Polen: Es gibt keine Hinweise, dass ukrainische Flüchtlinge einen Mann erstochen haben
Auf Telegram und Facebook kursiert ein Video, das angeblich zeigt, wie ukrainische Geflüchtete einen Mann in Warschau attackieren. Das Video zeigt tatsächlich einen Vorfall, der tödlich endete – Hinweise darauf, dass die Täter Ukrainer waren, gibt es jedoch nicht.
Triggerwarnung: In diesem Beitrag wird Material verlinkt, das die Folgen von Gewalt zeigt.
Am 13. Mai verbreitete der für Desinformation bekannte Kanal „Neues aus Russland“ auf Telegram ein Video, das mehrere Männer zeigt, die einen anderen Mann attackieren. Die Behauptung des Beitrags, der fast 70.000 Mal gesehen wurde: In Warschau hätten Flüchtlinge aus der Ukraine️ einen Polen „zu Tode gestochen“. Der Mann habe sich zuvor für ein Mädchen eingesetzt, das angeblich von mehreren betrunkenen Ukrainern belästigt worden sei. Das Video zirkuliert außerdem auf Facebook und wurde von mehreren russischen Webseiten mit derselben Geschichte verbreitet.
Der Vorfall soll sich am 8. Mai in den frühen Morgenstunden in Warschau ereignet haben. Tatsächlich gab es an diesem Tag einen tödlichen Angriff auf einen Mann. Hinweise, dass Ukrainer daran beteiligt waren, gibt es laut der Warschauer Staatsanwaltschaft jedoch nicht.
Tödlicher Vorfall ereignete sich am 8. Mai in der Nowy-Straße in Warschau
In dem in den Beiträgen geteilten Video sind mehrere Männer zu sehen, die einen anderen Mann attackieren. Als mehr Menschen dazu kommen, laufen zwei der Angreifer weg. Ein dritter Mann tritt weiter auf das Opfer ein und reißt es in einem Hauseingang zu Boden, ehe er sich vom Tatort entfernt. Dann folgt eine andere Videosequenz, in der das stark blutende Opfer in einem Laden zu sehen ist, dort wird der auf dem Boden liegende Verletzte versorgt.
Der im Hauseingang zu Boden gerissene Mann und der blutende Mann im Laden haben ähnliche Schuhe und eine Glatze. Mutmaßlich handelt es sich um dieselbe Person.
Die Beiträge, in denen das Video verbreitet wird, verweisen als Quelle auf einen englischsprachigen Artikel einer Webseite namens Polish News, der das Foto eines mutmaßlich Beteiligten zeigt. Im Artikel gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass der Mann Ukrainer ist. Berichtet wird von einem „Mord“, der sich am 8. Mai in Warschau in der Nowy-Straße 28 abgespielt habe. Wir fanden weitere polnische Medienberichte über den Vorfall. Ein verletzter Mann hat demnach nachts in einem Spirituosenladen Hilfe gesucht und sei später seinen Verletzungen erlegen. Zuvor soll es eine Schlägerei gegeben haben.
Bei den im Video gezeigten Szenen handelt es sich um diese Schlägerei. Ein Abgleich des Videos mit Aufnahmen von Google Streetview bestätigt, dass es in der Nowy-Straße 28 in Warschau aufgenommen wurde. Gut zu erkennen sind der Hauseingang, in dem der Mann zu Boden gerissen wurde, und die Hausnummer 28. Daneben befindet sich ein Geschäft mit einem roten Schild und dunklen Buchstaben, welches auch auf Bildern in Medienberichten gut zu sehen ist.
Der Laden, in dem der Verletzte später versorgt wurde, hat ein rotes Schild mit weißen Buchstaben. In der Nowy-Straße, unweit des mutmaßlichen Tatorts mit dem Hauseingang, befindet sich ein Spirituosenladen mit solchen Merkmalen, wie ebenfalls auf Google Streetview zu erkennen ist. Weiter unterhalb an der Straße befindet sich ein großes Bankgebäude – auch dieses ist in dem Video gut zu erkennen.
Polens Justizminister: Bislang keine Hinweise, dass Ausländer an der Tat beteiligt waren – zwei polnische Tatverdächtige ermittelt
Auch in Polen kursierten nach dem Vorfall Gerüchte, dass Ukrainer für die Tat verantwortlich gewesen sein sollen. Grund dafür sei laut Medienberichten, dass ein Zeuge, der die Tat filmte, Ukrainisch sprach.
Am 12. Mai veröffentlichte die polnische Polizei Fotos eines Tatverdächtigen. Ein polnisches Medium berichtete, der Mann sei Pole.
Die Staatsanwaltschaft übernahm den Fall. Am 14. Mai sprach Polens Justizminister Zbigniew Ziobro in einem Interview mit einem polnischen Radiosender über den vorläufigen Ermittlungsstand. Auf der Webseite des Senders wird er so zitiert: „Alle bislang vorliegenden Informationen deuten darauf hin, dass die Täter keine Ausländer waren.“ Diese Situation könne sich natürlich noch ändern, da das Verfahren weiter andauere.
Am 20. Mai gab Ziobro auf Twitter bekannt, Ermittler hätten die Identität von zwei Verdächtigen festgestellt, gegen sie sei ein vorläufiger Haftbefehl erlassen worden. Zudem schrieb er, die Warschauer Staatsanwaltschaft habe am 17. Mai beim Bezirksgericht Warschau-Mokotów die Verhängung einer vorläufigen Haft gegen die Tatverdächtigen beantragt. Wie uns die Sprecherin der Bezirksstaatsanwaltschaft in Warschau, Aleksandra Skrzyniarz, am 24. Mai auf Anfrage bestätigte, sind die beiden Tatverdächtigen polnisch.
Eine Sprecherin der Bezirksstaatsanwaltschaft Warschau bestätigte der DPA am 17. Mai: „Aus dem uns vorliegenden Material geht nicht hervor, dass an der Tat Ausländer beteiligt waren.“
Seit Beginn des Russland-Ukraine-Krieges gab es in Deutschland mehrere Falschmeldungen über angebliche Morde durch ukrainische Geflüchtete.
Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine finden Sie hier.
Redigatur: Steffen Kutzner, Alice Echtermann
Update, 24. Mai 2022: Wir haben den Text mit der Antwort von der Bezirksstaatsanwaltschaft in Warschau ergänzt.