Faktencheck

Nein, Australien hat kein Punktesystem zur Identifikation in Sozialen Netzwerken eingeführt

In Australien gibt es ein Punktesystem, über das sich Personen eindeutig ausweisen können, zum Beispiel um ein Bankkonto online zu eröffnen. In einigen Beiträgen heißt es nun: Ein Video belege, dass hundert solcher Punkte in Australien nötig seien, um das Internet und Soziale Netzwerke zu nutzen. Das stimmt nicht.

von Kimberly Nicolaus

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Das 100-Punkte-System gilt in Australien nicht für die Nutzung Sozialer Netzwerke (Quelle: Yui Mok / empics / Picture Alliance)
Behauptung
Ein Video belege, dass in Australien ein Sozialkredit-System eingeführt worden sei, das den Zugang zum Internet regle. Bürgerinnen und Bürger benötigten 100 Identifikationspunkte, um Soziale Netzwerke nutzen zu können. Die Polizei hätte Zugriff auf die Profile in Sozialen Netzwerken und auf Privatnachrichten.
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Falscher Kontext
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Falscher Kontext. Das Video stammt von einer Nachrichtensendung aus 2021. Damals empfahl ein Ausschuss, das australische 100-Punkte-System auch auf Soziale Netzwerke anzuwenden. Doch Australien hat diese Regelung nie eingeführt. Das Internet ist frei zugänglich. Die australische Bundespolizei hat Zugriff auf Privatnachrichten, wenn es um die nationale Sicherheit geht.

Wer 100 Identifikationspunkte nicht vorweisen kann, darf Soziale Netzwerke nicht nutzen? Das soll laut einem Nachrichten-Video für Personen in Australien gelten, heißt es auf Twitter, Telegram und Tiktok. Sogar der generelle Zugang zum Internet soll über ein solches Sozialkredit-System reguliert werden. Und mehr noch: Die Polizei könne auf die Konten und Privatnachrichten der Nutzerinnen und Nutzer zugreifen. Diese Behauptung verbreitete sich bereits im Dezember 2022 auf Englisch und suggeriert eine weitreichende Überwachung durch den Staat.  

Das stimmt so nicht. Tatsächlich werden in Australien 100 Identifikationspunkte benötigt, um online zum Beispiel ein Bankkonto zu eröffnen. Sie werden durch die Vorlage von etwa dem Führerschein, dem Pass und anderen Dokumenten erbracht. Aber für die Nutzung des Internets oder von Sozialen Netzwerken braucht man diese Punkte nicht.

Das Video ist echt und stammt aus dem Jahr 2021. Damals empfahl ein Ausschuss so ein Sozialpunkte-System für Soziale Netzwerke, doch es wurde nie eingeführt. Die australische Bundespolizei darf auf Privatnachrichten zugreifen, wenn es um die nationale Sicherheit geht.

Dieses Video des australischen Nachrichtensenders 9 News Adelaide verbreitet sich mit Falschmeldungen über die in Australien eingesetzten Identifikationspunkte (Quelle: Tiktok; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Video aus 2021: Regierung prüfe Empfehlung zu 100 Identifikationspunkten gegen Online-Missbrauch

Eines Vorweg: Es gibt in Australien ein System mit Identifikationspunkten. Um online ein Bankkonto zu eröffnen oder den Führerschein zu beantragen, müssen Personen in Australien 100 solcher Punkte vorweisen. Das funktioniert, indem sie für jedes vorgelegte Dokument, das sie eindeutig identifiziert, Punkte erhalten. Je nach Bundesstaat und Verwendungszweck unterscheidet sich die Höhe der Punktzahl, beispielsweise: Reisepass (70 Punkte), Geburtsurkunde (70 Punkte), oder Studierendenausweis (40 Punkte). 

Doch was hat es mit den Punkten auf sich, die angeblich für den Zugang zu Sozialen Netzwerken gebraucht werden? 

Wir folgen den Hinweisen im Video. Ab Sekunde acht ist zu sehen: Der Reporter befindet sich in der australischen Stadt Adelaide. Mit ihm spricht die Journalistin über das Thema „Social Media Security“ und das Logo des Nachrichtenkanals enthält die Zahl Neun.

Mithilfe des Logos des Nachrichtensenders, dem Thema „Social Media Security“ sowie dem Standort des Reporters lässt sich der Ursprung des Videos ausfindig machen (Quelle: Facebook; Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Über eine Google-Suche mit diesen Stichworten stoßen wir auf das Original-Video. Ursprünglich veröffentlichte der australische Nachrichtensender 9 News Adelaide das Video im April 2021 auf Facebook. Dazu heißt es: „Die Regierung erwägt einen Plan, um gegen Social-Media-Missbrauch vorzugehen. Nutzer könnten bald gezwungen sein, bei der Nutzung Sozialer Netzwerke 100 Identifikationspunkte vorzulegen.“ 

Um den generellen Internetzugang geht es im Video nicht. Doch ab Sekunde 13 sagt der Reporter: „Im Grunde funktioniert es genauso wie ein Ausweis. Australier sind gezwungen, 100 Identifikationspunkte, wie ihren Führerschein oder Reisepass, vorzulegen, wenn sie ein Profil in Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter nutzen. […] Und das alles ist Teil eines harten Vorgehens gegen Online-Missbrauch. […] Die Empfehlungen einer parlamentarischen Untersuchung sind nun veröffentlicht und werden von der Regierung geprüft.“ 

Australien setzte Identifikationspunkte-System für Soziale Netzwerke nicht um 

Die vom Reporter angesprochenen Empfehlungen stehen im Bericht über die Untersuchung zu familiärer, häuslicher und sexueller Gewalt von März 2021. Dieser stammt vom Ständigen Ausschuss für Sozialpolitik und Recht des Repräsentantenhauses. Darin steht auf Seite 31:

  • „Um ein Social-Media-Konto zu eröffnen oder aufrechtzuerhalten, sollten die Kunden gesetzlich verpflichtet werden, sich gegenüber einer Plattform mit 100 Identifikationspunkte zu identifizieren, so wie eine Person sich für ein für ein Mobiltelefon-Konto oder den Kauf einer SIM-Karte ausweisen muss.“
  • „Soziale Netzwerke müssen diese Identifizierungsdaten auf Anfrage des eSafety-Beauftragten, der Strafverfolgungsbehörden oder auf Anweisung eines Gerichts zur Verfügung stellen.“
  • Die Regierung solle eine Regelung erwägen, die es ermöglicht, dass Strafverfolgungsbehörden in bestimmten Fällen mit einer richterlichen Anordnung auf die Ende-zu-Ende verschlüsselten Daten einer Plattform zugreifen können. 

Dass auch das Internet beschränkt werden soll, kommt in dem Bericht nicht vor. Das heißt: 2021 gab es in Australien eine Empfehlung dafür, dass Personen 100 Identifikationspunkte vorweisen müssen, um ein Konto in Sozialen Netzwerken zu eröffnen. Das hätte Anonymität und Online-Missbrauch verhindern sollen. Doch: „Die australische Regierung unterstützte die Empfehlung nicht“, schrieb ein Pressesprecher von Kommunikationsministerin Michelle Rowland auf unsere Anfrage. Die Regierung habe darauf verwiesen, dass ein Gleichgewicht zwischen Sicherheit, Privatsphäre und Gefahrenabwehr gefunden werden müsse. Es sei kein Sozialkredit-System für den Zugang zu Sozialen Netzwerken in Australien eingeführt worden, schrieb der Sprecher. 

Australische Bundespolizei greift unter gewissen Umständen auf Privatnachrichten zu

Das Internet und Soziale Netzwerke sind also für Personen in Australien nach wie vor frei zugänglich. Doch inwiefern greift die Polizei auf ihre Nutzerdaten zu? Wir haben die Polizeibehörden in den einzelnen Bundesstaaten in Australien kontaktiert. Rückmeldungen erhielten wir aus dem Northern Territory und Queensland. Man verwies uns jeweils an die australische Bundespolizei (AFP). Von dort erhielten wir trotz mehrfacher Nachfrage keine Antwort.

Fest steht aber: Australien verabschiedete im Dezember 2018 ein Gesetz, das den Geheimdiensten und Strafverfolgungsbehörden, darunter auch der Bundespolizei, Zugriff auf verschlüsselte Nachrichten ermöglicht, wenn es um die nationale Sicherheit geht. Auch in Deutschland wertet das Bundeskriminalamt bei schweren Straftaten im Einzelfall verschlüsselte Nachrichten aus. 

Fazit: Um sich online eindeutig auszuweisen, müssen Personen in Australien in bestimmten Fällen mehrere Ausweisdokumente vorlegen. Deren Bewertung folgt einem 100-Punkte-System. Um Zugang zu Sozialen Netzwerken oder zum Internet zu erhalten, ist das nicht notwendig. Richtig ist, dass die australische Bundespolizei Zugriff auf Privatnachrichten hat, wenn es um die nationale Sicherheit geht.

Redigatur: Steffen Kutzner, Gabriele Scherndl

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Nachrichtenbeitrag von 9 News Adelaide, 1. April 2021: Link
  • Bericht über die Untersuchung zu familiärer, häuslicher und sexueller Gewalt, Ständiger Ausschuss für Sozialpolitik und Recht, März 2021: Link (archiviert)