Faktencheck

Notwehr? Klimaaktivisten selbst von der Straße zu ziehen, ist rechtliches Glatteis

Das Notwehrrecht soll es angeblich ermöglichen, dass Autofahrer, die von Klimaaktivistinnen und -aktivisten blockiert werden, selbst zur Tat schreiten. Auch wenn die Aktivisten dabei verletzt werden, soll Autofahrern keine Strafe drohen. Stimmt das?

von Steffen Kutzner

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Einige Klimaaktivisten und -aktivistinnen kleben sich auf Asphalt fest, um auf ihre Ziele aufmerksam zu machen, wie hier am 5. Dezember 2022 auf dem Karlsplatz in München (Quelle: Picture Alliance / Zumapress.com / Sachelle Babbar)
Behauptung
Autofahrer dürften Klimaaktivisten selbst von der Straße zerren. Sie müssten nicht auf die Polizei warten. Verletzungen, zum Beispiel an den Handflächen der Klimaaktivisten, seien hinzunehmen und änderten nichts am Notwehrrecht des Autofahrers.
Bewertung
Unbelegt. Es kommt auf den Einzelfall an. Und zwar konkret auf die Frage, ob es sich bei der Blockade um eine „rechtswidrige Nötigung“ handelte. Das wurde in bisherigen Gerichtsurteilen unterschiedlich beurteilt. Eine pauschale Straffreiheit gibt es für das Szenario also nicht.

Die Behauptung, Autofahrer dürften „Klimakleber“ selbst von der Straße holen, wurde Ende November 2022 auf Twitter und Facebook vom Kölner Anwalt für Medienrecht Ralf Höcker aufgestellt. „Sie müssen nicht auf die Polizei warten. Verletzungen, zum Beispiel an den Handflächen der Klimaaktivisten, sind hinzunehmen und ändern nichts am Notwehrrecht des Autofahrers“, schrieb Höcker. Sein Tweet wurde bisher mehr als 1.800 Mal geteilt.

Ein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung twitterte, das sei „Quatsch“. Mehrere Nutzer in den Sozialen Netzwerken zweifelten die Aussage ebenfalls an. Einer schrieb: „Das kann man in dieser Pauschalität nicht sagen, es kommt auf die Umstände des Einzelfalles an.“

Auf Facebook teilte Ralf Höcker zu seiner Behauptung eine Entscheidung vom Oberlandesgericht Naumburg aus dem Jahr 1997 (Quelle: Facebook; Screenshot am 20. Dezember: CORRECTIV.Faktencheck)

Gehen Autofahrer straffrei aus, wenn sie Aktivistinnen und Aktivisten, die sich auf eine Straße geklebt haben, einfach losreißen? Aus mehreren Medienberichten wird deutlich, dass es dazu unterschiedliche Interpretationen des Rechts gibt. Am 16. Dezember 2022 kamen zwei Professorinnen und ein Emeritus für Strafrecht in einem Artikel von Zeit Online (kostenpflichtig) zu der Einschätzung, dass es unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt sei, Aktivisten „möglichst behutsam“ von der Fahrbahn abzulösen. Sei die Polizei aber vor Ort, erlösche das Notwehrrecht. Im Zweifelsfall sei es ratsam, dass Autofahrer auf die Polizei warten. 

Wir haben zwei Anwälte gefragt, wie sie das Szenario beurteilen würden: Christian Solmecke, dessen Kanzlei unter anderem Verkehrsrechtsfälle behandelt, und Stefan Rehm, Vizepräsident des Deutschen Strafverteidigerverbands. Sie raten Autofahrern, auf die Polizei zu warten und nicht selbst Hand anzulegen. Es gibt zwar ein Notwehrrecht für Autofahrer – das bedeutet aber nicht pauschal, dass sie in so einem Fall straffrei ausgehen würden, wie Höcker es suggeriert. Richter in Berlin fällten unterschiedliche Entscheidungen darüber, ob eine Blockade eine rechtswidrige Nötigung darstellt.

Höcker schreibt, er versichere, dass man „Klimakleber straffrei von der Straße räumen darf“  

Ralf Höcker ist ein Rechtsanwalt aus Köln, dessen Kanzlei laut Medienberichten bereits den türkischen Präsidenten Erdogan in Deutschland, die Ex-RBB-Intendantin Patricia Schlesinger oder die AfD vertrat. 

Wir fragten ihn, weshalb er in seinen Beiträgen nicht erwähnte, dass Gerichte die Frage der Nötigung im Fall der Aktivisten unterschiedlich beurteilen. Er antwortete, dass seiner Ansicht nach nur sehr wenige Strafrechtswissenschaftler und Anwälte eine andere Meinung verträten als er. Die, die anderer Meinung seien, wollten „den Autofahrern lediglich Angst vor der eigenen Zivilcourage machen“. Er könne „jedem versichern, dass die Straßenblockaden der Klimakleber grundsätzlich rechtswidrig sind und man diese Leute straffrei von der Straße räumen darf“, erklärte er in einer E-Mail an uns.

Diese Antworten schickte Ralf Höcker am 20. Dezember 2022 per E-Mail an unsere Redaktion (Screenshot und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)

In seinem Facebook-Beitrag teilte der Anwalt zusätzlich zu seiner Behauptung einen Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg (Beschluss vom 26.05.1997). In dem Fall ging es um eine Polizeianwärterin, die sich auf einen leeren Parkplatz gestellt hatte, um ihn freizuhalten, dann aber von einem Autofahrer mittels Fahrzeug vorsichtig weggedrängt wurde. Das Gericht gab dem Autofahrer Recht. Höcker schreibt dazu auf Facebook: „Wenn man laut obergerichtlicher Rechtsprechung sogar Polizeianwärterinnen mit der Motorhaube aus einer besetzten Parklücke ‚schieben‘ darf, dann darf man erst recht Klimakleber wegtragen.“ 

Richter sahen Voraussetzungen für „rechtswidrige Nötigung“ nicht immer gegeben 

Der Medienrechtsanwalt Christian Solmecke schrieb uns in einer E-Mail, dass es in dem von Höcker zitierten Urteil nicht um Notwehr gegangen sei. „Hier wurden also grundsätzlich unterschiedliche Rechtsfragen diskutiert, sodass das Urteil schon deshalb nicht auf die aktuelle Diskussion übertragbar ist“, schreibt er. Auch Stefan Rehm, Vizepräsident des Deutschen Strafverteidigerverbands, schrieb uns, die beiden Fälle seien nicht vergleichbar. 

Uns gegenüber erklärte Höcker, er zitiere das Urteil nicht als Beleg für seine Ansicht, dass die Blockaden eine „rechtswidrige Nötigung“ darstellen. Das Urteil solle vielmehr zeigen, „dass sogar sehr drastische Maßnahmen zulässig sind, um rechtswidrige Blockaden zu beseitigen“. Ein Urteil des Amtsgerichts Tiergarten von August 2022 belege zudem die Rechtsauffassung, dass die Blockaden rechtswidrige Nötigungen darstellen und daher Notwehr gerechtfertigt sei. 

Eine andere Entscheidung eines Richters desselben Gerichts im Oktober 2022 zeigt aber, wie unterschiedlich Beurteilungen zur Frage, ob die Proteste eine rechtswidrige Nötigung sind, ausfallen können. Darin ordnete der Richter eine Blockade als „nicht verwerflich“ ein und lehnte einen Antrag der Staatsanwaltschaft für einen Strafbefehl ab. Eine Garantie, wie eine Entscheidung ausfallen wird, gibt es also in der Praxis nicht.

Was ist das Notwehrrecht des Autofahrers und wo hat es seine Grenzen?

Die Demonstrierenden wegzutragen wäre rechtlich gesehen eine Nötigung (§ 240 StGB) und bei Verletzungen der Hände eine Körperverletzung (§ 223 StGB), möglicherweise sogar eine schwere. Dafür könnten Autofahrer und Autofahrerinnen bestraft werden – es sei denn, sie handeln aus Notwehr. Dann bleibt die Tat straffrei. Das erklärte uns Stefan Rehm, Vizepräsident des Deutschen Strafverteidigerverbands, per E-Mail.

Mit einem „Notwehrrecht des Autofahrers“ bezieht sich Ralf Höcker auf § 32 des Strafgesetzbuchs. Dort wird Notwehr definiert als „die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden“. 

Rechtsanwalt Solmecke erklärte uns gegenüber via E-Mail, wann ein selbständiges Eingreifen eines Autofahrers denkbar wäre: „Ein Rettungswagen kommt nicht zu einem dringend notwendigen Einsatz – hier dürfte Nothilfe zugunsten der verletzten Person im Einzelfall zulässig sein. Auch wenn man selbst zum Beispiel mit Geburtswehen auf dem Weg zum Krankenhaus ist, dürfte es im Einzelfall unzumutbar sein, auf das Eintreffen der Polizei zu warten.“ Man könne auch darüber diskutieren, ob ein Entfernen bei sehr wichtigen, unaufschiebbaren Terminen wie einem Flugzeugstart zulässig sei. Man müsse aber immer versuchen, die Protestierenden so wenig wie möglich zu verletzen.

Für eine Berufung auf das Notwehrrecht müssen grundsätzlich mehrere Kriterien erfüllt sein, erklären Solmecke und Rehm: Es müsse ein „gegenwärtiger Angriff“ vorliegen, das bedeutet, der individuelle Autofahrer wird in diesem Moment in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Das wäre etwa dann nicht mehr der Fall, wenn die Aktivisten genug Platz gelassen hätten, dass man um sie herumfahren könne. Und die Blockade müsse „rechtswidrig“ sein. Dafür müsste die Aktion der Aktivisten laut Rehm als „verwerflich“ eingestuft werden. 

Solmecke: Sinnvollstes und juristisch sicherstes Mittel – Polizei rufen und warten

Laut Solmecke ist nicht ganz klar, ob die Proteste der Klimaaktivisten rechtswidrig sind. Denn solche Aktionen seien durch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit geschützt, solange die Polizei sie nicht aufgelöst habe. „Allein deshalb sollte man auf das Eintreffen der Polizei warten.“ Er verweist dazu unter anderem auf einen Bericht der Bild, in dem ein internes Schreiben des Stabs Justiz im Polizeipräsidium Berlin zitiert wird. Demnach dürfte in Berlin nur die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob Notwehr oder Nothilfe vorliegt, nicht Polizisten. Diese müssten deshalb auf jeden Fall Anzeigen gegen Menschen schreiben, die die Aktivisten selbst von der Straße entfernen. 

Auch bei Notwehr muss laut Solmecke immer das „mildeste wirksame Mittel“ ergriffen werden, sie muss verhältnismäßig sein. In den meisten Fällen sei das Rufen der Polizei und Abwarten zumutbar. „Wer meint, er dürfe im Rahmen des Notwehrrechts auch unnötig grob und verletzend vorgehen, um den ‚Klimaklebern‘ einen Denkzettel zu verpassen, der irrt – und macht sich mit dieser Selbstjustiz selbst strafbar“, so Solmecke.

Aktivisten selbst zu entfernen ist nicht pauschal erlaubt

Obwohl die Aktivisten, erstmal festgeklebt, praktisch bewegungsunfähig sind, handele es sich bei einer solchen Verkehrsblockade um einen Angriff, so Stefan Rehm, da die Bewegungsfreiheit der Autofahrer eingeschränkt werde. Ein Autofahrer dürfe sich folglich tatsächlich auf das Notwehrrecht berufen, wenn er von Klimaaktivisten blockiert wird. 

Allerdings nicht in jedem Fall, betont auch Rehm. So könne man sich etwa nur dann auf das Notwehrrecht berufen, wenn die Blockade juristisch als „verwerflich“ zu betrachten sei – und ob die Aktionen verwerflich sind, müsse im Einzelfall geprüft werden.

Das zeigt auch die bereits erwähnte aktuelle Rechtsprechung, in der Richter in Berlin die Frage nach der rechtswidrigen Nötigung unterschiedlich bewertet haben. Rehm erklärt daher: „Es kann keine pauschale und sichere Aussage darüber getätigt werden, ob eine zur Notwehrhandlung berechtigende Notwehrlage im Fall der Klimakleber stets gegeben ist!“

Fazit: Für Autofahrer gilt tatsächlich ein Notwehrrecht, aber nicht uneingeschränkt. Es müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein; so muss die Blockade als „verwerflich“ eingestuft werden, um als Nötigung zu gelten. Richter waren dazu in jüngster Vergangenheit unterschiedlicher Meinung. Eine Garantie, dass sie für das Wegtragen der Klimaaktivistinnen – und mögliche Verletzungen – nicht bestraft würden, gibt es für die Autofahrer daher nicht. Zwei Anwälte empfehlen uns gegenüber, bei einer Blockade die Polizei zu rufen und nicht selbst Hand anzulegen. Das Notwehrrecht erlischt, sobald die Polizei vor Ort ist. Eine Nötigung durch die Aktivisten, die das Notwehrrecht des Autofahrers möglich macht, liegt außerdem nicht vor, wenn man etwa um die Protestierenden herumfahren kann. 

Redigatur: Sarah Thust, Alice Echtermann

Update, 5. Januar 2023: Wir haben an einigen Stellen schärfer zwischen den Begriffen Urteil und Entscheidung getrennt.

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