Doch, das RKI erfasst weiterhin Corona-Nachmeldungen, nur für die „Bundesnotbremse“ werden diese nicht berücksichtigt
Das Robert-Koch-Institut erfasse keine Nachmeldungen mehr und deshalb sinke die Inzidenz, behauptet eine Twitter-Nutzerin. Das ist irreführend. Das RKI erfasst nachgemeldete Corona-Fälle weiterhin. Diese werden für die im April eingeführte „Bundesnotbremse“ zwar nicht berücksichtigt – an der Berechnung der 7-Tage-Inzidenz hat sich dadurch aber nichts geändert.
„Das RKI erfasst nun keine Nachmeldungen mehr, unsere Inzidenz ist quasi schlagartig auf fast 100 gesunken. Deutschland wird über Nacht coronafrei“, schreibt eine Twitter-Nutzerin in einem Beitrag am 15. Mai, der mehr als 900 Mal geteilt wurde. Sie behauptet, die Pandemie sei durch diesen „Statistik-Foo“ beendet worden.
Dadurch entsteht offenbar bei einigen Menschen der Eindruck, an der statistischen Erfassung der Corona-Fallzahlen werde „gedreht“ oder das Ganze sei ein „Betrug“. Das geht aus mehreren Kommentaren unter dem Beitrag auf Twitter hervor, einer lautet: „Schönrechnen bis zur #BTW, die Gewinner dürfen aufräumen. Es ist so schäbig.“
Das stimmt so nicht, der Tweet ist irreführend. Nachmeldungen von Corona-Fällen werden vom Robert-Koch-Institut (RKI) weiterhin erfasst und auch am Meldeverfahren hat sich nichts geändert. Das gilt genauso für die Berechnung der 7-Tage-Inzidenz. Für die neu eingeführte Bundesnotbremse, die mit einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes am 23. April 2021 in Kraft getreten ist, werden Nachmeldungen bei der 7-Tage-Inzidenz allerdings nicht berücksichtigt.
In unserem Faktencheck erklären wir, was es damit auf sich hat und welche Auswirkungen die Nachmeldungen auf die Inzidenzwerte haben.
Zudem haben auch die veränderten Regelungen für die Bundesnotbremse Deutschland nicht „coronafrei“ werden lassen. Die Inzidenzwerte in Deutschland sind nicht „schlagartig“ gesunken, sondern sinken seit Wochen kontinuierlich.
Wie werden die Corona-Fälle und Nachmeldungen beim RKI erfasst?
Die beim RKI ausgewiesenen Corona-Fallzahlen basieren auf den Fällen, die den Gesundheitsämtern gemeldet wurden. Relevant für die Darstellung ist hier das Datum, „an dem das lokale Gesundheitsamt Kenntnis über den Fall erlangt und ihn elektronisch erfasst hat“, wie das RKI auf seiner Covid-19-Dashboard-Webseite erklärt.
Zwischen der Meldung durch Ärztinnen und Ärzte und Labore an das Gesundheitsamt und der Übermittlung dieser Fälle an die zuständigen Landesbehörden und das RKI können einige Tage vergehen. Die Rede ist von einem Meldeverzug oder Übermittlungsverzug.
Durch den Meldeverzug können die RKI-Daten der letzten Tage stets noch unvollständig sein. Sie füllen sich mit den Nachmeldungen in den kommenden Tagen auf. Deshalb kann sich auch die 7-Tage-Inzidenz noch nachträglich erhöhen.
Wie die 7-Tage-Inzidenz ermittelt wird
Die 7-Tage-Inzidenz bildet neu gemeldete Corona-Fälle pro 100.000 Einwohner in den vergangen sieben Tagen ab. Dieser Wert wird vom RKI berechnet. In den täglichen Lageberichten steht, dies geschehe auf Grundlage des Meldedatums, also des Datums, an dem ein Gesundheitsamt einen Fall elektronisch erfasst.
Durch den angesprochenen Übermittlungsverzug könne es zu einer Unterschätzung der 7-Tage-Inzidenz kommen, schreibt uns RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher in einer E-Mail. „Durch den Meldeverzug können sich die Angaben noch ändern, vor allem für den Vortag, daher sind die Inzidenzen beim RKI meist etwas niedriger als beim Gesundheitsamt, das die Fälle ja als erstes hat.“ Die nachträglich korrigierten Inzidenzwerte werden vom RKI in einer Exceldatei auf seiner Webseite erfasst.
Diese korrigierten Daten werden jedoch für die Bundesnotbremse nicht berücksichtigt.
Für die Notbremse-Regelung sind „eingefrorene“ Inzidenz-Werte maßgeblich
Die 7-Tage-Inzidenz bildet die Grundlage für das In- oder Außerkrafttreten der sogenannten „Notbremse“, die bundesweit im April eingeführt wurde. Sinkt in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die 7-Tag-Inzidenz an fünf aufeinanderfolgenden Tagen unter den Wert von 100, treten die Maßnahmen außer Kraft.
Neu ist an dieser Regelung, dass hierfür laut RKI nicht die 7-Tage-Inzidenz auf Basis des Meldedatums der Fälle beim Gesundheitsamt, sondern auf Basis des „Berichtsdatums“ herangezogen wird. Das ist der Tag, an dem die Fälle an das RKI übermittelt wurden. Nachmeldungen werden dafür also nicht berücksichtigt. Die Inzidenzwerte werden stattdessen am Berichtstag „eingefroren“.
Als Begründung für das „Einfrieren“ der Inzidenz-Werte schreibt uns RKI-Sprecherin Glasmacher, dies sei eine „politische Entscheidung“. Man wolle so sicherstellen, dass die Werte keinen Schwankungen unterliegen und sich die Betroffenen auf das In- beziehungsweise Außerkrafttreten von Maßnahmen im Rahmen der Bundesnotbremse einstellen könnten.
Hat sich das Verfahren der Nachmeldungen während der Corona-Pandemie verändert?
In dem Tweet suggeriert die Nutzerin, es habe sich etwas am Verfahren der Nachmeldungen geändert. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums verneint das in einer E-Mail an uns. Das Verfahren der Nachmeldung von Corona-Fällen sei während der Pandemie nicht verändert worden.
Auch die RKI-Sprecherin schreibt uns, dass sich am Meldeweg und der Inzidenzberechnung seit Beginn der Pandemie nichts geändert habe. „Die ‘eingefrorenen’ Inzidenzwerte gibt es seit Pandemiebeginn, eine formale Bedeutung haben sie seit Inkrafttreten der Bundesnotbremse.“
Die einzige Änderung bezüglich der Meldungen betreffe die Darstellung der 7-Tage-Inzidenzen in den täglichen Lageberichten: „Auf Landes- und Bundesebene enthielten die täglichen Lageberichte bis etwa Anfang des Jahres 2021 die eingefroren 7-Tage-Inzidenzen, dann wurde umgestellt auf die rückwirkend aktualisierten Werte (etwa eine Woche gab es parallel beide Varianten)“, erklärt Glasmacher.
An der Art der Erfassung und Berechnung der Inzidenzwerte hat sich folglich in den vergangenen Monaten nichts geändert. Deshalb stimmt es auch nicht, dass die Inzidenz durch eine Änderung der statistischen Methode „schlagartig“ gesunken ist.
Betrachtet man die Entwicklung der bundesweiten Corona-Fallzahlen, zeigt sich ein kontinuierliches Sinken der Inzidenzwerte in den vergangenen Wochen. Auch rund um den 23. April, als die Bundesnotbremse in Kraft trat, gab es auf Landesebene kein plötzliches Sinken der Inzidenzen, wie zum Beispiel im Lagebericht des RKI vom 20. Mai zu sehen ist.
Kritik am „Einfrieren“ der Inzidenz-Werte
Die Twitter-Nutzerin hat ihren missverständlichen ersten Tweet später selbst mit Kommentaren erläutert. So schreibt sie unter anderem: Die Nachmeldungen seien „nicht maßgeblich für die Inzidenz bzw. die Notbremse“, sondern „nur das was tagesaktuell für den jeweiligen Tag gemeldet wird“. Somit hätten die Nachmeldungen keinen Einfluss auf die Entscheidungen mehr. Das stimmt.
Sie greift damit Kritik auf, die im Mai auch in Medienberichten laut wurde: dass das „Einfrieren“ der Werte die 7-Tage-Inzidenz verzerre. So könne es in einigen Kommunen und Landkreisen zu vorzeitigen Lockerungen kommen, wenn ein Inzidenzwert von unter 100 an fünf Tagen in Folge tatsächlich mit Berücksichtigung der Nachmeldungen noch gar nicht erreicht wäre.
Der BR hat nach eigenen Angaben im Mai 2021 RKI-Zahlen analysiert und festgestellt, dass es deutschlandweit zu unterschiedlich starken Abweichungen bei den Nachmeldungen komme. In einigen Landkreisen liege die Abweichung bei 20 Prozent, in anderen gebe es kaum Nachmeldungen.
Eine Ministeriumssprecherin aus Sachsen-Anhalt sagte laut Tagesschau.de im Zuge dieser Recherche, dass das RKI wiederholt gebeten worden sei, „in die Berechnung seiner 7-Tage-Inzidenz die sieben beendeten Vortage einfließen zu lassen und nicht den jeweils aktuellen Tag. Dadurch wären auch die eingefrorenen RKI-Inzidenzen näher am tatsächlichen Geschehen und aus fachlicher Sicht eine gute Basis für Maßnahmen der bundeseinheitlichen Notbremse.“
Laut Tagesschau.de sagte zudem der FDP-Bundestagsabgeordnete Andrew Ullmann dazu: „Ich halte das für sehr schwierig, wie hier mit Zahlen umgegangen wird, denn das spiegelt wirklich nicht die Dynamik der Pandemie wider und erzeugt sehr schnell Ungerechtigkeiten zwischen den Landkreisen und zwischen den Bundesländern.“
Fazit: Der Tweet ist missverständlich. Das RKI erfasst weiterhin Nachmeldungen von Corona-Fällen. Die Nachmeldungen werden allerdings tatsächlich für die im April neu eingeführte Bundesnotbremse nicht berücksichtigt. Daran gibt es Kritik. An der Erfassungsmethode der Corona-Fälle und der grundsätzlichen Berechnung der 7-Tage-Inzidenz hat sich dadurch aber nichts geändert.
Redigatur: Sarah Thust, Alice Echtermann
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Hinweise des Bundesgesundheitsministeriums zum 4. Bevölkerungsschutzgesetz und der Bundesnotbremse: Link
- Hinweise der Bundesregierung zur Bundesnotbremse: Link
- Das Covid-19-Dashboard des Robert-Koch-Instituts: Link
- Daten des RKI zu 7-Tage-Inzidenzen nach Bundesländern und Kreisen (gemäß „Bundesnotbremse“) sowie Gesamtübersicht der pro Tag ans RKI übermittelten Fälle und Todesfälle, Stand: 27.5.2021: Link (archiviert)
- Daten des RKI: Rückwirkende Betrachtung der 7-Tage-Fallzahlen und -Inzidenzen nach Kreisen inklusive nachübermittelte Fälle: Link