Nein, Kliniken erhalten keine nachträgliche „Provision“, wenn Covid-19 als Todesursache eingetragen wird
In dem Blog von Boris Reitschuster werden die Aussagen eines anonymen Arztes aus Bayern verbreitet. Er habe angeblich in einer Klinik Totenscheine fälschen und Covid-19 eintragen sollen, obwohl das nicht die Todesursache war. Es gibt keine Hinweise, dass diese Geschichte stimmt. Eine Corona-„Provision“, die Klinikärzte zu so etwas verleiten könnte, gibt es nicht.
„Herr Doktor fälscht die Totenscheine“, mit dieser Überschrift erschien am 13. Februar ein Artikel auf der Internetseite des Journalisten Boris Reitschuster. In dem Artikel wird der „Krankenhausarzt Dr. M.“ mit den Worten zitiert, er habe auf Anweisung seines Chefarztes beziehungsweise seiner Klinikleitung in Bayern Totenscheine „gefälscht“. Er habe sie nachträglich „auf Corona“ umgeschrieben, obwohl die Patienten „an Krebs, Herz- oder Kreislaufleiden“ gestorben seien. Kliniken würden rückwirkend pro Infektion eine „Provision per Totenschein“ von 40 bis 80 Euro erhalten, schreiben die Autoren Johanna und Frank Wahlig auf Reitschuster.de. Fünfmal habe „Dr. M.“ das angeblich getan, danach habe er den Dienst verweigert.
Der Blog-Artikel wurde seit Mitte Februar mehr als 14.000 Mal auf Facebook geteilt, wie das Analysetool Crowdtangle zeigt. Der Beitrag soll Zweifel wecken an der Statistik des Robert-Koch-Instituts (RKI) der gemeldeten Covid-19-Todesfälle in Deutschland. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass die Behauptungen stimmen.
CORRECTIV.Faktencheck hat bei den bayerischen Generalstaatsanwaltschaften in München, Bamberg und Nürnberg nachgefragt: Dort ist kein Fall bekannt, auf den die Beschreibung von „Dr. M.“ passt. Ein Arzt, der eine Todesbescheinigung aus Profitgier absichtlich falsch ausfüllt, könnte sich strafbar machen. Kliniken und Ärzte erhalten jedoch keine nachträgliche „Provision“, wenn auf dem Totenschein Covid-19 als Todesursache vermerkt ist. Diese Behauptung ist also falsch, und die Anekdote über „Dr. M.“ lässt sich nicht überprüfen, ist also unbelegt.
Es gibt keine Belege dafür, dass Ärzte oder Kliniken Totenscheine fälschen würden
Die Autoren schreiben unter Berufung auf den anonymen Arzt, dass nicht nur die Krankenhausärzte nachträglich Covid-Totenscheine ausstellen, sondern auch Hausärzte, Klinikleitungen und Gesundheitsämter sie dabei angeblich unterstützen würden, um die Infektionszahlen künstlich hochzuhalten.
Zuerst haben wir bei allen drei bayerischen Generalstaatsanwaltschaften nachgefragt, ob dort ein Fall vorliegt, wie ihn „Dr. M.“ beschreibt. Die Antwort: „Nein.“ Ein Sprecher aus Nürnberg bestätigte uns am Telefon, dass es in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen würde, wenn ein Arzt aus finanziellen Gründen Covid-19 als Todesursache einträgt, obwohl eine andere Todesursache vorlag. In so einem Fall würde wegen Betrugs ermittelt.
Auch der Bundesärztekammer und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) sind keine solchen Fälle bekannt, wie die Nachrichtenagentur DPA in einem Faktencheck schreibt.
Krankenhäuser erhalten eine Mehrkostenpauschale pro Covid-19-Patient, keine „Provision per Totenschein“
Doch was ist mit der angeblichen „Provision per Totenschein“? Es stimmt nicht, dass Kliniken rückwirkend 40 bis 80 Euro „für eine nachträglich erkannte Infektion“ erhalten. Eine „Provision“ gibt es nicht, und eine Abrechnung nachträglich diagnostizierter Erkrankungen wäre laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft nicht möglich.
Laut der DKG erhalten Krankenhäuser seit Januar 2021 eine Mehrkostenpauschale in Höhe von 80 Euro pro Patient, bei dem „im Zusammenhang mit der voll- oder teilstationären Behandlung“ eine Corona-Infektion nachgewiesen wurde. Das sind 40 Euro mehr als bei anderen Patienten (PDF, Seite 3). Wie uns ein Sprecher der DKG, Jörn Wegner, per E-Mail mitteilte, soll die Pauschale die erhöhte Kosten für Masken, Schutzkittel und weitere Schutzmaßnahmen abdecken.
Es sei nicht möglich, „post mortem“ erkannte Erkrankungen in die Abrechnung einfließen zu lassen, wie bei Reitschuster behauptet wird. „Selbst wenn es möglich wäre, die Pauschale post mortem in Anspruch zu nehmen, würden die zusätzlichen 40 Euro in keinem Verhältnis zum Aufwand und zu möglichen Einnahmeverlusten aufgrund von beispielsweise Personal-Quarantäne stehen“, schrieb uns der DKG-Sprecher. Denn wenn eine Infektion erkannt werde, müsse das Krankenhaus alle Kontaktpersonen identifizieren. Es hätte also „ausschließlich negative Folgen“, so Wegner.
Auch das Bundesministerium für Gesundheit bestätigte uns bereits für einen anderen Faktencheck zum gleichen Thema im Februar: „Eine wie auch immer geartete ‚Prämie‘ für die Diagnose bzw. die Todesfeststellung Covid-19 gibt es weder seitens des Bundes noch seitens der GKV [Gesetzlichen Krankenversicherung, Anm. d. Red.].“
Es ist korrekt, dass ältere Menschen oder Menschen mit zusätzlichen Vorerkrankungen wie zum Beispiel Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht oder Herz-Kreislauferkrankungen, ein höheres Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken. Allerdings bedeutet das nicht, dass Covid-19 in einem solchen Fall nicht die Todesursache sein kann.
Erst kürzlich, im Februar, hat die Charité Universitätsmedizin eine Studie im Journal Nature veröffentlicht, für die 26 Verstorbene mit Covid-19 obduziert wurden. Demzufolge waren fast alle Todesfälle auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen, nicht auf die Vorerkrankungen. Bereits Mitte Mai 2020 hatte eine Studie mit 80 Obduktionen von Covid-19-Patienten in Hamburg ganz ähnliche Ergebnisse geliefert.
Für die Behauptung, eine nennenswerte Anzahl infizierter Menschen sei gar nicht „an Corona“ gestorben, gibt es also keine Grundlage. Sie hält sich vermutlich vor allem aufgrund der Tatsache, dass nicht bei allen Patienten in Deutschland eine Obduktion durchgeführt wird.
Kurz erklärt: Leichenschau, Todesbescheinigung und Todesursache in Deutschland
Es hilft, wenn man versteht, wie eine Leichenschau abläuft. Verstirbt ein Patient, muss ein Arzt die ärztliche Leichenschau durchführen. Dabei beurteilt er anhand äußerer Zeichen, wann und woran die Person gestorben ist. Und er überprüft die Identität des Verstorbenen. Anders als bei einer Obduktion, die von Pathologen oder Rechtsmedizinern durchgeführt wird, wird die Leiche dabei nicht geöffnet. Nach der ärztlichen Leichenschau stellt der Arzt den Tod des Verstorbenen fest und dokumentiert alle wichtigen Informationen in einer Bescheinigung.
Wie so eine Bescheinigung aussieht, zeigt eine Vorlage zur Leichenschau der Bayerischen Landesärztekammer. Mit der Todesbescheinigung werden die Todesursachen an das Gesundheitsamt übermittelt. Es lassen sich mehrere Krankheiten eintragen: die Todesursache und weitere Krankheiten, die zum Zeitpunkt des Todes vorlagen.
Fallpauschalen beeinflussen die Vergütung, aber nicht nur bei Covid-19-Patienten
Auf Facebook ging die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) im Dezember 2020 auf die verbreiteten Gerüchte ein und nannte sie „Fake News“: „Ärzte und Kliniken bekommen nicht mehr Geld, wenn Sie Covid-19 als Todesursache angeben.“
Ärzte bekämen zwar Geld für die Leichenschau, aber unabhängig von der Todesursache. Die Höhe richtet sich nach den Leistungen, die sie dafür erbracht haben, und wird in der Gebührenordnung für Ärzte festgelegt (Absatz VII. Todesfeststellung).
Es sei lediglich im Frühjahr 2020 ein Code für die Erkrankung Covid-19 eingeführt worden, damit die Behandlung der Patienten einheitlich abgerechnet werden kann, erklärt die DKG weiter. „Das war nötig, weil im Gesundheitswesen alles codiert werden muss, und Covid-19 bis dato unbekannt war. Also ein ganz normaler Vorgang, wenn neue Krankheiten auftreten.“
Bei Covid-Patienten werde die Behandlung vergütet, wie bei anderen Patienten auch. „Die Höhe der Vergütung bestimmen vor allem die Behandlungen, die erforderlich sind – also zum Beispiel Beatmung, Medikation, Überwachung […] Abgerechnet wird über die bekannten Fallpauschalen (DRG).“ Die Todesursache spielt für die Berechnung der Fallpauschalen also keine Rolle.
Für das pauschalierende Vergütungssystem der Krankenhäuser in Deutschland ist die Inek-GmbH zuständig. Eine Sprecherin der Inek schrieb uns im Januar per E-Mail: Welche Vergütung Krankenhäuser für Fälle mit Covid-19 erhalten, könne nicht pauschal beantwortet werden, da es bei der Berechnung immer auf den konkreten Fall ankomme.
Bestatter erhalten mehr Geld für den Mehraufwand bei Corona-Toten
In dem Artikel auf Reitschuster.de wird außerdem behauptet, dass auch Hausärzte und Bestatter bei der angeblichen Manipulation von Totenscheine „unterstützen“ würden, und es wird suggeriert, sie würden ebenfalls davon profitieren. Inwiefern, wird nicht erklärt.
Der Bayerische Hausärzteverband widerspricht uns gegenüber auf Nachfrage; es seien keine Fälle bekannt. Der Bundesverband Deutscher Pathologen schrieb uns im Februar: „Über einen finanziellen oder sonstigen Anreiz, Covid-19 als (Haupt-)Todesursache anzuführen, ist uns nichts bekannt.“
Bestatter haben durch Covid-19 aufgrund strenger Regelungen erheblichen Mehraufwand, den sie in der Regel den Angehörigen in Rechnung stellen. Das teilte uns Elke Herrnberger vom Bundesverband Deutscher Bestatter (BDB) in einem Telefonat mit. „Etwa 80 bis 120 Euro“ fallen vor allem für den erhöhten Materialaufwand an, hinzu komme der Zeit- und Personalaufwand, so Herrnberger. Der BDB listet zudem Kosten für die Leichenschau und den Totenschein auf seiner Internetseite.
Dort wird auch erwähnt, dass der Totenschein durch den Arzt ausgestellt wird, der die Leichenschau vorgenommen hat – nicht durch den Bestatter. Deshalb ist unklar, inwiefern die Bestatter an der vermuteten Verschwörung gefälschter Totenscheine beteiligt sein sollen.
Weitere Behauptungen im Text führen in die Irre
Die Autoren des Textes auf Reitschuster.de stellen noch weitere Behauptungen auf, mit denen die Corona-Fallzahlen angezweifelt werden sollen.
Zum Beispiel schreiben sie, dass es 2020 keine „pandemiebedingte Übersterblichkeit“ gegeben habe. Und sie behaupten, dass die Grippe-Toten „ausgestorben“ seien, womit offenbar suggeriert werden soll, dass Todesfälle durch die Grippe als Corona-Tote gezählt werden.
Beide Behauptungen führen in die Irre: Abschließende Aussagen zur Übersterblichkeit lassen sich noch nicht treffen, da noch nicht alle Daten für 2020 vorliegen. Allerdings gehen Experten schon jetzt von einer leicht erhöhten Sterblichkeit für das ganze Jahr aus, die vor allem durch einen starken Anstieg am Jahresende – während der zweiten Welle der Pandemie – zustande kam. Wir haben darüber hier ausführlich berichtet.
Es stimmt zudem nicht, dass die Grippe „ausgestorben“ sei. Es gibt weiterhin Influenza-Fälle, wie wir ebenfalls berichtet haben. Das RKI bestätigte im Februar, dass bei den meisten Infektionskrankheiten ein drastischer Rückgang der übermittelten Fälle verzeichnet werde (PDF, Seite 2). Als Ursache werden die Maßnahmen gegen Covid-19 vermutet, die zur Reduktion der Übertragung beitragen.
Fazit
Die von den Autoren auf Reitschuster.de berichtete Geschichte von „Dr. M.“ ist unbelegt. Es gibt nach unseren Recherchen aber keine Hinweise darauf, dass Ärzte absichtlich Covid-19 statt der eigentlichen Erkrankung in Totenscheine eintragen. Krankenhäuser hätten davon mutmaßlich keine Vorteile, sondern eher Nachteile – und nachträglich wäre die Erstattung von Behandlungskosten nicht möglich. Eine Pauschale für Mehraufwand von 80 Euro erhalten Kliniken nur für die stationäre Behandlung von Patienten, bei denen eine Infektion festgestellt wird. Deshalb gibt es keine „Provision per Totenschein“.
Redigatur: Alice Echtermann, Steffen Kutzner
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Regeln zur Durchführung der ärztlichen Leichenschau, Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin: Link
- Vorlage einer Todesbescheinigung im Freistaat Bayern: Link
- Gebührenordnung für Ärzte und Zahnärzte: Link
- Hinweise zur Krankenhausfinanzierung vom Bundesgesundheitsministerium: Link