Faktencheck

Ukraine: Angeblicher Korruptionsbericht über Veruntreuung von EU-Hilfsgeldern existiert nicht

Ein Blogartikel behauptet, die Staatengruppe gegen Korruption (Greco) habe berichtet, dass die Ukraine Hilfsgelder entwendet habe und von der EU gelieferte Hilfsgüter fast vollständig auf dem Schwarzmarkt gelandet seien. Die Greco dementiert, jemals solche Angaben gemacht zu haben. Auch die EU-Kommission ist über keinen Missbrauch von EU-Geldern informiert.

von Sophie Timmermann

Ukraine-Krieg - Nordrhein-Westfalen - Transport mit Hilfsgütern
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges erreichen die Ukraine Hilfsgüter und Hilfsgelder der EU. Behauptungen über angebliche Angaben der Staatengruppe gegen Korruption, Greco, zu einer Veruntreuung der Gelder laufen ins Leere (Symbolbild: Picture Alliance / DPA / Fabian Strauch)
Behauptung
Laut Angaben der Staatengruppe gegen Korruption, Greco, seien in der Ukraine Hilfsgelder von mehr als 55 Millionen Euro abgezweigt worden. Die EU habe der Ukraine von März bis August 2022 humanitäre Güter im Wert von mehr als 360 Millionen Euro zukommen lassen, davon seien laut Greco Waren im Wert von 342 Millionen gestohlen worden. In der Region Saporischschja seien 22 Schiffscontainer, 389 Eisenbahnwaggons und 220 Lastwagen gestohlen worden.
Bewertung
Größtenteils falsch
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Größtenteils falsch. Ein solcher Bericht der Greco existiert nicht. Von Februar bis August flossen EU-Gelder in Höhe von 335 Millionen Euro für Hilfsorganisationen in der Ukraine, nicht 360 Millionen. Es gibt keine Belege für eine missbräuchliche Verwendung dieser Mittel. Die Angaben zu gestohlenen Schiffen oder Lastwagen in Saporischschja stammen nicht von der Greco, sondern offenbar aus Berichten über Korruptionsermittlungen gegen Beamte in Saporischschja. Es handelt sich um unbestätigte Angaben.

„Korrupte Ukraine: Fast alle EU-Hilfsgüter landen offenbar auf dem Schwarzmarkt“, titelt der Blog Ansage am 19. September. Angaben der Staatengruppe gegen Korruption (Group of States against Corruption; Greco) zufolge seien von der Europäischen Union an die Ukraine gelieferte „humanitäre Güter“ fast vollständig gestohlen worden – 342 von insgesamt 360 Millionen Euro. Zudem seien Hilfsgelder von mehr als 55 Millionen Euro „abgezweigt“ worden. Die Behauptung wurde weit verbreitet: Auszüge des Blogartikels kursieren auf Telegram, und der AfD Kreisverband Main-Kinzig griff die Behauptung auf Facebook auf.

In den vergangenen Wochen kursierten mehrfach Behauptungen über die angebliche Veruntreuung westlicher Hilfsmittel oder Waffen an die Ukraine. Sorgen um Korruption in dem Land sind nicht unbegründet. Die Ukraine landete 2021 auf dem weltweiten Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 122 von 180. Zum Vergleich: Russland lag auf Platz 136 und Deutschland auf Platz 10. Verbreiter von Desinformation nutzen das Thema jedoch als Einfallstor, verbreiten irreführende Behauptungen oder fabrizieren vermeintliche Belege. 

Die aktuelle Behauptung hält einem Faktencheck ebenfalls nicht stand, die Quelle ist offenbar erfunden. „Ein solcher Bericht ist von der Greco weder veröffentlicht noch vorbereitet worden”, schreibt uns ein Sprecher des Europarates.

Facebook-Beitrag
Der AfD-Kreisverband Main-Kinzig griff den Artikel von Ansage.org auf Facebook auf. Die angeblichen Angaben des Anti-Korruptionsverbunds Greco sind jedoch frei erfunden, wie uns ein Sprecher bestätigte (Quelle: Facebook; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Angeblicher Greco-Bericht ist frei erfunden

Die Staatengruppe Greco wurde 1999 vom Europarat gegründet, um die Einhaltung von Antikorruptionsstandards zu überwachen. Sie hat ihren Hauptsitz in Straßburg. Die Gruppe veranlasst gesetzliche und institutionelle Reformen und bietet eine Plattform für den Austausch bewährter Verfahren gegen Korruption. Die Gruppe hat nach eigenen Angaben 50 Mitglieder, darunter seit 2006 auch die Ukraine. Russlands Mitgliedschaft wurde mit Beginn des Angriffskriegs ausgesetzt. 

Auf der Webseite der Greco finden sich keinerlei Hinweise auf einen Bericht oder eine Pressemitteilung über 55 Millionen „abgezweigte“ EU-Gelder oder einen gestohlenen Warenwert in Höhe von 342 Millionen. Unsere Suche führt lediglich zu einem Ukraine-spezifischen Bericht, der allerdings im Dezember 2021, also vor dem Angriffskrieg Russlands, verabschiedet wurde. 

EU zahlte bis August 335 Millionen für die Ukraine  – EU-Kommission ist über keinen Missbrauch informiert 

Ansage behauptet ebenfalls, die EU habe der Ukraine von März bis August 2022 humanitäre Güter im Wert von mehr als 360 Millionen Euro zukommen lassen. Woher die Angaben stammen, ist unklar. Wie eine archivierte Version der Webseite der Europäischen Kommission zeigt, sind vom 24. Februar bis Ende August 335 Millionen an die Ukraine geflossen. 

Die Gelder gingen zudem nicht an die ukrainische Regierung, sondern ausschließlich an Organisationen der Vereinten Nationen, Nichtregierungs- und andere internationale Organisationen, erklärt uns ein Sprecher der EU-Kommission auf Nachfrage. Keiner der von der EU finanzierten humanitären Partner habe einen Missbrauch von Geldern gemeldet. Mitarbeitende der Europäischen Kommission würden die von der EU finanzierten humanitären Projekte regelmäßig überwachen. Die Kommission führe zudem Prüfungen und Bewertungen durch.

Ukrainische Antikorruptionsbehörde und Sicherheitsdienst ermitteln gegen Beamte in Saporischschja wegen Veruntreuung 

Die Angaben zu den angeblich gestohlenen 22 Schiffscontainern, 389 Eisenbahnwaggons und 220 Lastwagen in der Region Saporischschja stammen ebenfalls nicht von der Greco, wie uns ein Sprecher bestätigt. Die Arbeit der Greco umfasse solche Angelegenheiten gar nicht. Ein Sprecher der EU-Kommission schrieb uns ebenfalls, nichts darüber zu wissen.

Der ukrainische Inlandsgeheimdienst (SSU) veröffentlichte am 30. August eine Pressemitteilung, wonach tatsächlich wegen möglicher Veruntreuung humanitärer Hilfe durch Beamte in der Region Saporischschja ermittelt werde – jedoch nicht in der Größenordnung, wie von Ansage behauptet. Woher die Hilfe stammte, ist zudem unklar. Die Ermittlungen würden zusammen mit dem ukrainischen Antikorruptionsbüro (Nabu) durchgeführt, heißt es in der Mitteilung. Es seien bei Durchsuchungen betäubungsmittelähnliche Substanzen, nicht registrierte Schusswaffen und Munition sowie eine große Menge Bargeld gefunden worden. 

Die von Ansage genannten Zahlen zu Schiffscontainern oder Lastwagen kursieren zudem in mehreren ukrainischen Medienberichten. Als Quelle wird ein „freier Mitarbeiter der Nabu“ namens Yevhen Shevchenko zitiert, der diese Details auf Facebook veröffentlicht habe. 

Tatsächlich fanden wir den Beitrag auf Facebook, darin heißt es, verschiedene Personen stünden im Verdacht, die Hilfsgüter gestohlen zu haben. Ob die Person wirklich bei der Nabu arbeitet, geht aus ihrem Profil nicht hervor. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SSU berichtete allerdings im März 2021 über einen Yevhen Shevchenko, der als „freier Mitarbeiter der Nabu“ bekannt sei. Shevchenko hat laut SSU eine paramilitärische Bewegung gegründet, deren Aktivitäten der Geheimdienst gestoppt habe. Er sei zudem an der illegalen Einfuhr von Militärgütern aus Russland beteiligt gewesen. 

Ob Shevchenkos Angaben auf Facebook stimmen, ist unklar. Unsere Anfrage an den SSU blieb bisher unbeantwortet. Die Nabu antwortete uns am 14. Dezember, sie könne aufgrund der laufenden Ermittlungen keine Angaben dazu machen.

Immer wieder unbelegte oder falsche Behauptungen über Schmuggel und Veruntreuung in der Ukraine

Wir haben bereits mehrere Faktenchecks zu ähnlichen Behauptungen veröffentlicht, die sich als unbelegt oder falsch herausstellten. Im März berichteten wir über die Falschmeldung, Hilfsgüter für die Ukraine würden in der Oberpfalz verbrannt und LKW würden stattdessen Waffen liefern. Behauptungen im August, die Ukraine hätte eine „massive Veruntreuung“ westlicher Hilfsgelder zugegeben, führten ebenfalls in die Irre und zitierten verschiedene Quellen falsch.

Schon länger werden zudem Spekulationen über Waffenschmuggel aus der Ukraine verbreitet. Bisher fehlen Belege, dass es solche Vorfälle wirklich gibt, zuletzt kursierten dazu im Netz Falschinformationen über angebliche Waffenfunde in Bremen und Finnland.

Redigatur: Matthias Bau, Alice Echtermann

Update, 14. Dezember 2022: Wir haben die Rückmeldung der Nabu im Text ergänzt. 

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Merkblatt über humanitäre Hilfe an die Ukraine, Europäische Kommission: Link
  • Ermittlungen zur Veruntreuung von Hilfsmitteln in Saporischschja, ukrainischer Sicherheitsdienst SSU, 30. August 2022: Link (archiviert)
  • Ermittlungen der SSU zu einer paramilitärischen Bewegung, März 2021: Link (archiviert)

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