Neuseeland: Nein, Schwangerschaftsabbrüche können nicht aus beliebigen Gründen bis zur Geburt durchgeführt werden
Eine Gesetzesänderung des neuseeländischen Abtreibungsrechts aus dem Jahr 2020 wird online aufgegriffen, um zu behaupten, das Land erlaube Abtreibungen aus beliebigen Gründen bis zur Geburt. Das ist falsch. Schwangerschaftsabbrüche nach der 20. Woche bedürfen mehrerer Voraussetzungen.
Auf seinem Telegramm-Kanal „Alles außer Mainstream“ teilte Bodo Schiffmann am 28. Juli ein Video, das er mit der Aussage kommentierte, Neuseeland habe das radikalste Abtreibungsgesetz der Welt erlassen. Das Gesetz habe zur Folge, dass Säuglinge bis zur Geburt oder währenddessen „aus jedem beliebigen Grund“ getötet werden könnten und für Abtreibungen kein Arzt oder keine Ärztin mehr nötig sei. In dem Video ist Schiffmann zu sehen, der ein englischsprachiges Video übersetzt, in dem gleichlautende Behauptungen aufgestellt werden. Bisher (Stand: 17. August) sahen mehr als 261.000 Menschen den Beitrag.
Unsere Recherche zeigt: Das Video, das Schiffmann übersetzt, stammt aus dem Jahr 2020. Die darin aufgestellten Behauptungen sind größtenteils falsch. In Neuseeland kann nicht jederzeit grundlos abgetrieben werden. Nach der 20. Schwangerschaftswoche ist ein Abbruch nur möglich, wenn der Abbruch als klinisch angemessen bewertet wird. Der Wunsch nach einem anderen Geschlecht des Kindes oder eine Behinderung des Kindes rechtfertigen keinen Abbruch der Schwangerschaft, erklärte ein Experte gegenüber der australischen Presseagentur AAP.
Video stammt aus dem Jahr 2020
Wir haben uns zunächst angeschaut, woher das Video, das Schiffmann übersetzt, stammt. Dafür haben wir nach den Schlagworten „Ministry Now“ – der Name der Show, der im Video eingeblendet ist – und „TV Show“ gesucht. So stießen wir auf die Internetseite des evangelikalen Fernsehsenders Daystar, der das Format Ministry Now produziert.
Wie aus einem Artikel des Spiegel vom 3. Dezember 2021 hervorgeht, wurde der Sender im Bundesstaat Texas vom US-Amerikaner Marcus Lamb gegründet. Lamb starb im Dezember 2021 an den Folgen einer Corona-Infektion. Zuvor hatte er sich laut dem Spiegel und der Washington Post mehrfach gegen Covid-19-Impfungen ausgesprochen. Das Format Ministry Now moderierte Lamb zusammen mit seiner Frau Joni Lamb, die im von Schiffman geteilten Video spricht.
Die Originalversion des Videos konnten wir weder auf der Internetseite noch auf dem Youtube-Kanal des Senders finden. Über einen Faktencheck der AAP vom 4. August 2022 stießen wir jedoch auf den Instagram-Kanal von „Reignite Democracy Australia“, auf dem das Video am 28. Juli 2022 verbreitet wurde. Zuvor war es bereits im Juli 2020 auf Facebook verbreitet worden. Das Video ist also nicht aktuell.
Wie auf der Webseite des neuseeländischen Gesundheitsministeriums zu lesen ist, wurde das Abtreibungsgesetz des Landes am 24. März 2020 geändert. Seitdem hat es keine weiteren Änderungen gegeben.
Wie Reuters und die BBC berichteten, ist ein Schwangerschaftsabbruch in Neuseeland seit der Gesetzesänderung keine Straftat mehr.
Schwangerschaft kann in Neuseeland bis zur 20. Woche ohne Angabe von Gründen abgebrochen werden
Wann und unter welchen Bedingungen eine Schwangerschaft abgebrochen werden kann, ist im neuseeländischen Abtreibungsgesetz 2020 („Abortion Legislation Act 2020“) geregelt. Wichtig ist, ob die Schwangerschaft vor oder nach der 20. Schwangerschaftswoche abgebrochen werden soll.
Soll der Abbruch vor der 20. Schwangerschaftswoche erfolgen, kann das ohne Angabe von Gründen passieren. Der Eingriff kann von qualifiziertem Gesundheitspersonal („qualified health practitioner“) durchgeführt werden. Wie das neuseeländische Gesundheitsministerium schreibt, gelten Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger als qualifiziertes Gesundheitspersonal. Das jedoch nur dann, wenn sie entsprechend fort- oder ausgebildet sind.
Nach der 20. Schwangerschaftswoche kann ein Abbruch nur unter bestimmten Vorraussetzungen erfolgen
Nach der 20. Schwangerschaftswoche darf der Abbruch nur dann durchgeführt werden, wenn er „klinisch angemessen“ ist und wenn mindestens eine weitere entsprechend qualifizierte Person beratend hinzugezogen wird. Bei der Entscheidungen müssen zudem alle relevanten gesetzlichen, beruflichen und ethischen Standards berücksichtigt werden, die für die entsprechende Berufsgruppe gelten („all relevant legal, professional, and ethical standards to which the qualified health practitioner is subject“).
Diese Standards beinhalten laut der neuseeländischen Regierung zum einen die Richtlinie über klinische Abtreibungen und die Richtlinie für die Erbringung von Gesundheitsdiensten. Bei der Entscheidung für oder gegen einen Abbruch der Schwangerschaft müssen die physische und psychische Gesundheit der Frau sowie ihr „allgemeines Wohlbefinden“ („overall well–being“) ebenso berücksichtigt werden, wie das Alter des Fötus. Soll ein Abbruch durchgeführt werden, ist es die Pflicht des Gesundheitspersonals, die Schwangere auf Beratungsdienste zum Thema hinzuweisen – die Schwangere ist jedoch nicht verpflichtet, ein entsprechendes Angebot vor einem Abbruch in Anspruch zu nehmen.
In Deutschland gelten Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich als Straftat, können aber straffrei sein, wenn der Abbruch innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis durchgeführt wird und sich die Betroffenen von einer anerkannten Stelle beraten lassen. Erst drei Tage nach diesem Beratungsgespräch darf der Abbruch durchgeführt werden. Ist das Leben der Schwangeren gefährdet oder kam die Schwangerschaft duch eine Vergewaltigung oder einen Missbrauchs Zustande, ist die Abtreibung ebenfalls keine Straftat. CORRECTIV berichtete in einer detaillierten Recherche über die Erfahrungen von Schwangeren, die einen Abbruch in Deutschland durchführen wollen.
Neuseeländisches Parlament lehnt Abtreibungen aufgrund von Geschlecht ab
In Artikel 21 des neuen Abtreibungsgesetzes heißt es, dass das neuseeländische Parlament „die Durchführung von Abtreibungen eines Fötus aufgrund einer Bevorzugung eines bestimmten Geschlechts“ ablehne. Spätestens fünf Jahre nach dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung soll überprüft werden, ob Abtreibungen nur aufgrund eines Geschlechtswunsches durchgeführt würden. Sollte das der Fall sein, müssen Empfehlungen erarbeitet werden, die dies verhindern. Dieser Absatz war schon in der ersten Fassung des Gesetzes von 1977 zu finden.
Die Leiterin der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie der Universität Otago, Helen Paterson, sagte gegenüber der australischen Nachrichtenagentur AAP es sei klinisch nicht angemessen, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, wenn der einzige Grund dafür eine Behinderung des Kindes oder der Wunsch nach einem anderen Geschlecht des Kindes sei. Zwar lasse die Gesetzgebung einen gewissen Interpretationsspielraum, welche Gründe zu berücksichtigen seien, „aber die Aussage ‚ich will dieses Kind nicht, weil es männlich beziehungsweise weiblich ist‘ ist nicht durch die Formulierung ‚klinisch angemessen‘ gedeckt“.
Neugeborene erhalten auch dann eine medizinische Versorgung, wenn sie eine Abtreibung überleben
Falsch ist außerdem, wie Schiffman ab Minute 3:36 behauptet, dass Babys keine medizinische Versorgung bekämen, sollten sie nach einer fehlgeschlagenen Abtreibung lebendig geboren werden.
Gegenüber der AFP sagte das neuseeländische Gesundheitsministerium im August 2020, dass ein Neugeborenes, das einen Abtreibungsversuch überlebt hat, „die gleichen Rechte [hat] wie jede andere Person. Ihm steht die gleiche Gesundheitsversorgung zu wie jedem anderen Neugeborenen“.
Der Behauptung, Abtreibungen würden ohne Schmerzmittel für Babys durchgeführt, fehlt zudem Kontext. Gegenüber der AFP sagte Janet Downs, Dozentin an der Universität von Otago im Fachbereich Frauen- und Kindergesundheit, es gebe keine Hinweise darauf, dass Föten vor der 24. Woche ein Schmerzempfinden hätten. In den klinischen Richtlinien für Abtreibungen heißte es, dass bei einer Abtreibung nach der 22. Schwangerschaftswoche nur dann eine Geburt eingeleitet werden dürfe, wenn das Kind zuvor getötet worden sei. Laut dem neuseeländischen Gesundheitsministerium geschieht das, indem das Herz des Fötus durch die Gabe eines Medikaments zum Stillstand gebracht wird.
Redigatur: Sophie Timmermann, Steffen Kutzner