Faktencheck

Neuseeland: Nein, die Zahl der Patienten unter 40 mit Brustschmerzen ist nicht extrem gestiegen

Seit der Pandemie und damit einhergehend seit den Impfungen gegen Covid-19 ist angeblich die Zahl der Notfallbehandlungen von Brustschmerz-Patienten unter 40 in Neuseeland stark gestiegen – von 111 auf über 20.000 pro Jahr. Der Grund für den Anstieg ist jedoch weder die Impfung noch die Pandemie.

von Steffen Kutzner

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Mit Covid-Impfungen hat die plötzlich gestiegene Zahl von Brustschmerzpatienten in Neuseeland nichts zu tun (Symbolbild: Sonja Rachbacher / Shotshop / Picture Alliance)
Behauptung
Die Zahl der Patienten unter 40 Jahren, die wegen Brustschmerzen in eine Notaufnahme in Neuseeland gehen, sei von 111 auf über 20.000 pro Jahr gestiegen. Das hänge mit den mRNA-Impfungen gegen Covid-19 zusammen.
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Die Zahl der Patienten mit Brustschmerzen ist deshalb stark gestiegen, weil die Daten vor der Pandemie nur von einem Bruchteil der zuständigen Ämter übermittelt wurden und jetzt vollständig erfasst werden.

„Während im Jahr 2018 lediglich 111 solcher Fälle verzeichnet wurden, stieg die Zahl 2019 auf 2.219 und 2020 auf 4.406 an“, heißt es in einem Artikel von Report24 vom 6. Oktober 2024. Die Rede ist von Patienten unter 40 Jahren, die wegen Brustschmerzen eine Notaufnahme in Neuseeland aufsuchen. Die Zahlen stiegen weiter: „2021 wurden 13.063 Fälle registriert, 2022 sogar 21.416“ und für 2024 sei die Tendenz noch einmal höher, schreibt das für Desinformation bekannte österreichische Medium

Report24 nimmt die Zahlen zum Anlass, um Stimmung gegen Covid19-Impfungen zu machen, die Ursache für die Beschwerden sein sollen. Auch der Blog Kettner Edelmetalle, der schon öfter Desinformation verbreitete, sprang auf den Zug auf. Auf X kursiert die Behauptung auch auf Spanisch und Polnisch.

Doch besteht tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Brustschmerzen und den Impfungen gegen Covid-19? 

Kein Anstieg in Notaufnahmen: Zahl der Patienten mit Brustschmerzen wurde vorher kaum übermittelt

Auf unsere Anfrage teilte uns Meredith Barker, Pressesprecherin des neuseeländischen Gesundheitsministeriums mit, dass für die Datenerhebungen Health New Zealand zuständig ist. Das ist eine staatliche Organisation, die sich um die Bereitstellung und Planung des Gesundheitssystems und seiner medizinischen Angebote kümmert. Auch ein Krankenhaus und eine Nicht-Regierungsorganisation im Gesundheitsbereich verwiesen uns auf Health New Zealand als Quelle für die Daten zu Brustschmerz-Patienten.

Eine Sprecherin von Health New Zealand erklärte uns, weshalb die Patientenzahlen so stark gestiegen sind: Die Daten wurden vor dem Jahr 2020 praktisch nicht erhoben. „Der scheinbar starke Anstieg in den letzten sechs Jahren ist auf eine unvollständige Datenerfassung zurückzuführen und nicht auf einen tatsächlichen Anstieg der Zahl der Fälle von Brustschmerzen in der Notaufnahme“, schrieb uns die Sprecherin.

Für das Sammeln solcher Daten waren in Neuseeland bis 2022 die sogenannten „district health boards“ zuständig, die nach Regionen aufgeteilt sind. In Deutschland gibt es für diese Organisationen kein Pendant. Nur „zwei bis vier“ der zwanzig „district health boards“ meldeten vor 2020 die Symptome, wegen denen Patienten in eine Notaufnahme gingen, erklärte uns eine Sprecherin von Health New Zealand. Zudem seien die Symptome mit unterschiedlichen Codes erfasst worden. Erst seit 2024 würden die Daten in allen Regionen gesammelt. Im Sommer 2022 waren die 20 Regionen in einem bundesweiten System zusammengeführt worden. 

Report24 beruft sich auf dubiose Quelle

Die Sprecherin von Health New Zealand schrieb uns, dass die angefragten Daten ohne den nötigen Kontext veröffentlicht wurden und man Kontakt zum Anfragesteller hergestellt habe, sobald bekannt wurde, was mit den Daten geschehen war. 

Report24 beruft sich im Text auf Aly Cook, die die Daten abgefragt haben soll. Cook, eine neuseeländische Musikerin, dankt in ihrem X-Beitrag vom 22. September 2024 einem Mann namens Guy Hatchard, weil er Teile ihrer Daten verwertet hat. Hatchard ist ein bekannter Impfgegner, der aus den Daten einen neunseitigen „Bericht“ machte. Dieser missachtet die unvollständige Datenlage aus den Jahren davor und behauptet beleglos einen Zusammenhang des angeblichen Anstiegs der Patientenzahl mit den Covid-19-Impfungen. 

Cook selbst verfasste nach der Datenabfrage einen offenen Brief, unter anderem an den Premierminister von Neuseeland. Darin schreibt sie, ihr Sohn habe nach der Covid-Impfung eine Herzproblematik entwickelt; die Daten legten nahe, dass die mRNA-Impfungen und der vermeintliche Anstieg von Patienten mit Brustschmerzen zusammenhingen. 

Der angebliche Anstieg zahlt auf ein bekanntes Narrativ ein, das während der Pandemie entstand: die Behauptung, die Impfung gegen Covid-19 würde zu plötzlichen Todesfällen führen. Das Symptom Brustschmerz suggeriert einen Zusammenhang mit Herzkrankheiten, also haben wir nach Hinweisen gesucht, ob es in Deutschland seit den Covid-Impfungen mehr Patienten mit Herzproblemen gibt. Das ist jedoch nicht der Fall. 

Die Zahl der Herzinfarkte ist von 2019 bis 2022 laut dem Gesundheitsatlas der AOK um 22.000 Fälle zurückgegangen. Auch die Zahl der Krankenhauspatienten mit Herzrhythmusstörungen oder Herzinsuffizienz ging während der Pandemie zurück, wie aus dem 35. Deutschen Herzbericht der Deutschen Herzstiftung hervorgeht. Das Statistische Bundesamt bestätigt, dass auch die Zahl zur Diagnose Hals- und Brustschmerzen in Krankenhäusern während der Pandemie zurückgegangen ist: Von 133.670 im Jahr 2019 auf 86.728 im Jahr 2022. Die Tendenz ist seit 2016 sinkend.

Nach mRNA-Impfungen wurden laut Robert-Koch-Institut „sehr seltene Fälle von Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen“ beobachtet, die hauptsächlich innerhalb von 14 Tagen nach der Impfung auftraten.  

Redigatur: Matthias Bau, Viktor Marinov

Update, 8. November 2024: Wir haben ergänzt, dass sehr selten Herzentzündungen nach mRNA-Impfungen beobachtet wurden.