Keine Übersterblichkeit 2020? Samuel Eckerts Berechnungen sind laut Statistischem Bundesamt „methodisch unzulässig“
Der Youtuber Samuel Eckert versucht in einem Video, mit komplexen Berechnungen zu Sterbezahlen zu belegen, dass es 2020 keine Übersterblichkeit gegeben habe. Das Statistische Bundesamt und das Max-Planck-Institut für demografische Forschung widersprechen.
Seit Monaten versucht der Youtuber Samuel Eckert mit irreführenden Videos zu zeigen, dass es im Jahr 2020 keine Übersterblichkeit aufgrund der Corona-Pandemie gegeben habe. Der Begriff „Übersterblichkeit“ wird in diesem Kontext dazu verwendet, anzuzeigen, dass in einem bestimmten Zeitraum mehr Menschen starben, als nach durchschnittlichen Sterbefallzahlen vergangener Jahre im selben Zeitraum zu erwarten gewesen wäre.
In einem rund 20-minütigen Video vom 22. Januar greift Eckert einen unserer Faktenchecks auf. Wir beschäftigten uns darin mit der im Januar kursierenden Behauptung, die Sterbefallzahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) belegten eine „Untersterblichkeit“ für das Jahr 2020. Der Begriff ist laut Statistischem Bundesamt in der Wissenschaft kaum gebräuchlich (PDF, Seite 6), soll offenbar aber das Gegenteil von Übersterblichkeit ausdrücken.
Das Ergebnis unseres Faktenchecks vom 15. Januar: Die bisher vorliegenden Sterbezahlen für das Jahr 2020 reichen nicht aus, um sinnige Vergleiche mit den Vorjahren anzustellen – es handelt sich um vorläufige Rohdaten.
Eckert behauptet in dem aktuellen Video nun: „Absolute Zahlen“ würden sich grundsätzlich nicht eignen, um eine Über- oder Untersterblichkeit festzustellen. Er spielt damit offenbar auf das Vorgehen des Statistischen Bundesamts an. Dieses veröffentlicht wöchentlich Gesamtsterbefallzahlen und gesonderte Covid-Sterbezahlen, so etwa auch am 22. Januar, als Eckerts Video veröffentlicht wurde. Aus diesen vorläufigen Daten geht für das Jahresende ab der 43. Kalenderwoche (Mitte Oktober) eine deutliche Übersterblichkeit hervor.
Laut Eckert werden dabei Bevölkerungswachstum und -alterung nicht ausreichend berücksichtigt – man müsse sich für einen aussagekräftigen Vergleich stattdessen auf sogenannte „Gesamtäquivalente“ beziehen. Er meint damit die Ergebnisse einer Art prozentualer Hochrechnung der Sterberate, die er offenbar selbst entwickelt hat.
Anhand dieser Hochrechnungen behauptet Eckert in seinem Video schließlich, dass das Jahr 2020 nach seinen Berechnungen die „zweitniedrigste Sterbequote in neun Jahren“ hatte. Das Video wurde bisher mehr als 135.000 Mal auf Youtube angesehen.
CORRECTIV.Faktencheck hat zu dem Thema mit dem Statistischen Bundesamt und dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung gesprochen. Das Ergebnis: Eckerts Behauptung zu den absoluten Zahlen greift zu kurz, seine Berechnungen im Video sind laut Destatis „methodisch unzulässig“ und seine Behauptung zu den Sterberaten der letzten neun Jahre falsch. Die Experten gehen für das gesamte Jahr 2020 von einer leichten Übersterblichkeit durch die Corona-Pandemie aus, vor allem am Jahresende war die Erhöhung der Sterbefallzahlen jedoch stark ausgeprägt.
Statistisches Bundesamt geht von leichter Übersterblichkeit 2020 aus
Sterbefallzahlen schwanken laut Statistischem Bundesamt über das Jahr saisonbedingt stark. Eine Über- oder Untersterblichkeit wird deshalb in einem bestimmten Zeitraum gemessen und mit einem Durchschnittswert der Vorjahre verglichen. Es gibt verschiedene Rechenmodelle und es ist möglich, ganze Jahre oder Monate oder Wochen miteinander zu vergleichen. Das europäische Portal Euromomo und auch das Statistische Bundesamt machen den Vergleich auf Wochenbasis. Das Bundesamt vergleicht eine Kalenderwoche 2020 mit dem Durchschnitt derselben Kalenderwoche aus den Vorjahren.
Das Destatis schreibt in einer Pressemitteilung vom 16. Februar über die Methodik: Die Grundlage der Sonderauswertung für das Jahr 2020 seien „erste vorläufige Rohdaten“. Es handele sich um eine reine Fallauszählung von Standesämtern ohne „die übliche Plausibilisierung und Vollständigkeitskontrolle der Daten“. Wegen der aktuellen Relevanz durch die Corona-Pandemie sei ein Schätzmodell zur Hochrechnung der unvollständigen Daten entwickelt worden. „Anhand der vorläufigen Sterbefallzahlen lassen sich Phasen der Übersterblichkeit im Laufe eines Jahres identifizieren. So werden direkte und indirekte Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Sterbefallzahlen zeitnah sichtbar“, schreibt das Statistische Bundesamt.
Es weist darauf hin: „Der Effekt der steigenden Lebenserwartung und des steigenden Anteils älterer Menschen auf die zu erwartende Zahl an Sterbefällen kann in diesen Vergleich nicht einberechnet werden.“
Endgültige Ergebnisse, die dann Bevölkerungswachstum und -alterung berücksichtigten, erwartet das Bundesamt im Mai 2021. Eine erste Einschätzung findet sich in einer Pressemitteilung vom 29. Januar. So sei die Gesamtzahl der Sterbefälle 2020 im Gegensatz zu 2019 um etwa 43.000 oder fünf Prozent gestiegen. „Ohne Sonderentwicklungen“ (wie die Pandemie) wäre laut Bundesamt ein Anstieg der Sterbefälle um ein bis zwei Prozent für das Jahr 2020 zu erwarten gewesen.
Methodisch saubere und endgültige Berechnungen zu 2020 noch nicht möglich
Eckert behauptet in seinem Video (ab Minute 3:00), dass sich „absolute Zahlen“ grundsätzlich „nicht eignen“ würden, um eine Über- oder Untersterblichkeit festzustellen – sie seien sogar „irreführend“. Er meint offenbar die Zahlen des Statistischen Bundesamts.
Weil sich die Altersstruktur in Deutschland ändere, etwa die Bevölkerung in der Tendenz gealtert sei, müsse man sich für einen Vergleich mehrerer Jahre auf die verschiedenen Altersgruppen beziehen und dann hochrechnen, wie viel Prozent der Gesamtbevölkerung jährlich gestorben sei, so Eckert (ab Minute 7:30).
Felix zur Nieden, ein Sprecher des Statistischen Bundesamts, widerspricht der Aussage, absolute Zahlen würden sich für eine Einschätzung zu Über- oder Untersterblichkeit nicht eignen, per E-Mail: „Das Konzept der Übersterblichkeit eignet sich auch auf Basis der absoluten Zahlen, um saisonale Entwicklungen einzuordnen. Veränderungen in der Altersstruktur können beispielsweise nicht erklären, warum die Sterbefallzahlen Anfang Oktober noch im Bereich des Durchschnitts lagen und mittlerweile deutlich darüber hinaus angestiegen sind. So schnell hat sich die Altersstruktur der Bevölkerung nicht geändert.“
Felix zur Nieden verweist auf die „Human mortality database“ (HMD) des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung. Dort lassen sich die Zahlen sowohl absolut, als auch nach Sterberaten und dabei jeweils altersspezifisch darstellen.
„Auch wenn man die Ergebnisse im Verhältnis zur Bevölkerung für Deutschland (unter Nutzung eigener Schätzwerte zur Bevölkerungsentwicklung im Jahr 2020) darstellt, bestätigen sich die zentralen Schlussfolgerungen, die wir in unseren Pressemitteilungen im Corona-Kontext kommuniziert haben: Das Sterbegeschehen lag im April und liegt seit Mitte Oktober auffällig über dem Durchschnitt der Vorjahre – besonders auffällig ist die Entwicklung in der höchsten Altersgruppe (wir haben hier 80+ gewählt, das HMD-Team 85+)“, schreibt zur Nieden.
Statistisches Bundesamt: Eckerts Berechnungen sind „methodisch unzulässig“
Für eine abschließende Einordnung der Sterblichkeitsentwicklung des Jahres 2020 werden die Sterbefälle laut zur Nieden ins tatsächliche Verhältnis zur Bevölkerung gesetzt, „um beispielsweise auch den Alterungsprozess der Bevölkerung adäquat einzubeziehen“. Generell seien solche sauberen Berechnungen aber noch nicht möglich, weil noch keine vollständigen Sterbefallzahlen für 2020 vorliegen. Hierfür müssten laut zur Nieden „auch Bevölkerungszahlen nach einzelnen Altersjahren zum Jahresende 2020 herangezogen werden müssen, die ebenfalls erst Mitte des Jahres 2021 vorliegen werden“.
Samuel Eckert stütze seine Berechnungen im Video offenbar auf die jeweiligen Bevölkerungszahlen zum 31. Dezember der Vorjahre. Das bezeichnet der Sprecher des Statistischen Bundesamtes als „methodisch unzulässig“. Für eine solche Berechnung würden die endgültigen Sterbefallzahlen und der endgültige Bevölkerungsstand 2020 benötigt, die noch nicht vorliegen.
Zu Eckerts Berechnungen im Video schreibt der Sprecher des Statistischen Bundesamtes außerdem: „Die Anwendung des Konzeptes [der Übersterblichkeit, Anm. d. Red.] auf ganze Kalenderjahre vermischt verschiedene saisonale Entwicklungen, um die es bei der Übersterblichkeit eigentlich geht.“ So werde zum Beispiel die relativ milde Grippewelle Anfang 2020 mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das gesamte Jahr seit April verrechnet. „Die tatsächlichen Auswirkungen der Pandemie werden bei einem solchen Vorgehen aus unserer Sicht unzulässig relativiert.“
Max-Planck-Institut: Analyse nach Altersgruppen ist sinnvoll, aber Gesamtzahlen führen nicht zu falscher Schätzung
Dmitri A. Jdanov vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung gibt Samuel Eckert in einem Punkt teilweise Recht: „Eine Analyse nach Altersgruppen oder die Verwendung altersstandardisierter Indikatoren (z. B. Standardized Death Ratio) ist immer vorzuziehen.“
Um die Sterblichkeit über einen längeren Zeitraum zu vergleichen, sollte man wegen der unterschiedlichen Bevölkerungsstruktur nicht die Gesamtzahl der Todesfälle heranziehen, so Jdanov. „Die Bevölkerung könnte bei einem niedrigeren Sterblichkeitsniveau mehr Sterbefälle haben, einfach weil der Anteil der alten Menschen höher sein wird. Mit anderen Worten: In Deutschland haben wir vielleicht jedes Jahr ein bisschen mehr Todesfälle, nur weil die Bevölkerung altert (= Anteil der alten Menschen an der Bevölkerung steigt). Man kann aber die erwartete Zahl der Sterbefälle definieren, die die Bevölkerungsalterung berücksichtigt.“
Trotzdem erwarte er „keine dramatische Überschätzung (oder Unterschätzung)“, wenn man nur die Gesamtsterbezahlen verwende, schreibt Jdanov weiter. „Daten für Deutschland sind nur für die letzten fünf Jahre verfügbar. In dieser Zeit gibt es keine großen Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur.“ Mit verschiedenen Methoden könne man einen Überschuss an Todesfällen während der Pandemie im Jahr 2020 zwischen 35.000 (wochenspezifischer Trend) und 53.000 (wochenspezifischer Durchschnitt) schätzen.
Eckerts Aussagen zu Sterberaten in den Jahren 2013 und 2020 sind laut Max-Planck-Institut falsch
Eckert berechnet im Video (ab Minute 10:40) prozentuale Sterberaten innerhalb verschiedener Altersgruppen in einem Jahr – also zum Beispiel wie viel Prozent der 20- bis 29-Jährigen im Jahr 2020 gestorben sind. Diese Werte vergleicht er über die Jahre 2012 bis 2020.
Zudem berechnet Eckert noch etwas, das er „Gesamtäquivalent“ nennt – und dieser Wert zeige angeblich, wie viel Prozent der Gesamtbevölkerung in einem Jahr gestorben seien. Das „Gesamtäquivalent“ sei das Ergebnis einer Hochrechnung, die der Youtuber offenbar selbst entwickelt hat und in einem anderen Video vorstellt. Laut zur Nieden ist der Begriff „Gesamtäquivalent“ in der Bevölkerungswissenschaft „eher ungewöhnlich“. Überhaupt sei nur schwer nachvollziehbar, wie Eckert auf seine Aussagen komme, etwa ob er korrekte Daten herangezogen habe.
Anhand seiner Berechnungen behauptet Eckert schließlich: „In Deutschland war innerhalb der letzten neun Jahre das Jahr 2020 das Jahr mit der zweitniedrigsten Sterbequote.“
Dmitri Jdanov vom Max-Planck-Institut schreibt uns dazu: „Dies ist eine falsche Aussage.“
Weiter behauptet Eckert in seinem Video: „Das tödlichste Jahr innerhalb der letzten neun Jahre war das Jahr 2013.“ Das Jahr 2020 liege demgegenüber bei der Sterblichkeit nur auf Rang acht. Dazu bemerkt der Experte des Max-Planck-Instituts: „Wir haben einen ganz erheblichen Anstieg der Sterblichkeit im Jahr 2020. Selbst wenn man berücksichtigt, dass wir dieses Jahr keine Grippe-Epidemie wie 2017 (~16.000 zusätzliche Todesfälle aufgrund der Epidemie) oder 2018 (~22.000 Todesfälle) hatten, ist die Zahl der zusätzlichen Todesfälle zu hoch.“
Der Sprecher des Statistischen Bundesamts, Felix zur Nieden, schreibt zu Samuel Eckerts Berechnungen außerdem: „Wer die Sterblichkeit 2020 auf diese Art und Weise direkt mit früheren Jahren vergleicht, blendet die konstanten Fortschritte in der Lebenserwartung und den damit verbundenen Rückgang der Sterblichkeit aus. Aus dieser Perspektive ist es bereits ein Rückschritt, wenn die Lebenserwartung aus irgendeinem Grund nicht weiter ansteigt.“
Corona-Maßnahmen müssen berücksichtigt werden
Ab März 2020 lassen sich die Zahlen laut zur Nieden außerdem nur vor dem Hintergrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie interpretieren: „Neben der Vermeidung von Covid-19-Todesfällen können die Maßnahmen auch dafür gesorgt haben, dass weniger Sterbefälle durch andere Infektionskrankheiten wie beispielsweise die Grippe verursacht werden, was sich ebenfalls auf die Differenz zum Durchschnitt auswirkt. Rückgänge oder Anstiege bei anderen Todesursachen können ebenfalls einen Effekt auf die gesamten Sterbefallzahlen haben.“
Deshalb sei es aus Sicht des Statistischen Bundesamtes nicht zulässig, die Gefahr von Covid-19 auf Basis dieser Daten herunterzuspielen. „Um die Gefährlichkeit einzuordnen, müssen noch andere Daten etwa aus medizinischen Studien oder Simulationsstudien herangezogen werden“, schreibt zur Nieden. „Derartige Rechnungen gehen beispielsweise von 370.000 bis 770.000 zusätzlichen Sterbefällen allein bis Anfang Mai in Deutschland aus, wenn keine Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eingesetzt worden wären und die Menschen ihr Verhalten nicht verändert hätten.“ Das zeige etwa eine Studie, die im Juni 2020 im Journal Nature veröffentlicht wurde.
Fazit
Das Statistische Bundesamt widerspricht den Aussagen von Samuel Eckert und nennt seine Berechnungen im Video „methodisch unzulässig“. Seine Behauptung, dass die Sterberate 2020 die zweitniedrigste in neun Jahren gewesen sei, stimmt laut Max-Planck-Institut nicht. Einem Sprecher des Statistischen Bundesamts zufolge bieten Eckerts Berechnungen keine Grundlage, um die Gefahr durch Covid-19 herunterzuspielen.
Sowohl das Statistische Bundesamt als auch das Max-Planck-Institut gehen derzeit von einer leichten Übersterblichkeit im Jahr 2020 aus, verursacht vor allem durch stark gestiegene Sterbefallzahlen während der beiden Corona-Wellen in Deutschland. Sie verweisen jedoch darauf, dass endgültige Zahlen für abschließende Berechnungen, die zum Beispiel die Bevölkerungsstruktur mit einbeziehen, noch nicht vorliegen.
Redigaturen: Alice Echtermann, Matthias Bau
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: