Impfstoff-Entwicklung als Rettung eines Verlustgeschäfts? Behauptungen von Stefan Homburg über Biontech führen in die Irre
Der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg suggeriert auf Twitter, Biontech habe seinen Covid-19-Impfstoff „an einem Wochenende“ entwickelt, quasi um Verluste der Firma auszugleichen. Das stimmt so nicht. Biontech ist laut Medienberichten durch Investoren abgesichert und der Impfstoff wurde monatelang erforscht.
Das Biotechnologie-Unternehmen Biontech hat den ersten in der Europäischen Union zugelassenen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt. Der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg, der der Querdenken-Bewegung nahesteht, behauptet auf Twitter, Biontech habe 2019 einen Verlust von 179 Millionen Euro gemacht. Zudem suggeriert er, die Firma habe den Impfstoff „an einem Wochenende entwickelt“, um sich aus ihrer angeblich schlechten finanziellen Lage zu befreien.
Der Tweet wurde am 18. Januar veröffentlicht und verbreitete sich anschließend auch auf Telegram und Facebook. Geteilt wurde er unter anderem im Telegram-Kanal des umstrittenen Arztes Bodo Schiffmann.
Unsere Recherche zeigt: Den Behauptungen von Homburg fehlt wichtiger Kontext. Die Zahlen sind größtenteils richtig. Doch die Andeutung, dass der Impfstoff ohne Sorgfalt entwickelt wurde, nur um die Firma vor einer Pleite zu retten, ist irreführend.
Biontech-Chef und Mitgründer Uğur Şahin hat den Impfstoff gegen Covid-19 laut Medienberichten in sehr kurzer Zeit entworfen, doch die Studien und das Zulassungsverfahren haben Monate gedauert. Bei Forschungs- und Entwicklungsunternehmen wie Biontech geht es um langfristige Investitionen und es kann Jahre dauern, bis sie Gewinne erzielen.
Biontech hat 2019 mehr als 226 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung ausgegeben – und Verluste gemacht
Konkret schreibt Homburg: „Die Fa. Biontech machte 2019 einen Verlust von 179 Mio. Euro. Im selben Jahr erhielten der Vorstand Sahin und seine Ehefrau Vergütungen von 16,4 Mio. Euro. Marktfähige Krebsprodukte gab es bisher es nicht. Da kam der an einem Wochenende entwickelte Impfstoff wie gerufen.“ In einem zweiten Twitter-Beitrag ergänzt er: „Eigentliches Geschäftsfeld von Biontech ist die Krebsforschung, die bisher komplett erfolglos blieb. Das ganze [sic] riecht für mich nach Bio-Wirecard. Um die Angaben nachzuprüfen, geben Sie den Firmennamen ein und öffnen Sie den Konzernabschluss 2019.“
Das haben wir getan: Im Unternehmensregister des Bundesanzeigers haben wir nach Biontech gesucht. Dabei erhielten wir mehrere Berichte für mehrere Unternehmen, die teils Tochtergesellschaften von Biontech sind. Homburg bezieht sich aber vermutlich auf die Biontech SE in Mainz, die Muttergesellschaft („Holding“). Für sie wird ein Konzernabschluss für das Geschäftsjahr 2019 angezeigt.
Der Konzernabschluss wurde auch auf der Webseite des Unternehmens veröffentlicht. Dort steht unter „Konzern-Gesamtergebnisrechnung“ der „Gesamtverlust der Periode nach Steuern“ (Seite 5). Er lag im Jahr 2019 bei 179,095 Millionen Euro netto, wie auch Homburg in seinem Tweet angibt. Auch 2017 und 2018 verzeichnete die Biontech SE Verluste in Millionenhöhe.
Dass das Minus 2019 besonders groß ausfiel, war vor allem auf die gestiegenen Forschungs- und Entwicklungskosten zurückzuführen. Allein 2019 investierte Biontech mehr als 226 Millionen Euro in Forschung und Entwicklung (Seite 4). Das Minus bedeutet jedoch nicht, dass Biontech in großen finanziellen Schwierigkeiten war. In einer Pressemitteilung zu der Jahresbilanz steht: „Zum 31. Dezember 2019 betrugen die liquiden Mittel 519,1 Millionen Euro.“
Hinter Biontech stehen zahlreiche Investoren, die die Forschung finanzieren
Im Juli 2020 schrieb auch das Handelsblatt, dass bei Biontech „reichlich Liquidität vorhanden“ sei. Im November berichtete die Deutsche Welle: „In den zwölf Jahren seiner Existenz hat das Unternehmen noch nie einen Gewinn gemacht. Und doch ist es an der Börse mehr wert als die deutsche Lufthansa oder die ehrwürdige Commerzbank.“ Demnach stünden hinter Biontech potente Geldgeber wie die Brüder Thomas und Andreas Strüngmann, die mit dem Pharmaunternehmen Hexal reich geworden seien.
Biontech erschien schon vor der Corona-Pandemie in der medialen Berichterstattung: So berichtete die Wirtschaftswoche am 4. Januar 2019 über „Deutschlands große Biotech-Hoffnung“, die unter anderem an einem „individualisierten Impfstoff“ gegen Krebs forsche. Dabei erforschte das Unternehmen auch mRNA-Behandlungen. Seit Oktober 2019 ist die Biontech SE ein börsennotiertes Unternehmen.
Uğur Şahin und Özlem Türeci erhielten einen Großteil ihrer Vergütung in Form von Aktienoptionen
Aus dem Konzernabschluss-Bericht im Unternehmensregister geht hervor, dass der Vorstandsvorsitzende Uğur Şahin und seine Ehefrau Özlem Türeci, die den Vorstand Medizin vertritt, 2019 Vergütungen von insgesamt 16,477 Millionen Euro erhielten (Şahin: 7,064 Millionen Euro; Türeci: 9,413 Millionen Euro). Das gibt Homburg so wieder, lässt aber relevanten Kontext aus.
Eine Tabelle auf Seite 65 zeigt: Mehr als 95 Prozent ihrer Vergütung erhielten Şahin und Türeci 2019 durch das „Mitarbeiteraktienoptionsprogramm“, also in Form von Aktienoptionen (anteilsbasierte Vergütung nach IFRS 2). Im Konzernabschluss von Biontech heißt es dazu: „Als Entlohnung für die geleistete Arbeit erhalten Mitarbeiter von BioNTech […] eine anteilsbasierte Vergütung in Form von Eigenkapitalinstrumenten“ (Seite 20). Eigenkapitalinstrumente sind zum Beispiel Aktien oder GmbH-Anteile (PDF, Seite 4).
Şahin erhielt 2019 eine „fixe und variable Vergütung“ von 311.000 Euro im Jahr 2019, seine Ehefrau bekam 370.000 Euro.
Der Impfstoff gegen Covid-19 wurde laut Medienberichten an einem Wochenende entworfen, aber entwickelt und erforscht wurde er fast ein Jahr lang
Homburg behauptet in seinem Tweet, der Impfstoff gegen Covid-19 sei „an einem Wochenende entwickelt“ worden. Auch hier fehlt Kontext. Eine Sprecherin von Biontech schrieb uns per E-Mail, dass das nicht stimme.
„An der Plattformtechnologie arbeiten Ugur Sahin und Frau Türeci seit mehr als 25 Jahren, bei BioNTech seit 2008. Auf Grundlage dieser Vorarbeiten war die Entwicklung der Impfstoffkandidaten erst möglich. Der Vorteil der Technologie ist, dass das Design von Impfstoffen relativ schnell ermöglicht. So haben Kollegen in wenigen Tagen 20 verschiedene Impfstoffkandidaten designed, also entworfen – nicht entwickelt – die dann zwischen April und November in mehr als 44.000 Probanden getestet worden sind. Dass der Impfstoff an einem Wochenende entwickelt wurde, stimmt also nicht“, so die Sprecherin.
Zuvor berichtete der Podcast von Gimlet und The Wall Street Journal, Biontech-Mitbegründer Şahin habe zehn Kandidaten für einen Covid-19-Impfstoff an einem Wochenende am Computer entworfen (ab Minute 8:45). Am Montag, 27. Januar 2020, habe Biontech dann auf dieser Basis mit der Planung von Forschung und Entwicklung begonnen. Der Business Insider berichtete, dass Şahin einen „groben Entwurf an einem Wochenende“ erstellt habe.
„Ein mRNA-basierter Impfstoff ist schneller herzustellen als herkömmliche Impfstoffe, da nur der Bauplan produziert werden muss, nicht das Antigen selbst“, erklärt Biontech auf seiner Internetseite.
Das liegt daran, dass für die Entwicklung eines RNA-Impfstoffes nur die genetische Sequenzinformation des Coronavirus nötig ist, die am 10. Januar 2020 erstmals veröffentlicht wurde.
Was mRNA ist und wie mRNA-Impfstoffe funktionieren, haben wir bereits in mehreren Faktenchecks erklärt. Bei einem mRNA-Impfstoff wird eine genetische Information, nämlich der „Bauplan“ für ein Oberflächenprotein von SARS-CoV-2, gespritzt, „sodass der Körper das Antigen selbst bildet“, schreibt das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) auf seiner Webseite. Das Immunsystem produziert dann Abwehrstoffe (Antikörper) gegen das Virusprotein.
Die Forschung und Entwicklung der Covid-19-Impfung von Biontech dauerte insgesamt knapp ein Jahr: Mitte November 2020 teilte Biontech mit, die Phase-3-Studie sei erfolgreich abgeschlossen. Am 11. Dezember 2020 erteilte die Food and Drug Administration (FDA) eine Notfallzulassung für den Impfstoff in den USA, zwölf Tage später folgte die Zulassung in der EU. Die Wirkweise, Sicherheit und Zuverlässigkeit der Impfung wurde in drei klinischen Studienphasen untersucht. Der Impfstoff wurde laut Biontech an mehr als 44.000 Probanden getestet.
Fazit
Die Behauptungen, die Homburg in seinem Tweet über Biontech aufstellt, sind irreführend, weil er relevanten Kontext auslässt. Die von ihm genannten Zahlen stimmen zwar, und es ist richtig, dass das Unternehmen Verluste macht. Doch das ist für ein Forschungsunternehmen nicht ungewöhnlich, und das Unternehmen befand sich Berichten zufolge keineswegs in einer finanziell schlechten Lage.
Zudem behauptet Homburg überspitzt, Biontech habe den Impfstoff an einem Wochenende entwickelt. Das trifft laut Biontech nicht zu. Die ersten Entwürfe waren sehr schnell vorhanden, doch die Entwicklung und Erforschung des Impfstoffs dauerte Monate, bevor er letztlich zunächst in den USA und kurz darauf in der EU zugelassen wurde.
Redigatur: Alice Echtermann, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Biontech Konzernabschluss 2019 im Unternehmensregister: Link
- „Wie Uğur Şahin den Biontech-Impfstoff an einem einzigen Tag entwickelte“, Business Insider (31. Dezember 2020): Link
- Allgemeine Informationen zum Impfstoff Comirnaty (BNT162b2, Biontech / Pfizer) vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: Link
- Hintergrundinformationen zur Entwicklung von SARS-CoV-2- Impfstoffen vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI): Link
- Biontech über mRNA-Impfstoffe zur Bekämpfung der Covid-19 Pandemie: Link