Faktencheck

Nein, ein Fachartikel beweist nicht, dass Auffrischungsimpfungen das Krebswachstum beschleunigen

In Sozialen Netzwerken kursieren Beiträge mit Überschriften wie: „Jetzt bewiesen: Die Booster-Impfung, die den Krebs boostert“. Sie greifen einen wissenschaftlichen Fallbericht auf, aus dem sich diese Schlussfolgerung aber nicht ziehen lässt. Der Bericht stellt einen Einzelfall dar, der eine spezielle Krebsart betrifft.

von Matthias Bau

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Bei einer Krebserkrankungen wird den Betroffenen häufig eine Chemotherapie verschrieben (Symbolbild: Picture Alliance / Frank May)
Behauptung
Der Fallbericht eines 66-jährigen Mannes beweise, dass Auffrischungsimpfungen das Krebswachstum beschleunigen würden. Man könne auch spekulieren, ob die Impfung den Krebs ausgelöst habe.
Bewertung
Unbelegt. Der Fachartikel beschreibt einen einzigen Fall, in dem eine Vermehrung von Lymphknotenschwellungen nach einer mRNA-Impfung beobachtet wurde. Bei einer Untersuchung wurde in einem dieser Lymphknoten eine seltene Krebsart festgestellt. Der Betroffene ist selbst Immunologe und sagt, der Krebs sei höchstwahrscheinlich schon vor der Impfung vorhanden gewesen. Es sei eine Hypothese, dass die Auffrischungsimpfung das Krebswachstum dann beschleunigt haben könnte, belegt sei das aber nicht.

Auf Facebook (hier und hier) und Telegram (hier) wird eine Abbildung aus einem wissenschaftlichen Artikel mit der Behauptung verbreitet: „Jetzt bewiesen: Die Booster-Impfung ‘boostert’ den Krebs“. Die Behauptung kursiert bereits seit Ende Dezember in Sozialen Netzwerken und bezieht sich auf den Fall eines 66-jährigen Mannes. 

Dieser wissenschaftliche Artikel erschien am 25. November auf der Webseite der Fachzeitschrift Frontiers in Medicine: Pathology mit dem Titel: „Schnelles Wachstum eines angioimmunblastischen T-Zell-Lymphoms nach mRNA-Boosterimpfung mit BNT162b2: Ein Fallbericht“. Unser Faktencheck ergab: Der Fallbericht beweist nicht, dass Auffrischungsimpfungen das Krebswachstum beschleunigen. Er stellt einen einzelnen Fall dar, bei dem nach einer Covid-19-Impfung die Vermehrung von Lymphknotenschwellungen beobachtet wurde. Eine Untersuchung eines dieser Lymphknoten zeigte, dass sich darin tatsächlich Krebs befand. 

CORRECTIV.Faktencheck hat mit dem Mann, dessen Fall in dem Artikel geschildert wird, gesprochen. Er ist selbst Wissenschaftler und einer der Autoren des Textes. Er erklärte, es sei lediglich eine Hypothese, dass mRNA-Impfungen möglicherweise bestimmte seltene Arten von Krebs in ihrem Wachstum beschleunigen könnten. Dies müsse weiter erforscht werden. Die Krebserkrankung habe mit hoher Wahrscheinlichkeit schon vor der Impfung bestanden.

Deutsche Fachgesellschaften empfehlen den meisten Krebspatientinnen und -patienten, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, da sie ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben. 

Auf Facebook und Telegram wird diese Abbildung aus einem Fachartikel zusammen mit der Behauptung verbreitet, Auffrischungsimpfungen würden das Krebswachstum beschleunigen oder sogar Krebs verursachen. Die dunklen Punkte auf dem Bild zeigen jedoch nicht alle Tumore, sondern größtenteils geschwollene Lymphknoten, ob sie auch Krebs enthalten, wurde nicht untersucht.
Auf Facebook und Telegram wird diese Abbildung aus einem Fachartikel zusammen mit der Behauptung verbreitet, Auffrischungsimpfungen würden das Krebswachstum beschleunigen oder sogar Krebs verursachen. Die dunklen Punkte auf dem Bild zeigen jedoch nicht alle Tumore, sondern größtenteils geschwollene Lymphknoten, ob sie auch Krebs enthalten, wurde nicht untersucht. (Quelle: Facebook / Screenshot vom 20. Januar und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Einzelfall lässt keine allgemeinen Schlussfolgerungen zu Krebswachstum und Covid-19-Impfungen zu

In dem wissenschaftlichen Bericht wird der Fall des 66 Jahre alten Michel Goldman geschildert, ein belgischer Immunologe. Bei ihm wurde eine Schwellung der Lymphknoten festgestellt – sogenannte Lymphome. Wie das Deutsche Krebsforschungszentrum erklärt, sind Lymphome „in der Regel bösartige Tumore“, auch Lymphdrüsenkrebs genannt. 

In dem Artikel heißt es, Goldman habe zwei Impfungen mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer erhalten, die außer einem Schwächegefühl keine weiteren Beschwerden verursacht hätten. Knapp ein halbes Jahr nach der Impfung habe er einen Arzt aufgesucht, weil seine Lymphknoten geschwollen waren. Eine Untersuchung habe ergeben, dass die Ursache für die Schwellung eine spezielle Krebserkrankung ist, die die Lymphknoten, die Milz oder die Mandeln betreffe („​​AITL“). Unter anderem kamen bei der Untersuchung bildgebende Verfahren zum Einsatz, eine sogenannte „Positronen-Emissionstomographie“.

Vierzehn Tage nach diesen Untersuchungen bekam er eine Auffrischungsimpfung. Diese habe dazu geführt, dass Goldman eine deutliche Schwellung eines Lymphknotens wahrgenommen habe. Daraufhin wurde eine weitere bildgebende Untersuchung durchgeführt. Die Bilder dieser zweiten Untersuchung wurden in dem Artikel veröffentlicht und in den Beiträgen in Sozialen Netzwerken aufgegriffen. Laut dem Artikel zeigen die Aufnahmen eine „deutliche Zunahme der Anzahl, Größe und Stoffwechselaktivität der bereits existierenden geschwollenen Lymphknoten“ acht Tage nach der Auffrischungsimpfung. Außerdem seien im Vergleich zu der ersten Untersuchung etwa drei Wochen zuvor weitere Veränderungen des lymphatischen Systems aufgetreten.

Die Autorinnen und Autoren schreiben jedoch in dem Fallbericht, es seien weitere Studien erforderlich, um festzustellen, ob von diesem Fall auf andere Patientinnen und Patienten mit ähnlichen Lymphomen geschlossen werden könne. 

Forscher: Krebserkrankung bestand mit „99-prozentiger Wahrscheinlichkeit“ schon vor der Impfung

Wir haben Michael Goldman per E-Mail kontaktiert und am 11. Januar ein Video-Interview mit ihm geführt. Auf unsere Frage, ob der Artikel zeige, dass mRNA-Impfungen zu Krebswachstum führen würden, antwortete er: „Nein. Der Artikel liefert lediglich Hinweise [suggestive evidence] darauf, dass die Verabreichung eines mRNA-Impfstoffs die Entwicklung eines bereits bestehenden Lymphoms beschleunigen könnte.“ Für diese These gebe es verschiedene Hinweise, zum Beispiel, dass sich die Tumorentwicklung in der Nähe der Einstichstelle stärker beschleunigt habe als an anderen Stellen des Körpers. Auch die besonders schnelle Entwicklung im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung sei auffällig. 

Goldman betonte jedoch, dass der Artikel nicht beweise, dass dieser Zusammenhang zweifelsfrei besteht. Es müssten weitere Studien durchgeführt werden, um die These zu überprüfen. Klar sei, dass für das Entstehen dieser Krebsart eine Genmutation verantwortlich sei, die bei ihm bereits vor der Gabe eines Impfstoffes vorgelegen habe, so der Immunologe. In seinem Fall sei der Lymphknotenkrebs mit „99-prozentiger Wahrscheinlichkeit“ vor der Impfung vorhanden gewesen.

Er erklärte uns auch, was die Abbildung in dem Artikel, die sich in den Sozialen Netzwerken verbreitet, genau zeigt: „Die Abbildung zeigt mehrere geschwollene Lymphknoten. Die Biopsie [Anm. d. Red.: Entnahme und Untersuchung einer Gewebeprobe] eines dieser Lymphknoten hat gezeigt, dass sich darin Krebs befand.“ Da nicht alle Lymphknoten untersucht worden seien, ließe sich zwar nur mutmaßen, dass diese ebenfalls Krebszellen enthielten, er halte das jedoch für wahrscheinlich, so Goldman. Nicht alle dunklen Punkte auf der Abbildung zeigen jedoch zwangsläufig Tumore.

Goldman: Weder Abbildung noch Artikel beweisen, dass Impfungen Krebs beschleunigen oder auslösen

Der Artikel zeige keineswegs, dass mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 nicht mehr eingesetzt werden sollten, erklärte uns Goldman: „Diese Komplikation ist extrem selten, Impfungen hingegen sind sehr wichtig, um stark gefährdete Menschen gegen einen schweren Verlauf von Covid-19 zu schützen.“ 

Ihm sei bewusst gewesen, dass der Artikel möglicherweise von Impfgegnern aufgegriffen werden würde. Es sei jedoch wichtig gewesen, seinen Fall neben anderen bereits bekannten Fällen von Krebswachstum nach Impfungen zu publizieren und so die Erforschung der Nebenwirkung von mRNA-Impfstoffen weiter voranzubringen. „Ich werde nicht akzeptieren, dass Impfgegner den Artikel aufgreifen, um ihre Thesen zu verbreiten oder ihre Bewegung voranzutreiben“, sagte uns der Immunologe.

Fachgesellschaften empfehlen die Covid-19-Impfung für Krebspatienten und -patientinnen

Die „Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie“ (DGHO) empfahl am 25. Mai 2021, Menschen mit Krebs vorrangig zu impfen, da es Hinweise darauf gebe, dass diese schwerer an Covid-19 erkrankten. Diese Empfehlung wiederholte die DGHO am 12. September sowie am 14. Dezember und empfahl für bestimmte Patientengruppen Auffrischungsimpfungen. 

Eine ähnliche Empfehlung sprach auch das Deutsche Krebsforschungszentrum aus, zuletzt am 17. Januar 2022. Es gebe „keine krebsspezifischen Gründe, die gegen eine Corona-Impfung“ sprechen. Außerdem gebe es keine Hinweise „auf eine höhere Rate von Nebenwirkungen bei Krebskranken nach der Corona-Schutzimpfung im Vergleich zu Menschen, die nicht an Krebs erkrankt sind“. 

Fazit: Aus dem Fallbericht werden in Sozialen Netzwerken falsche Schlussfolgerungen gezogen. Er belegt nicht, dass Auffrischungsimpfungen generell dazu führen, dass sich eine bestehende Krebserkrankung verschlimmert. Er zeigt auch nicht, dass Krebserkrankungen durch Impfungen gegen Covid-19 ausgelöst werden. Der Artikel berichtet von einem einzigen Fall, in diesem Fall liegt laut den Forschenden die Vermutung nahe, dass die Erkrankung bereits vor der Impfung bestand und eine Auffrischungsimpfung zu einer Verschlechterung geführt haben könnte. 

Redigatur: Steffen Kutzner, Sarah Thust

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Artikel in der Fachzeitschrift Frontiers in Medicine: Pathology „Rapid Progression of Angioimmunoblastic T Cell Lymphoma Following BNT162b2 mRNA Vaccine Booster Shot: A Case Report“: Link
  • Informationsseite des Deutschen KRebsforschungszentrums „Lymphome“: Link
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