Gräber in Isjum: Todesdatum auf Kreuzen beweist nicht die Unschuld der russischen Armee
Nach Angaben der Ukraine wurden in der Stadt Isjum Gräber mit mehr als 440 Leichen gefunden. In Sozialen Netzwerken kursieren Beiträge, die suggerieren, Russland könne nicht für die Toten verantwortlich sein. Das soll das Todesdatum 9. März auf einigen Kreuzen belegen. Doch es gibt zahlreiche Beweise für russische Angriffe vor diesem Datum.
Triggerwarnung: In diesem Beitrag ist Bild- und Videomaterial verlinkt, das die Folgen von Gewalt zeigt.
In einem Waldstück nahe der ukrainischen Stadt Isjum stehen Holzkreuze Reihe an Reihe. Monatelang hatte Russland Isjum besetzt, mehr als 440 Leichen sollen nach ersten Schätzungen der Ukraine in diesem Waldstück begraben sein. Viele Kreuze tragen bloß eine Zahl, die darunter liegenden Leichen müssen noch exhumiert und identifiziert werden. Auf anderen Kreuzen sind Namen und ein Todesdatum vermerkt. In Isjum beginnt nun die Aufarbeitung. Wann und wie die Begrabenen ums Leben kamen, ist noch unklar.
In Sozialen Netzwerken kursieren mehrere Behauptungen, die der Ukraine in diesem Zusammenhang eine Inszenierung vorwerfen. Eine dieser Behauptungen verbreitet „Neues aus Russland“, der für Desinformation bekannte Telegram-Kanal von Alina Lipp: „Auf den Gräbern ist als Todesdatum der 9. März angegeben. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die russischen Truppen erst am 1. April die Kontrolle über Izyum übernommen haben. Das heißt, dass hier schon vor der Ankunft der russischen Soldaten Ukrainer begraben wurden? Wer hat also diese Folterungen und Hinrichtungen durchgeführt? Nicht dieselben Ukrainer?“ Dazu sind auf einem Foto Holzkreuze zu sehen. Im Vordergrund stehen drei, auf deren schwarzen Schildern jeweils die Namen der Verstorbenen und ihr Todestag stehen.
Die Behauptung verbreiteten auch offizielle Kanäle russischer Botschaften in Südafrika oder Montenegro und diverse Nutzerinnen und Nutzer in Sozialen Medien.
Unsere Recherche zeigt: Dafür, dass ukrainische Truppen für die Toten verantwortlich sein sollen, gibt es keine Belege. Satellitenbilder, Augenzeugenberichte und Medienbeiträge dokumentieren hingegen, dass Russland die Stadt seit Ende Februar angegriffen hat.
Foto der Kreuze aus Isjum zuerst von ukrainischer Seite verbreitet
Das Bild, das verbreitet wird, hat auch Andrij Jermak am 16. September auf Twitter veröffentlicht. Jerman ist Chef des ukrainischen Präsidentenbüros. Zu sehen sind auf dem Foto drei Holzkreuze mit beschrifteten Tafeln. Zu dem Foto schrieb er: „Die Russen bringen ganze ukrainische Familien um. Isjum. Olesya, 6 Jahre alt. Ermordet von russischen Terroristen in Uniform. Ihre Eltern sind in der Nähe begraben.“ Am selben Tag verbreitete auch der Menschenrechtsbeauftragte der Ukraine, Dmytro Lubinets, ein Video aus Isjum über seinen Telegram-Kanal. Darin sind dieselben Kreuze zu sehen. Er sagt, es handle sich bei den Toten um eine ganze Familie, darunter Großeltern, Mutter, Vater und ihre kleine Tochter. Sie seien alle bei einem russischen Luftangriff ums Leben gekommen.
Auf den Kreuzen sind die Namen der Gestorbenen gut zu erkennen. Über eine Google-Suche findet man Berichte ukrainischer Medien zu den Verstorbenen. Die Familie starb demnach bei einem russischen Bombenangriff auf ein mehrstöckiges Wohnhaus in Isjum am 8. März. Die Berichte liefern mehrere Belege: Die Seite Fakty.ua zitiert einen Freund der Eltern und eine ehemalige Mitschülerin der verstorbenen Mutter.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Ukraine, Suspilne News, zeigt zudem ein Video-Interview mit einem Nachbar der Familie. Seiner Aussage nach seien einige der Leichen sofort gefunden worden, andere erst einen Monat später – als die Stadt schon unter russischer Kontrolle war. Fotos und Videos des ukrainischen Rundfunks belegen, dass das mehrstöckige Wohngebäude der Familie tatsächlich schwer beschädigt wurde – und es ist nicht das Einzige.
Berichten zufolge begannen die russischen Angriffe auf Isjum bereits Ende Februar
Unabhängig überprüfen lassen sich die ukrainischen Berichte über die Familie nicht. Aber die Zerstörung von Isjum im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist umfassend dokumentiert. Nach übereinstimmenden Berichten von Amnesty International und der New York Times begannen die russischen Angriffe auf die Stadt am 28. Februar. Zwischen dem 9. und 12. März befragte Amnesty International 26 Bewohnerinnen und Bewohner von Isjum, nachdem diese nach Swjatohirsk evakuiert worden waren. Laut dem Bericht vom 16. März befanden sie sich „in einer belagerungsähnlichen Situation“. Die Stadt sei seit dem 3. März einem ständigen Raketenbeschuss ausgesetzt gewesen. Die befragten Bürger berichteten Amnesty International, dass Zivilpersonen durch russische Angriffe getötet und verletzt worden seien. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft berichtete demnach ebenfalls von getöteten Zivilisten am 3. März.
Satellitenbilder vom 12. März belegen die Schäden an Gebäuden und Infrastruktur. Weitere Satellitenbilder vom 24. März zeigen eine zerstörte Schule, ein beschädigtes Krankenhaus und mehrere zerstörte Wohngebäude.
Wann die russischen Truppen die Stadt vollständig einnahmen, ist umstritten. Die New York Times berichtete, Russland habe Isjum im März drei Wochen lang belagert. Seit März gab es Berichte, dass die russische Armee Isjum oder Teile davon eingenommen hätte – und Berichte über erfolgreiche Gegenangriffe der ukrainischen Armee.
Am 24. März hieß es in einem Bericht der staatlich kontrollierten russischen Nachrichtenagentur TASS, dass die russische Armee die Kontrolle über Isjum gewonnen hätte. Von ukrainischer Seite hieß es zu diesem Zeitpunkt jedoch, der Kampf gehe weiter. Am 1. April meldete der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte, dass die Stadt unter russischer Kontrolle sei. Am 10. September eroberte die ukrainische Armee Isjum zurück.
Was über die Gräber und die Leichen in Isjum bislang bekannt ist
Die Gräber selbst befinden sich in der Nähe eines Waldfriedhofs. Nach Angaben der ukrainischen Armee handelt es sich um mehr als 440 Gräber. Wie viele Leichen darin jeweils liegen, ist unklar. In dem bisher einzigen Massengrab, das nahe Isjum gefunden wurde, sind nach ukrainischen Angaben 17 Soldaten begraben. Der Menschenrechtsbeauftragte der Ukraine, Dmytro Lubinets, sprach in einem Video davon, dass die Hände mancher begrabener Soldaten gefesselt worden seien. Das belegen auch Pressefotos der Leichen. Sie werden nun untersucht.
Es gibt einige Hinweise dafür, dass russische Soldaten die Verstorbenen begraben haben:. Die Satellitenfirma Maxar Technologies hat Aufnahmen von dem Waldstück veröffentlicht. Eine Aufnahme soll das Gebiet im März 2022 zeigen, die andere im August 2022. Im Vergleich ist zu erkennen, wie sich der Boden des Waldstückes während der Zeit der russischen Besatzung verändert hat – vermutlich Spuren, die die Gräber hinterlassen haben.
Weitere Satellitenbilder von Maxar vom 29. August, als Russland die Stadt unter Kontrolle hatte, zeigen Panzer und Artillerie-Geschütze am Friedhof. Zudem legen die Aussagen von einem Bewohner Isjums in einem Interview mit der spanisch Zeitung El País nahe, dass Russland den Friedhof während der Besatzung verwaltete. Er habe den russischen Truppen etwa 55 US-Dollar dafür bezahlt, um der Beerdigung seiner Mutter beizuwohnen. Diese Hinweise klären zwar nicht, wer für den Tod der Menschen verantwortlich ist. Sie weisen aber darauf hin, dass russische Soldaten während der Zeit ihrer Besatzung auf dem Gelände aktiv waren.
Das Narrativ, die Folgen russischer Angriffe und Gewalt seien inszeniert, ist nicht neu. Anfang April wurde es von offiziellen russischen Stellen in Zusammenhang mit der verwüsteten Stadt Butscha bemüht. Nach dem Abzug der russischen Truppen wurden in Butscha Leichen gefunden, die auf der Straße lagen. Von russischer Seite hieß es, die Leichen würden sich bewegen oder keine Totenflecke aufweisen. Diese Behauptungen waren falsch oder irreführend, wie wir damals in zwei Faktenchecks gezeigt haben.
Fazit: Die Grabkreuze mit dem Todesdatum 9. März in einem Waldstück nahe Isjum können einer bestimmten Familie zugeordnet werden. Wer die Familie begraben hat und woran sie gestorben ist, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend belegen. Es ist auch unklar, ob die Familie vor oder während der russischen Besatzung Isjums begraben wurde. Eindeutig belegt sind hingegen die russischen Angriffe auf die Stadt seit dem 28. Februar. Satellitenbilder zeigen Arbeiten im Waldstück während der russischen Besatzung; die Leichen und die Gräber selbst sind umfassend dokumentiert. Das Todesdatum 9. März auf einzelnen Holzkreuzen ist also kein Beweis für die Unschuld der russischen Armee am Tod der Begrabenen in Isjum.
Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.
Redigatur: Kimberly Nicolaus, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Video von dem Massengrab in Isjum von Dmytro Lubinets, Menschenrechtsbeauftragter der Ukraine, 16. September: Link
- Artikel von Suspline News über die in Isjum verstorbene Familie, 18. September: Link
- Bericht von Amnesty International mit Satellitenaufnahmen, die zerstörte und beschädigte Gebäude in Isjum am 12. März zeigen, 16. März: Link