Faktencheck

Video mit alten Aufnahmen belegt keine große Fluchtbewegung nach Europa

Ein Telegram-Beitrag suggeriert, Geflüchtete aus der Türkei würden sich in großer Zahl in Richtung EU-Grenze bewegen. Ein Video in arabischer Sprache zeigt große Gruppen von Menschen auf der Flucht und Personen, die Gegenstände in Richtung eines Zauns werfen. Diese Aufnahmen stammen jedoch aus den Jahren 2015 und 2020.

von Matthias Bau

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Im Jahr 2020 hinderte die griechische Grenzpolizei Geflüchtete mit Wasserwerfern am Überqueren der Grenze (Archivbild: Picture Alliance / DPA / Yasin Akgul)
Behauptung
Ein Video von Orient TV zeige, dass „zehntausende Migranten vor Europas Toren“ stünden. In der Türkei würden „Organisatoren“ syrische Flüchtlinge dazu aufrufen, einen Konvoi zu bilden, um die Grenze zu überqueren.
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Einige der Aufnahmen aus dem Video von Orient TV sind veraltet und entstanden teilweise auch nicht in der Türkei. Andere Bilder zeigen aber eine Telegram-Gruppe, in der syrische Flüchtlinge in der Türkei aufgerufen wurden, einen Konvoi zu bilden, um die Grenze nach Europa zu überqueren. Dazu kam es nicht.

Der Telegram-Kanal von Martin Sellner, dem Sprecher der rechtsextremen Identitären Bewegung, verbreitete am 13. September ein arabischsprachiges Video. Darin sind unter anderem große Menschengruppen zu sehen, die über Feldwege laufen. Das Video soll laut dem Beitragstext dazu belegen, dass „zehntausende“ syrische Flüchtlinge, die in der Türkei leben, „vor Europas Toren“ stünden. Ähnliche Behauptungen verbreiteten sich zuvor auch in französischer und türkischer Sprache. 

Das Video, das in den Beiträgen verbreitet wird, zeigt teilweise Szenen aus den Jahren 2015 und 2020. Es stimmt zwar, dass in einer Telegram-Gruppe syrische Flüchtlinge dazu aufgerufen wurden, die Türkei in Richtung EU in einem „Konvoi“ zu verlassen. Das scheiterte laut den Organisatoren jedoch.

Telegram-Beitrag Martin Sellner, der angeblich Flüchtlinge in der Türkei zeigt
Der Telegram-Kanal von Martin Sellner verbreitet ein Video, das Szenen aus den Jahren 2015 und 2020 zeigt, um so Stimmung gegen Geflüchtete zu machen (Quelle: Telegram; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Szenen aus dem Video stammen von 2015 und 2020

Der Text-Beitrag auf Telegram ist deutschsprachig, das Video dazu ist aber arabischsprachig. Zu Beginn des Videos läuft eine große Menschengruppe über ein Feld. Ab Minute 1:34 sind Menschen zu sehen, die Gegenstände in Richtung einer Absperrung werfen. Außerdem gibt es Aufnahmen einer arabischsprachigen Telegram-Gruppe namens „Migration nach Europa, Konvoi des Lichts“. 

Wie in der oberen linken Ecke des Videos auf Telegram zu erkennen ist, stammt es von einem Sender namens Orient. Wir haben daher zunächst nach den Schlagworten „Orient News“ und „Orient TV“ gesucht. So stießen wir auf den Youtube-Kanal des Mediums Orient TV, das das Video produzierte. Dort fanden wir das Originalvideo, es wurde am 9. September veröffentlicht und bisher rund 475.000 Mal angesehen. 

Laut Google-Übersetzung lautet der Titel des Videos: „Über 40.000 Menschen. Der Konvoi des Lichts mobilisiert Syrer in der Türkei, um unter ‚Warnungen‘ nach Deutschland zu gelangen.“ Ein arabischer Muttersprachler hat das Video für uns zusammengefasst: Orient TV berichtet über eine Telegram-Gruppe, in der ein „Konvoi des Lichts“ für syrische Flüchtlinge geplant und angekündigt wurde. Die Aktion sollte zehntausende Menschen zusammenbringen, um gemeinsam die türkische EU-Grenze zu überqueren.

Wir haben bei zwei der Aufnahmen von Flüchtlingen im Video überprüft, ob sie aktuell sind. Dabei fanden wir heraus, dass es sich offenbar um Archivbilder handelt, die nicht die aktuelle Situation an der EU-Türkei-Grenze zeigen. Dass solche Bilder in Medienberichten eingesetzt werden, ist üblich. Sie sollten allerdings als solche gekennzeichnet werden, um nicht in die Irre zu führen – in dem Bericht von Orient TV ist das nicht geschehen. 

Aufnahme von Menschengruppe auf Feldern entstand 2015 an der slowenisch-kroatischen Grenze 

Wir haben per Bilderrückwärtssuche zunächst nach der ersten Szene aus dem Video gesucht: Darin zu sehen ist eine große Menschengruppe, die über ein Feld läuft. Die Szene wurde laut unserer Recherche vom britischen Guardian bereits im Jahr 2015 ausgestrahlt. Sie stammt von der slowenisch-kroatischen Grenze. 

Der folgende Screenshot zeigt den Bericht von Orient TV und der darunter zeigt das Video des Guardian

Arabisches Video von Orient TV zeigt viele Flüchtlinge auf einem Feld
Diese Szene aus dem Video von Orient TV stammt bereits aus dem Jahr 2015 (Quelle: Youtube / Orient TV; Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)
Englisches Video vom Guardian aus dem Jahr 2015
Der Guardian veröffentlichte das Bildmaterial von der slowenisch-kroatischen Grenze im Jahr 2015 (Quelle: Youtube / Guardian News; Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Menschen werfen Gegenstände über einen Zaun – das war im Juli 2020

Eine weitere Szene aus dem Video von Orient TV ist nicht aktuell: Darin ist zu sehen, wie Menschen Gegenstände über einen Zaun werfen. Anschließend werden sie mit einem Wasserwerfer beschossen. Diese Aufnahmen stammen von der türkisch-griechischen Grenze aus dem Jahr 2020. Veröffentlicht wurden sie zum Beispiel am 3. Juli 2020 von der Webseite Euronews. Laut der Webseite kam es damals an der Grenze zu Auseinandersetzungen zwischen griechischen Einsatzkräften und Geflüchteten, die über Griechenland in die EU einreisen wollten.

Der folgende Screenshot zeigt den Bericht von Orient TV und der darunter zeigt das Video von Euronews

Bericht von Orient TV zeigt Menschen, die Gegenstände auf einen Zaun werfen
Auch diese Szene aus dem Bericht von Orient TV ist veraltet, sie stammt aus dem Jahr 2020 (Quelle: Youtube / Orient TV; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Video Euronews aus dem Jahr 2020
Die gleiche Szene von der türkisch-griechischen Grenze veröffentlichte die Seite Euronews bereits am 3. Juli 2020 (Quelle: Euronews; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Zu demselben Ergebnis kamen auch die türkischen Faktenchecker von Teyit und „Les Observateurs“ von France 24.

„Konvoi des Lichts“: Einige Menschen wollten tatsächlich in die EU flüchten 

Die Szenen im Video zeigen also zumindest teilweise keine aktuellen Fluchtbewegungen. Wie aus dem Beitrag von Orient TV aber hervorgeht, gab es im September 2022 Berichte über einen sogenannten „Konvoi des Lichts“. Am 10. September berichtete beispielsweise das österreichische Newsportal OE24 darüber.

Wie der britische Guardian am 21. September berichtete, versammelten unbekannte Organisatoren offenbar 85.000 Menschen in einer Telegram-Gruppe, um gemeinsam in die EU zu gelangen. Syrer, die der Gruppe beitraten, berichten laut Guardian, dass sie in der Türkei Rassismus ausgesetzt seien und die Abschiebung nach Syrien fürchteten. Am 8. September berichtete der Spiegel, Geflüchtete würden teils mit vorgehaltener Maschinenpistole zur Rückreise gezwungen. 

Die Telegram-Gruppe gibt es. Am 30. September hatte sie rund 76.000 Mitglieder; kurz darauf wurden sämtliche Inhalte in der Gruppe gelöscht. Es lässt sich nicht nachvollziehen, wer die Organisatoren waren und wie viele der Mitglieder sich aktiv beteiligten.

Auf Twitter veröffentlichte die Organisation am 15. September eine Erklärung, in der es heißt, man wolle die Türkei verlassen, um dem dortigen Rassismus zu entgehen, der einige Syrerinnen und Syrer ihr Leben gekostet habe. Zudem gebe es Druck auf die Geflüchteten, nach Syrien zurückzukehren. Dort seien ihre Leben jedoch in Gefahr. 

Telegram-Werbung für einen „Konvoi des Lichts“
In der Telegram-Gruppe des „Konvoi des Lichts“ wurde das Zustandekommen der Organisation erklärt (Quelle: Telegram; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Einige Mitglieder des „Konvoi des Lichts“ trafen sich offenbar in Edirne, wurden dort aber angegriffen

Der Guardian berichtete am 21. September, die Gruppe habe sich auf den Weg in Richtung der türkisch-griechischen Grenzstadt Edirne gemacht, dort seien Mitglieder aber von unbekannten Zivilisten angegriffen worden. Daraufhin sei die Aktion vorläufig abgebrochen worden, wie die Webseite Infomigrants berichtete. Am 30. September wurden Kommentare zu der vergangenen Aktion in der Telegram-Gruppe gelöscht. 

Es ist unklar, wie viele Menschen in Edirne versammelt waren. Die Organisatoren schrieben auf Telegram, der „Konvoi des Lichts“ werde vorübergehend ausgesetzt, nachdem man entdeckt habe, dass er von Menschenhändlern und Schleppern unterwandert worden sei. „Gott sei Dank haben wir diesen Fall entdeckt, bevor es zu spät war“, hieß es in der Telegram-Gruppe.

Wir fanden außerdem ein weiteres Video von Orient TV, das offenbar einen weiteren Versuch einiger Gruppen-Mitglieder am 26. September zeigt. In diesem Video sind aber nur wenige Menschen zu sehen. Einer der Männer im Video beschuldigt die Organisatoren des „Konvoi des Lichts“, sie betrogen zu haben. Auch in der Telegram-Gruppe mehrte sich vor der Löschung Kritik an den unbekannten Organisatoren.

Orient-TV Video zeigt eine kleine Gruppe, die laut eigener Angabe im Namen des Konvoi des Lichts zur Grenze aufbrach und nicht weiter kam
In der Telegram-Gruppe des „Konvoi des Lichts“ wurde das Zustandekommen der Organisation erklärt (Quelle: Telegram; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Fazit: Das Video über den „Konvoi des Lichts“ enthält teils veraltete Aufnahmen von anderen Fluchtbewegungen aus den Jahren 2015 und 2020. Weitere Aufnahmen scheinen aktuell und zeigen Beiträge in der Telegram-Gruppe der Aktion. Unklar ist jedoch, inwiefern die Geflüchteten, die sich daran beteiligten, weiter Teil der Aktion sind oder ob diese mittlerweile beendet wurde. 

Redigatur: Steffen Kutzner, Sarah Thust

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Videoaufnahmen des Guardian vom 26. Oktober 2015 „Refugees on Slovenia-Croatia border – drone video footage“: Link
  • Bericht des Guardian vom 21. September „Syrian refugees mass in convoy on Turkish border to walk into Greece“: Link
  • Bericht von Infomigrants vom 21. September „En Turquie, les organisateurs de „la caravane de la lumière“ annulent le convoi vers l’Europe“: Link
  • Bericht von Euronews vom 7. März 2020 „Migrants : la frontière gréco-turque toujours sous tension“: Link