Faktencheck

Doch, die russischen Angriffe bedrohen auch ukrainische Zivilisten und Städte

Über staatlich kontrollierte Medien verbreitet das russische Verteidigungsministerium, die Angriffe Russlands auf die Ukraine würden sich nicht gegen Städte richten, ukrainische Zivilisten seien nicht in Gefahr. Doch mehrere Berichte widerlegen diese Behauptungen.

von Alice Echtermann , Uschi Jonas

Die Hauptstadt Kiew am Morgen nach dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine (Foto: Picture Alliance / Associated Press / Emilio Morenatti)
Die Hauptstadt Kiew am Morgen nach dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine (Foto: Picture Alliance / Associated Press / Emilio Morenatti)
Behauptung
Es gebe keine Raketen-, Luft- oder Artillerieangriffe auf ukrainische Städte, Zivilisten seien nicht durch die russischen Angriffe gefährdet.
Bewertung
Falsch. Videos, Fotos sowie Berichte von Nachrichtenagenturen belegen, dass ukrainische Städte attackiert werden und es zivile Opfer gibt.

Triggerwarnung: In diesem Beitrag wird Videomaterial verlinkt, das die Folgen drastischer Gewalt zeigt. Wir zeigen hier lediglich Ausschnitte als Screenshots und verlinken die Originale in archivierter Form als Belege.    

Das staatlich kontrollierte russische Medium RT DE berichtet am Morgen des 24. Februar, das russische Verteidigungsministerium habe betont, die Streitkräfte führten einen „Sondereinsatz zur Befriedung und Entmilitarisierung der Ukraine“ durch. In diesem Rahmen gebe es „keine Raketen-, Luft- oder Artillerieangriffe auf ukrainische Städte“. In Berufung auf das russische Verteidigungsministerium heißt es: „Zivilisten seien nicht in Gefahr.“ Das berichtete auch die russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti.

Dem widersprechen mehrere Meldungen über Explosionen und Angriffe in ukrainischen Städten. Diese lassen sich mit Foto- und Videomaterial belegen.

Ukraine: Nachrichtenagenturen berichten von Explosionen und zivilen Opfern in mehreren Städten

Es gibt Berichte über Raketenangriffe auf die Hauptstadt Kiew, aber auch auf andere Städte wie Charkiw (in englischen Berichten auch: Kharkiv), Dnipro, Berdjansk und Kramatorsk. Das schreibt der Spiegel unter Berufung auf die ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform. Die Nachrichtenagentur AFP veröffentlichte am Mittag des 24. Februar eine Karte mit Städten, aus denen Explosionen gemeldet wurden:

Diese Karte der Nachrichtenagentur AFP vom 24. Februar zeigt, aus welchen ukrainischen Städten Explosionen gemeldet wurden (Quelle: Twitter; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Diese Karte der Nachrichtenagentur AFP vom 24. Februar zeigt, aus welchen ukrainischen Städten Explosionen gemeldet wurden (Quelle: Twitter; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Angriff auf Wohnblock in einer kleineren Stadt in der Oblast Charkiw

Ein konkreter Beleg dafür, dass auch zivile Infrastruktur und Wohngebiete durch die russischen Attacken bedroht sind, sind Bilder von einem Wohnhaus nach einem Raketenangriff in der ostukrainischen Stadt Tschuhujiw (englische Berichte schreiben den Namen Chuhuiv oder Chuguiv). Die Stadt liegt in der Oblast Charkiw. Als „Oblast“ wird in osteuropäischen Staaten ein größeres Verwaltungsgebiet bezeichnet. 

Die Bilder wurden zum Beispiel von der AFP oder Al Jazeera veröffentlicht. Dabei gab es Berichten zufolge mindestens ein Todesopfer und mehrere Verletzte. Das Recherchenetzwerk Bellingcat hat verifiziert, dass das getroffene Wohnhaus in Tschuhujiw in der Nähe eines Flughafens liegt, der vielleicht das eigentliche Ziel des Angriffs war.

Bilder, die die AFP im Zusammenhang mit einem Raketenangriff auf ein Wohnhaus in der Stadt Tschuhujiw am Morgen des 24. Februar 2022 veröffentlichte (Quelle: Twitter; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Bilder, die die AFP im Zusammenhang mit einem Raketenangriff auf ein Wohnhaus in der Stadt Tschuhujiw am Morgen des 24. Februar 2022 veröffentlichte (Quelle: Twitter; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Mehrere Medien berichteten bereits am Morgen, dass die ukrainische Regierung neben 40 getöteten Soldaten von rund zehn getöteten Zivilisten spreche.

Die russische Regierung bezeichnet die Meldungen über zivile Opfer am Donnerstagmittag als Fälschungen, wie der Spiegel berichtete. Belege dafür liefert Russland nicht. Das russische Verteidigungsministerium beharrt darauf, dass lediglich Angriffe gegen militärische Ziele ausgeführt würden. 

Auch in einem deutschsprachigen Telegram-Kanal wird suggeriert, es habe gar keinen Angriff auf das Wohnhaus gegeben; die Bilder des kaputten Hauses stammten angeblich von einer „Gasexplosion 2018“. Wir konnten dafür keine Belege finden. Der Screenshot, der auf Telegram als angeblicher Beleg hierfür benutzt wird, ist ebenfalls ein aktueller Bericht über den Raketenangriff. 

Video zeigt Einschlag in der ukrainischen Stadt Uman – eine Person auf einem Fahrrad starb

Am Donnerstagmorgen gehen zudem Videos in Sozialen Netzwerken viral, die den Einschlag eines militärischen Geschosses in einer Straße in der ukrainischen Stadt Uman zeigen. Diese Stadt liegt ungefähr im Zentrum der Ukraine, in der Oblast Tscherkassy

Eine Person auf einem Fahrrad wurde dabei offenbar getötet. Eine Aufnahme, die von einer Überwachungskamera stammt und den Zeitstempel 24. Februar 2022 trägt, zeigt die Explosion. Eine Handy-Aufnahme, die offenbar wenig später von einer Person vor Ort gemacht wurde, zeigt einen Krater in der Straße und die am Boden liegende Person mit dem Fahrrad, die mit einem Tuch bedeckt wurde.

Videoaufnahme der Überwachungskamera kurz vor dem Einschlag. Die Person auf dem Fahrrad ist am oberen Bildrand mittig zu sehen und trägt eine grüne Hose. (Quelle: Twitter / Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Videoaufnahme der Überwachungskamera kurz vor dem Einschlag. Die Person auf dem Fahrrad ist am oberen Bildrand mittig zu sehen und trägt eine grüne Hose. (Quelle: Twitter / Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Dass das Video der Überwachungskamera denselben Ort zeigt wie die andere Aufnahme, lässt sich durch das beim Einschlag beschädigte silberne Auto bestätigen. Zudem trägt die Person in beiden Aufnahmen die gleiche Kleidung, eine grüne Hose und weiße Schuhe.

Die Aufnahme der Überwachungskamera nach dem Einschlag – das silberne Auto (rot markiert) ist beschädigt (Quelle: Twitter; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Die Aufnahme der Überwachungskamera nach dem Einschlag – das silberne Auto (rot markiert) ist beschädigt (Quelle: Twitter; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Der Ort des Einschlags kann wiederum anhand der Häuser in der Straße verifiziert werden. Zu sehen sind unter anderem ein orange-rot gestrichenes Gebäude und ein braunes Gebäude mit rötlichem Sockel.

Die Collage zeigt verschiedene Ausschnitte eines Handy-Videos, das eine Person vor Ort nach dem Einschlag in Uman gefilmt hat. Rot markiert ist das beschädigte Auto. (Quelle: Twitter; Screenshots und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)
Die Collage zeigt verschiedene Ausschnitte eines Handy-Videos, das eine Person vor Ort nach dem Einschlag in Uman gefilmt hat. Rot markiert ist das beschädigte Auto. (Quelle: Twitter; Screenshots und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)

Das britische Recherchezentrum Centre for Information Resilience hat den exakten Ort bereits bestimmt und auf Twitter veröffentlicht. Wir haben diese Recherche nachvollzogen und zunächst die Aufnahmen aus den Videos mit dem Aussehen der Straße in Google Streetview verglichen. Die Streetview-Aufnahmen wurden im Juni 2015 gemacht, dennoch stimmen die Ortsmerkmale mit denen in den Videos überein.  

Das rote Haus in der Straße in Uman, Ukraine (Quelle: Archivbild von Google Streetview 2015; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Das rote Haus in der Straße in Uman, Ukraine (Quelle: Archivbild von Google Streetview 2015; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Das braune Gebäude mit rötlichem Sockel in Uman, Ukraine (Quelle: Archivbild von Google Streetview 2015; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Das braune Gebäude mit rötlichem Sockel in Uman, Ukraine (Quelle: Archivbild von Google Streetview 2015; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Die ukrainische Webseite Pravda berichtet, bei dem Beschuss des Stadtzentrums von Uman sei „ein Zivilist“ gestorben, fünf Personen seien verletzt worden. Die Evakuierung habe begonnen. Als Quelle dient ein Facebook-Beitrag von Oleksandr Skichko, dem Leiter der Oblast Tscherkassy. Dieser wurde am 24. Februar um 9:23 Uhr veröffentlicht und enthält konkrete Informationen für Anwohner zur Evakuierung. 

Unter dem ersten Facebook-Beitrag von Skichko kommentierte ein Nutzer das Video der Überwachungskamera. In dieser Version ist der Zeitstempel vollständiger zu sehen: neben dem Datum (2022 02 24) steht 7:02:2, der Rest ist abgeschnitten. Es handelt sich vermutlich um die Uhrzeit, denn aus der „2“ am rechten Bildrand wird im Laufe des Videos erst eine „3“ und dann eine „4“. Dass es um diese Uhrzeit in Uman bereits hell genug für die Aufnahme war, ist plausibel; der Sonnenaufgang in Kiew fand an diesem Tag um kurz vor 7 Uhr statt.    

Redigatur: Steffen Kutzner, Matthias Bau

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