Nein, die Flutkatastrophe in Valencia wurde nicht durch die Entfernung von Staudämmen verschlimmert
In Sozialen Netzwerken wird behauptet, dass in der Region Valencia Staudämme entfernt wurden, weil die EU dafür eine Prämie zahle. Das habe die Flutkatastrophe verschlimmert oder gar erst verursacht. Doch das stimmt nicht, die entfernten Strukturen hätten der Flut laut einem Experten nichts entgegensetzen können.
Am 29. Oktober 2024 wurde der Süden Spaniens von einem schweren Unwetter heimgesucht, bei dem über 200 Menschen starben. Während die Betroffenen die Regierung wegen eines mangelhaften Frühwarnsystems und verzögerter Hilfe kritisieren, verbreitet sich in Sozialen Netzwerken eine andere Erklärung für das Unglück: Viele Staudämme und Wehre seien in den vergangenen Jahren abgerissen worden, weil die Europäische Union (EU) dafür Prämien zahle. „Und so wurden 27 Talsperren, Staudämme und so weiter abgerissen“, heißt es zum Beispiel in einem Video auf Tiktok, das wiederholt auch auf X verbreitet wurde. Was ist an der Behauptung dran?
In der Region um Valencia, die besonders von den Überschwemmungen betroffen war, wurden tatsächlich zwischen 2006 und 2021 mindestens 28 nicht mehr genutzte Wehre und Dämme abgerissen, wie wir am 27. November 2024 in einem Faktencheck berichteten. Die EU unterstützt diese Praxis tatsächlich und fördert einige der Projekte. Schuld an dem schweren Hochwasser ist die Entfernung dieser Staudämme aber nicht.
Experte: Entfernte Dämme hätten für Auswirkungen des Unwetters in Valencia kaum Unterschied gemacht
„In der Region ist so viel Regen heruntergekommen, dass wir keinen Unterschied sehen würden, wenn da einzelne Dämme erhalten worden wären. Selbst, wenn es 20 gewesen wären, hätte das Resultat aufgrund der großen Regenmengen nur unwesentlich anders ausgesehen“, schreibt uns Reinhard Hinkelmann, Professor für Wasserwirtschaft und Hydrosystemmodellierung an der TU Berlin.
In der Stadt Chiva, die flussaufwärts von Valencia liegt, sind am 29. und 30. Oktober fast 500 Liter Regen pro Quadratmeter gefallen, wie der Meteorologische Dienst Spaniens berichtete. So viel Niederschlag gebe es dort sonst über ein ganzes Jahr verteilt.
Die Professorin Carola König vom „Centre for Flood Risk and Resilience“ an der Brunel University of London erklärte gegenüber dem Science Media Centre: „Der Klimawandel ist ohne Frage der Hauptfaktor für solche extremen Regenereignisse. Das Mittelmeer hat mit durchschnittlich 28.47°C im August dieses Jahr die wärmste jemals gemessene Oberflächentemperatur verzeichnet. Dadurch wird mehr Feuchtigkeit von der Luft aufgenommen, was wiederum zu stärkerem Regen führt, wenn die Atmosphäre im Herbst beginnt, sich abzukühlen.“
Welche Art von Bauwerken wurden in Valencia entfernt?
Talsperren leisten einen wichtigen Beitrag dazu, den Schaden durch Starkregenereignisse zu reduzieren. Sie können Wasser kurzzeitig speichern, um es danach über einen längeren Zeitraum kontrolliert abfließen zu lassen. Dadurch verringern sie den höchsten Pegelstand eines Hochwassers, was wiederum Menschen und Städte schützt.
Doch entlang des Flusses Turia, der im Stadtgebiet von Valencia über die Ufer trat, wurden laut der Faktencheckorganisation Maldita nur kleine Strukturen entfernt, keine Talsperren. Dazu zählt zum Beispiel ein Damm von 1,50 Meter Höhe, der zur Stromproduktion genutzt wurde, ebenso wie fünf kleinere Dämme, die der Bewässerung von Feldern dienten. Eine Rolle für den Hochwasserschutz spielte laut Maldita keiner davon.
Hinzu kommt ein kleines Wehr, das 2022 abgerissen wurde. Wehre sind Bauwerke, die die Geschwindigkeit und den Pegelstand eines Flusses regulieren, anstatt ihn – wie bei einer Talsperre – zu einem See aufstauen. Hinkelmann schreibt uns dazu: „Wehre haben keine Staufunktion, bewirken hinsichtlich Hochwasserschutz also nichts.“
Warum die EU Flussbarrieren entfernen will
Doch warum wurden überhaupt Dämme und Wehre entfernt? Wenn die natürliche Strömung eines Flusses unterbrochen wird, zum Beispiel für Stromerzeugung, Bewässerung der Landwirtschaft oder auch zum Hochwasserschutz, leidet dessen Ökosystem darunter. Die Entfernung dieser Blockaden erlaubt unter anderem Fischen, weiter flussaufwärts zu laichen, und kann dadurch zu einer größeren ökologischen Vielfalt eines Flusses beitragen. Außerdem blockieren Flusssperren den Transport von Nährstoffen und Sediment, wodurch Lebensräume flussabwärts maßgeblich beeinträchtigt werden können.
Die EU hat sich im Jahr 2000 das Ziel gesetzt, die Wasserqualität von Flüssen, Seen und Grundwasser deutlich zu verbessern. Im Rahmen der „Biodiversity strategy 2030“ ruft sie deshalb ihre Mitgliedsstaaten auf, frei fließende Flüsse auf einer Länge von mindestens 25.000 Kilometern wiederherzustellen. Die Entfernung von Flussbarrieren wird dafür als bevorzugtes Mittel angegeben.
Aber zahlt die EU auch eine Prämie für abgerissene Staudämme, wie im Tiktok-Video behauptet wird? Nein, einen Staudamm abzureißen, und daraufhin eine Prämie von der EU einstreichen, funktioniert nicht. Aber Renaturierungsprojekte können beispielsweise EU-Gelder aus dem „European Maritime, Fisheries and Aquaculture Fund“ oder dem „LIFE Programme“ beantragen, um die Entfernung von Flussbarrieren zu finanzieren. Private Stiftungen wie die „Open Rivers Foundation“ oder „Rewilding Europe“ vergeben ebenfalls Gelder für solche Projekte. Auch lokale Regierungen beteiligen sich an der Entfernung von Flussbarrieren. wie zum Beispiel das Land Nordrhein-Westfalen, das unter anderem die Renaturierung der Ruhr fördert.
Die EU empfiehlt außerdem, marode und nicht mehr genutzte Strukturen bei der Entfernung von Flussbarrieren zu priorisieren und dabei deren potentiellen Nutzen für den Hochwasserschutz zu beachten. Die Entscheidung, ob eine Flussbarriere entfernt werden darf, liegt in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten, wie eine Sprecherin der EU-Kommission auf unsere Anfrage schreibt. In Spanien ist das laut Maldita beispielsweise die örtliche Behörde der Region um Valencia. Diese wägt bei ihren Entscheidungen ebenfalls nicht nur ökologische Ziele, sondern auch den Hochwasserschutz ab.
Redigatur: Matthias Bau, Max Bernhard