Faktencheck

Nein, Transparency International sagte nicht, dass Ukrainer mehr als 70 Prozent der humanitären Hilfe weiterverkauften

Ein Tiktok-Video verbreitet Falschmeldungen über Korruption in der Ukraine. Anders als behauptet, veröffentlichte Transparency International keine Angaben über den angeblichen Weiterverkauf humanitärer Hilfe. Quelle für das Video ist eine dubiose pro-russische Seite, für die bekannte Desinformations-Akteure werben.

von Sophie Timmermann

The 'Poland Helps' convoy to Kherson Region
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine kursieren immer wieder Behauptungen, die Ukraine habe EU-Gelder veruntreut. Aktuell werden Behauptungen über angebliche Aussagen von Transparency International verbreitet. (Symbolbild: Picture Alliance / AA / Artur Widak)
Behauptung
Nach Angaben von Transparency International würden in der Ukraine mehr als 70 Prozent der humanitären Hilfe weiterverkauft. Ein Beispiel dafür sei die ukrainische Stadt Krivoy Rog: Dort würden Beamte humanitäre Hilfe aus der EU an Händler liefern.
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Größtenteils Falsch. Transparency International dementiert, jemals solche Angaben gemacht zu haben. Die Europäische Kommission ist ebenfalls über keine Veruntreuung von EU-Hilfsgeldern an die Ukraine informiert; die Gelder gingen nicht an die ukrainische Regierung und somit an Beamte, sondern an Drittorganisationen. Wir fanden keine Belege für die angebliche Betrugsmasche in Krivoy Rog; die im Video gezeigten Aufnahmen sind teilweise mehrere Monate oder gar Jahre alt. Die Quelle der Behauptung ist eine pro-russische Webseite, die schon zahlreiche Falschmeldungen veröffentlichte.

„Vorher korrupt, immer korrupt“ und „darum ist jeder, der spendet, ein Depp. Das Geld wird nie bei den wirklich Bedürftigen ankommen“, erzürnen sich Nutzerinnen und Nutzer in Kommentaren unter einem Tiktok-Video. In dem knapp 40-sekündigen Video werden vermeintliche Belege für Korruption in der Ukraine präsentiert. So heißt es, nach Angaben von Transparency International würden mehr als 70 Prozent der humanitären Hilfe weiter verkauft, der Umsatz der Masche habe sich 2022 auf mehr als eine Milliarde Euro belaufen. Speziell in Krivoy Rog würden ukrainische Beamte humanitäre Hilfe der EU an „Handelsnetze“ liefern.

Das Video reiht sich in eine Serie von Behauptungen ein, die in den vergangenen Monaten kursierten, darunter die angebliche Veruntreuung westlicher Hilfsmittel oder der illegale Weiterverkauf von Waffen. Erst kürzlich berichteten wir über einen erfundenen Ukraine-Bericht, den die Staatengruppe gegen Korruption (Greco) verfasst haben sollte.

Sorgen um Korruption sind nicht unbegründet. Die Ukraine landete 2021 auf dem weltweiten Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 122 von 180. Zum Vergleich: Russland lag auf Platz 136, Deutschland auf Platz 10. Verbreiter von Desinformation nutzen das Thema jedoch, um irreführende Behauptungen zu verbreiten.

Im aktuellen Fall sind die Angaben offenbar frei erfunden. Transparency International bezeichnete sie uns gegenüber als „vollkommen falsch“, sie stammten nicht von der Organisation. Die vermeintliche Quelle der Behauptung ist eine unseriöse Webseite, die unzählige prorussische Falschmeldungen streut. Für die angebliche Betrugsmasche in Krivoy Rog fanden wir keine Belege. 

Dieses Tiktok-Video macht falsche Behauptungen über angebliche Korruption in der Ukraine
Auf Tiktok verbreitet sich ein Video, das angebliche Angaben von Transparency International verbreitet. Ursprünglich verbreitete es eine anti-ukrainische Webseite (rot markiert) (Quelle: Tiktok, Screenshot und Markierung: CORRECTIV.Faktencheck)

Keine Belege für Weiterverkauf von humanitären Hilfsgütern in Krivoy Rog

Als Beispiel für die angebliche Veruntreuung durch Beamte wird zu Anfang des Tiktok-Videos auf die Stadt Krivoy Rog (auch Krywyj Rih geschrieben) verwiesen – es handelt sich um die Heimatstadt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ein kurzer Videoausschnitt soll belegen, dass die im Bild gezeigten Waren humanitäre Hilfe seien und weiterverkauft würden. Dafür liefert das Video aber keine Beweise.

Das Video zeigt angebliche Belege für Korruption in Krivoy Rog
In dem Video wird die Heimatstadt von Wolodymyr Selenskyj als Beispiel für Korruption genannt: Krivoy Rog. Für die beschrieben Vorgehensweise gibt es keine Hinweise (Quelle: Tiktok, Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Mit einer Bilder-Rückwärtssuche fanden wir das unten links eingeblendete Bild in einem Artikel auf einer russischen Webseite aus dem Jahr 2014. Darin geht es um Hilfslieferungen an den Donbass.

Eine Suche mit weiteren Schnittbildern aus dem Video zeigt: Die Szene rechts ist ebenfalls nicht aktuell. Wir fanden ein rund einminütiges Video, das den gleichen Lebensmittelstand zeigt, auf Youtube. Es wurde am 16. Mai 2022 hochgeladen, als Standort ist Krivoy Rog angegeben. Zu dem Video heißt es auf Youtube ebenfalls, die Menschen, die in dem Video zu sehen seien, würden mit humanitären Hilfsgütern handeln. In dem Video sind jedoch weder Preise auf den einzelnen Produkten zu sehen, noch nehmen die Menschen am Stand Bargeld oder Kreditkarten entgegen. Einen Beleg für den „Handel“ mit humanitärer Hilfe liefert das Video folglich nicht.

Auch ein weiteres Schnittbild (Sekunde 29) aus dem Video entstand weder in Krivoy Rog noch ist es aktuell. Über eine Suche finden wir das Bild, auf dem zwei Männer in Uniform zu sehen sind, in verschiedenen Berichten aus März 2022. Demnach entstand es in Charkiw und zeigt Polizisten, die Ware auf einem Tisch inspizieren. Laut der Polizei wollten zwei Männer gespendetes Tierfutter weiterverkaufen.

Wir haben zusätzlich auf Deutsch, Englisch, Russisch und Ukrainisch nach Berichten über den angeblichen Weiterverkauf humanitärer Güter in Krivoy Rog gesucht. Über die ukrainische Suche stießen wir auf einen Bericht vom 17. August über einen Vorfall in Dnipro. Demnach hatte der ukrainische Sicherheitsdienst Pläne zweier Personen aufgedeckt, die humanitäre EU-Hilfe illegal abzweigen wollten. Für die beschriebene Masche durch ukrainische Beamte in Krivoy Rog fanden wir keine Hinweise. 

Transparency International: Angaben sind „vollkommen falsch“ 

Im Tiktok-Video wird anschließend behauptet, laut Transparency International würden „70 Prozent der humanitären Hilfe in der Ukraine weiter verkauft“. Transparency International dementiert die Angaben. Die internationale Pressestelle verwies uns an das ukrainische Länderbüro. Auf Anfrage schreibt uns Veronika Borysenko per E-Mail: „Die angegebenen Zahlen sind vollkommen falsch.” Der Name von Transparency International sei unrechtmäßig verwendet worden. „Noch schlimmer ist, dass diese Behauptungen offen pro-russische Narrative zu verbreiten scheinen“. Auch zu der angeblichen Vorgehensweise, dass Beamte humanitäre Hilfe der EU an „Handelsnetze“ lieferten, sei ihr nichts bekannt.

Das Büro von Transparency International in der Ukraine arbeite nicht an Themen, die die Veruntreuung und den Weiterverkauf humanitärer Hilfe in der Ukraine während des Krieges beträfen, so Borysenko weiter. Die gesamte Organisation habe keine Berichte oder Analysen dazu veröffentlicht.

Ein Sprecher der Europäische Kommission schrieb uns zudem schon Ende November zu einer ähnlichen Behauptung über angeblich abgezweigte EU-Hilfsgelder und missbräuchlich verwendete Hilfsgüter, keiner der von der EU finanzierten humanitären Partner habe einen Missbrauch von Geldern gemeldet. Die EU-Gelder gehenn laut dem Sprecher zudem nicht an die ukrainische Regierung (und somit Beamte), sondern ausschließlich an Organisationen der Vereinten Nationen sowie Nichtregierungsorganisationen. Bis zum 16. November sind 485 Millionen Euro für humanitäre Hilfe an die Ukraine geflossen. 

Quelle des Videos ist eine prorussische Webseite, die schon zahlreiche Falschmeldungen über die Ukraine verbreitete
Wir finden das auf Tiktok verbreitete Video auf der Website „tribunalukraine.info“. Die Seite ist voller Falschmeldungen über den russischen Angriffskrieg (Quelle: tribunalukraine.info; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Quelle des Videos ist eine anti-ukrainische Seite, die zahlreiche Falschmeldungen veröffentlicht

Die Quelle des Videos ist eine Webseite namens „tribunalukraine.info“. Dieser Name wird im Tiktok-Video oben rechts eingeblendet. Es handelt sich um eine pro-russische Webseite, die laut Eigenbeschreibung „die Wahrheit” über den Krieg veröffentliche, die in den Medien „verschwiegen“ werde. Die Inhalte sind meistens auf Deutsch, Untertitel und übersetzte Beschreibungen gibt es auch auf Englisch und Russisch. Die Seite dokumentiert nach eigenen Angaben unter anderem angebliche Kriegsverbrechen ukrainischer Streitkräfte.

Das auf Tiktok verbreitete Video findet sich unter dem Menüpunkt „Korruption hoher Beamter“. Neben dem Video findet sich der Text wieder, der darin vorgelesen wird. Darüber steht der Titel: „Ein Plan zum Verkauf humanitärer Hilfe an die Ukraine wurde veröffentlicht.“

Erst kürzlich bewarb die pro-russische Propagandistin Alina Lipp die Seite. Auch die russischen Botschaften in Jakarta und Singapur verlinkten die Webseite auf ihren offiziellen Twitter-Profilen. Laut einer Domain-Abfrage wurde die Seite am 10. Oktober erstellt. Wer dahintersteckt, ist unklar. Ein Impressum gibt es nicht.

Wir finden auf der Webseite zahlreiche Falschmeldungen: Etwa über einen angeblichen Bericht der Staatengruppe Greco, der die Veruntreuung von EU-Hilfen bezeugen sollte – einen solchen Bericht gibt es nicht. In einem weiteren Artikel heißt es, dass die US-Organisation RAND einen Bericht veröffentlicht habe, laut dem die USA die deutsche Wirtschaft zerstören wolle. Für den Bericht gibt es keine Belege, RAND bezeichnet ihn als Fälschung. Die USA würde in ukrainischen Laboren Biowaffen entwickeln, heißt es in einem anderen Text – wir berichteten mehrfach über dieses Narrativ und die vermeintlichen Belege dafür (hier, hier und hier).

Übrigens: „Tribunalukraine.info“ macht in einem zweiten Video weitere Falschangaben über vermeintliche Berichte von Transparency International. So heißt es, laut einer „Analyse“ von „Transparency Int.“ würden in der Ukraine bis zu 95 Prozent aller EU-Finanzhilfen gestohlen und über 80 Prozent der „direkten Militärhilfe“, also offenbar militärische Ausrüstung, verkauft. Auch diese Zahlen bezeichnet Veronika Borysenko von Transparency International als falsch.

Redigatur: Viktor Marinov, Matthias Bau

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Pressemeldung der Polizei aus Charkiw, 19. März 2022: Link (archiviert)

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