todesrate unabhängig von den ergriffenen Maßnahmen zurückgingen, und zwar in allen untersuchten Ländern“. Das stimmt nicht.
Die Wissenschaftler geben Anregungen für künftige Forschungsarbeiten zur Covid-19-Pandemie
Die Forscher Atkeson, Kopecky und Zha nehmen in ihrem Arbeitspapier Studien über die Auswirkungen von Maskenpflicht oder Quarantäne-Maßnahmen unter die Lupe. Sie bemerkten dabei vier „stilisierte“ Fakten, auf die ihrer Meinung nach bei künftigen Studien über die Pandemie geachtet werden müsste. Würden diese vier Fakten nicht berücksichtigt, könne es sein, dass dadurch der Einfluss politischer Maßnahmen „überbewertet“ werde (Seite 1). Konkret geht es um „nicht-pharmakologische Interventionen“ (NPIs), also um Dinge wie Abstandsregeln oder Hygiene-Maßnahmen. Das Arbeitspapier soll Anregungen für künftige Forschungsarbeiten bieten.
Vier Behauptungen zur Wachstumsrate der täglichen Todesfälle durch Covid-19
Konkret haben sich die Autoren Studien darüber angesehen, wie sich die Zahlen der täglichen Todesfälle durch Covid-19 im Durchschnitt über die Zeit und über Ländergrenzen hinweg entwickelt haben. Sie betrachteten dafür den Zeitraum nach dem Auftreten der ersten 25 kumulierten Todesfälle in einer Region.
Das Ergebnis ihrer Analysen: Innerhalb der ersten 20 bis 30 Tage fielen die Wachstumsraten der Todesfälle in allen beobachteten Ländern und Regionen von hohen Anfangswerten ab. Anschließend lagen sie demnach fast bei Null, die Zahl der Todesfälle blieb also mehr oder weniger auf dem gleichen Level. Die effektive Reproduktionszahl R habe nach den ersten 30 Tagen der Pandemie weltweit um den Wert eins geschwankt. Zum Verständnis: Die Reproduktionszahl R gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt.
Es wird an keiner Stelle behauptet, dass staatliche Maßnahmen keinen Einfluss auf die Corona-Pandemie gehabt hätten – im Gegenteil
Die Forscher stellen in dem Arbeitspapier fest, dass vermutlich nicht nur die Schutzmaßnahmen für die Senkung der Ansteckungs- und Todesraten verantwortlich sind, sondern auch andere Faktoren. Um welche es sich genau handelt, schrieben sie allerdings nicht. Die NPI-Politik und die soziale Distanzierung hätten zwar wesentlich dazu beigetragen, die Ausbreitung des Coronavirus zu reduzieren, sollten aber nicht „überbewertet” werden.
Im Fazit fassen sie zusammen (Seite 18): „Die vorhandene Literatur kommt zu dem Schluss, dass die NPI-Politik und die soziale Distanzierung wesentlich dazu beigetragen haben, die Ausbreitung von Covid-19 und die Zahl der Todesfälle zu reduzieren. Die stilisierten Fakten in diesem Papier stellen diese Schlussfolgerung in Frage. Wir plädieren dafür, dass die künftige Forschung die [vier] Fakten berücksichtigen sollte, wenn sie beurteilt, wie wichtig die NPI-Politik für die Gestaltung des Fortschreitens von Covid-19 ist.“
Redigaturen: Till Eckert, Kathrin Wesolowski