Keine Belege, dass Pfizer mit EU über funktionslose Covid-19-Impfdosen verhandelte – EMA dementiert
Wurden der EU Millionen Covid-19-Impfstoffdosen geliefert, die funktionslos waren? Das wird zumindest auf Twitter suggeriert. Ein Videoausschnitt des EU-Sonderausschusses zur Covid-19-Pandemie soll das belegen. Doch die Aufnahme ist kein Beleg für die Behauptung. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) weist die Vorwürfe als „völlig unbegründet“ ab.
Der Pharmakonzern Pfizer soll mit der EU ausgehandelt haben, dass bis zu 50 Prozent seiner Impfdosen gegen Covid-19 funktionslos sein dürfen. Das zumindest behauptet der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg auf Twitter. Ein Nutzer kommentierte: „Woher wissen Sie das mit den 50 Prozent?“ Homburg antwortete mit Verweis auf einen anderen Twitter-Beitrag, den er am 31. Oktober veröffentlichte. Darin ist ein Videoausschnitt von einer Sitzung des EU-Sonderausschusses zur Covid-19-Pandemie zu sehen.
Die vermeintliche Quelle liefert jedoch keinen Beleg für die Behauptung. Laut der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) ist die Behauptung „völlig unbegründet“; die EMA gehe „keine Kompromisse bei den Standards ein“, schrieb uns die Behörde.
EMA: Impfstoff-Empfehlung stützt sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse
Wir haben die EMA gefragt, ob Pfizer mit der Behörde darüber verhandelt habe, dass auch funktionslose Impfstoffdosen geliefert werden dürften. Ein Sprecher der EMA schrieb uns per E-Mail: „Diese Behauptung ist völlig unbegründet“, man gehe „keine Kompromisse bei den Standards“ der geprüften Arzneimittel ein und stütze „jede Empfehlung auf die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Sicherheit, pharmazeutische Qualität und Wirksamkeit eines Impfstoffs“.
Laut dem in Deutschland für die Zulassung und Überwachung von Impfstoffen zuständigen Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sind für Änderungen der Spezifikation von Impfstoffen vor allem Daten erforderlich, welche die Wirksamkeit belegen. Solche Änderungen würden also „nicht von einzelnen Behörden überprüft oder gar verhandelt“.
Video vom EU-Parlament: Kein Beleg für angebliche Verhandlung über die Lieferung „funktionsloser“ Impfdosen
Als Beleg für die angebliche Verhandlung von Pfizer über funktionslose Impfstoffdosen führt Homburg einen Twitter-Beitrag an, in dem ein Videoausschnitt einer Sitzung des Sonderausschusses zur Covid-19-Pandemie des EU-Parlaments vom 10. Oktober 2022 verlinkt ist. Der Videoausschnitt findet sich auch auf der Webseite des EU-Parlaments.
Darin ist zu sehen (ab Stunde 15 Minute 52), wie Michèle Rivasi, Abgeordnete der französischen Partei Europe Écologie (Grüne Fraktion), Fragen an eine Pfizer-Vertreterin stellt. Sie sagt, sie stütze sich auf vertrauliche Dokumente, die Pfizer an die EMA übermittelt habe. In den Dokumenten stehe: Um die Qualität des Impfstoffes zu garantieren, müssten 70 Prozent der in einer Impfdose enthaltenen mRNA intakt sein. Am 20. November 2020 sei festgestellt worden, dass es sehr viele Impfdosen mit einem geringeren Anteil intakter mRNA gebe. Daraufhin sei der Schwellenwert nicht mehr bei 70 Prozent intakter mRNA in Impfdosen gewesen, sondern plötzlich bei 50 Prozent. Rivasi fragt unter anderem: „Wer hat diese Schwelle geändert?“
Eine Pfizer-Vertreterin antwortet (ab Stunde 15 Minute 59), dass der Zerfall von mRNA ein Problem sei, dem man damit begegne, dass die Impfstoffe bei -80 Grad Celsius geliefert würden. Durch technologische Verbesserungen seien Lieferungen bei normalen Kühlschranktemperaturen inzwischen auch möglich. Rivasi fragt erneut, warum der Schwellenwert von etwa 70 Prozent intakter mRNA auf 50 Prozent geändert wurde. Die Pfizer-Vertreterin antwortet: „Meinen Sie den Zerfall von mRNA? Ich verstehe nicht, worum geht es bei ihrer Frage?“ Danach wird Rivasi gebeten, die „technische Frage“ schriftlich zu stellen, um zurück zur Tagesordnung zu gehen.
Wie funktioniert ein mRNA-Impfstoff?
In dem Videoausschnitt, den Homburg als vermeintliche Quelle nennt, geht es also um den Anteil intakter, sprich funktionsfähiger mRNA in Impfdosen, nicht darum, ob die Impfdosen an sich funktionslos sind oder nicht. Virologe Friedemann Weber, Direktor am Institut für Virologie der Justus-Liebig-Universität in Gießen, sagte uns am Telefon: „Es ist ein Unterschied, ob man sagt, bis zu 50 Prozent der Impfdosen seien funktionslos oder ob man sagt, dass in 100 Prozent der Impfdosen nur etwa 50 Prozent intakte mRNA drin sei.“
Die mRNA sei ein empfindliches Molekül, so Weber, und sehr instabil. Laut der Pfizer-Vertreterin, die in der Sitzung des Sonderausschusses zur Covid-19-Pandemie sprach, versuchte das Unternehmen dieses Problem zu lösen, indem es die Impfstoffe auf -80 Grad Celsius herunterkühle. Margaret Liu, Impfstoffforscherin und Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Impfstoffe, sagte gegenüber dem US-amerikanischen Radiosender NPR, diese Kühlbedingungen seien vergleichbar mit dem Einfrieren von Lebensmitteln, um sie vor dem Verderben zu bewahren. „Die chemische Reaktionen – die Enzyme, die RNA abbauen – laufen langsamer ab.“
Kühlbedingungen des mRNA-Impfstoffs von Biontech/Pfizer
Grenzwerte für den Anteil intakter mRNA sind vertrauliche Geschäftsinformationen
Die Wirksamkeit des mRNA-Impfstoffs hänge von einer geeigneten Menge intakter mRNA ab, so ein Sprecher der Europäischen Arzneimittel-Agentur. Weil die mRNA jedoch relativ instabil sei, „wurden geeignete Akzeptanzgrenzen [Schwellenwerte, Anm. d. Red.], festgelegt“, um einen gleichbleibenden Gehalt an intakter mRNA in jeder Charge sicherzustellen und damit auch die Wirksamkeit des Covid-19-Impfstoffes. Wie hoch dieser Wert genau ist, schrieb der EMA-Sprecher jedoch nicht. Auf Rückfrage hieß es: „Die genauen Grenzwerte [für den Anteil intakter mRNA, Anm. d. Red] sind vertrauliche Geschäftsinformationen des Zulassungsinhabers, die die EMA nicht offenlegen kann.“
So erklärt auch Virologe Weber die Herausforderung bei der Festlegung des Grenzwertes: „RNA ist nun mal ein empfindliches Molekül, deshalb muss man mit gewissen Wahrscheinlichkeiten operieren.“ In diesem Fall hieße das, die EMA erwarte einen ausreichend hohen Anteil intakter mRNA, damit geimpfte Personen auf jeden Fall eine Immunantwort entwickelten und so durch die Impfung geschützt seien.
Vor Impfstoff-Zulassung: Anteil intakter mRNA war „wichtiger Einwand“ der EMA
Doch wenn es sich bei dem Grenzwert für die mRNA in den Impfstoffen um Geschäftsgeheimnisse handelt, wie kommt Michèle Rivasi dann zu ihrer Frage im EU-Parlament?
Die EMA antwortete uns dazu, dass sich Rivasi auf EMA-Dokumente beziehe, die durch einen Cyberangriff Ende 2020 illegal und – laut Darstellung der EMA – teilweise verfälscht im Internet verbreitet wurden. Laut der medizinischen Fachzeitschrift British Medical Journal (BMJ), dem die geleakten, potenziell verfälschten Dokumente vorlagen, enthielten diese Rückfragen der EMA vor der Zulassung an die Impfstoffhersteller, unter anderem zum Anteil intakter mRNA in den Impfstoffdosen.
In einer E-Mail der EMA vom 23. November 2020 steht laut dem BMJ: Es sei „ein signifikanter Unterschied bei der prozentualen RNA-Integrität (Funktionstüchtigkeit, Anm. d. Red.)“ zwischen den Chargen aus den Zulassungsstudien und den vorgeschlagenen kommerziellen Chargen festgestellt worden. Demnach enthielten erstere etwa 78 Prozent und letzte 55 Prozent intakte mRNA. Die Ursache, so soll es weiter heißen in der E-Mail der EMA, sei unbekannt und die Auswirkungen des geringeren Anteils intakter mRNA auf die Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffes „noch nicht definiert“.
Der EMA-Pressesprecher wies darauf hin, dass in den veröffentlichten Dokumenten zwar der Austausch zwischen der EMA und Biontech/Pfizer abgebildet sei, jedoch nur bis Anfang Dezember 2020. Zu diesem Zeitpunkt habe die EMA noch Fragen zum Anteil intakter mRNA an Biontech/Pfizer gehabt und diese formell als „wichtigen Einwand“ eingestuft, wie auch das BMJ schrieb. Diese Aussage deckt sich mit dem öffentlich einsehbaren EMA-Bewertungsbericht zum Covid-19-Impfstoff von Biontech/Pfizer vom 19. Februar 2021.
Blieben die „wichtigen Einwände“ ungelöst, würde ein Arzneimittel nicht zugelassen werden, so der EMA-Pressesprecher weiter. Was den Anteil der intakten mRNA in Covid-19-Impfdosen angehe, habe Biontech/Pfizer „die erhobenen Einwände zufriedenstellend gelöst und erforderliche Daten Anfang Dezember 2020 nachgereicht, sodass die EMA eine positive Stellungnahme für diesen Impfstoff abgeben konnte“.
Die bedingte Zulassung des Covid-19-Impfstoffes von Biontech/Pfizer wurde am 21. Dezember 2020 empfohlen. Die Europäische Kommission folgte dieser Empfehlung und hatte den Impfstoff von Biontech/Pfizer zugelassen.
Von unabhängigem Labor geprüft: Impfstoffchargen erfüllen Zulassungsbedingungen
Wie hoch konkret der Anteil intakter mRNA sein muss, bleibt für die Öffentlichkeit unbekannt. Wir haben dazu auch direkt bei den Impfstoffherstellern nachgefragt, aber trotz mehrfacher Anfrage bis zur Veröffentlichung keine Rückmeldung von Pfizer und Biontech erhalten. Aber das PEI erklärt uns gegenüber, dass die bei der Zulassung festgelegten Spezifikationen eines Impfstoffs, wie zum Beispiel der Anteil intakter mRNA, in der EU von amtlichen Arzneimittelkontrolllaboren (OMCL –Official Medicines Control Laboratory) im Rahmen der Chargenfreigabe der Impfstoffe überprüft werden. Diese medizinischen Kontrolllabore überprüften Stichproben jeder Impfstoffcharge, unabhängig von den Herstellerunternehmen. Wenn es Chargen gibt, die diese Spezifikationen nicht erfüllen, erhalten diese laut PEI keine Freigabe. Das PEI ist eines von neun OMC-Laboren in Deutschland.
Da bei der Diskussion zwischen Rivasi und der Pfizer-Vertreterin im EU-Parlament Belgien als Beispiel genannt wurde, haben wir bei Sciensano, einem dort ansässigen OMCL, gefragt, ob der Anteil intakter mRNA in den Impfstoffdosen von Biontech/Pfizer unterschiedlich hoch lag.
Genaue Angaben darüber, welchen Anteil intakter mRNA sie in den Impfstoffdosen gemessen haben, hat uns Sciensano nicht mitgeteilt. Die Pressestelle schrieb uns jedoch: „Alle seit 2021 über 500 getesteten Chargen wurden mit der zugelassenen Freigabespezifikation in Europa für konform erklärt.“ Die sogenannte Freigabespezifikation sei in der Regel höher als die Haltbarkeitsspezifikation, also die Spezifikation für das auf der Impfstoffdosis angegebene Haltbarkeitsdatum. So sei die Wirkung der Impfstoffe während der gesamten Haltbarkeitsdauer gewährleistet.
Fazit: Die Europäische Arzneimittel-Agentur dementiert, mit Pfizer ausgehandelt zu haben, dass bis zu 50 Prozent der Covid-19-Impfdosen funktionslos sein dürften: Man gehe „keine Kompromisse bei den Standards“ der geprüften Arzneimittel ein, so ein Sprecher gegenüber CORRECTIV.Faktencheck. Jede Empfehlung für eine Zulassung stütze sich auf die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse. In dem Videoausschnitt der Sitzung des Sonderausschusses zur Covid-19-Pandemie des EU-Parlaments geht es um etwas Anderes: Den Anteil intakter mRNA in Covid-19-Impfdosen. Zwar ist dieser ausschlaggebend für die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe, doch die EMA hat laut eigener Aussage eine geeignete Akzeptanzgrenze festgelegt, um die Wirksamkeit der Impfdosen sicherzustellen. Wichtige Einwände, die die EMA gegenüber den vorgelegten Daten von Biontech/Pfizer Anfang Dezember 2020 hatte, wurden laut EMA vor der Zulassung „zufriedenstellend gelöst“.
Stefan Homburg begann schon früh, irreführende Behauptungen rund um die Corona-Pandemie zu verbreiten, unter anderem auf Querdenken–Demonstrationen. Er fungierte zudem als Kassenwart bei dem Verein „Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie“ (MWGFD e.V), der 2020 mit dem Fälschen von Attesten zur Befreiung von der Maskenpflicht auffiel, wie wir berichteten.
Redigatur: Matthias Bau, Uschi Jonas