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Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer verbreiten unbelegte Zahlen zu Kriegstoten in der Ukraine

Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer behaupten, der Krieg in der Ukraine habe über eine Million Tote an der Front gefordert. Belege für diese Zahl gibt es nicht; Schätzungen von Fachleuten liegen darunter.

von Johannes Gille

Drei ukrainische Soldaten werden bei einer Zeremonie gemeinsam bestattet (Foto: Pavlo Palamarchuk / Zumapress.com / Picture Alliance)
Drei ukrainische Soldaten werden bei einer Zeremonie gemeinsam bestattet (Foto: Pavlo Palamarchuk / Zumapress.com / Picture Alliance)
Behauptung
Der Krieg in der Ukraine habe an den Fronten über eine Million Tote gefordert.
Bewertung
Derartige Zahlen sind laut Fachleuten schwer zu beziffern. Verschiedene Organisationen schätzen die Zahl der militärischen Todesopfer auf beiden Seiten des Krieges auf zwischen 238.000 und 300.000.

Sahra Wagenknecht (BSW) behauptet auf X, der Krieg in der Ukraine hätte „über eine Million Tote an den Fronten“ gefordert. Belege für die Behauptung nennt Wagenknecht nicht, aber der Beitrag verlinkt einen Artikel in der Zeitschrift Emma.

Im Februar 2023 hatte Sahra Wagenknecht – damals noch Linken-Chefin – zusammen mit der Journalistin und Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer die Petition „Manifest für Frieden“ gestartet, um nach eigenen Angaben Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen und Friedensverhandlungen voranzutreiben. Sie wurden dafür vielfach kritisiert. Im Februar 2025 verwies Schwarzer in dem von Wagenknecht geteilten Artikel erneut auf das Manifest und argumentierte dabei unter anderem mit Zahlen zu Todesopfern an der ukrainischen Front. Allerdings nennt sie dabei einerseits unterschiedliche Zahlen, andererseits verweist auch sie auf keinerlei Quellen, um diese zu belegen.

Wagenknechts X-Beitrag wurde knapp 300 mal geteilt, die Behauptung verbreitete sich danach weiter. Doch gesicherte Zahlen über Kriegsopfer gibt es nicht. Wagenknechts und Schwarzers Aussage übertrifft seriöse Schätzungen um ein Vielfaches.

Screenshot von einem Beitrag auf X von Sahra Wagenknecht.
Sahra Wagenknecht behauptet, an den Fronten in der Ukraine hätte es über eine Million Tote gegeben. (Quelle: X, Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Warum ist es so schwer, Kriegstote zu zählen?

Das Grundproblem: Es ist schwierig, gesicherte Zahlen zu in Kriegen getöteten und verwundeten Soldatinnen und Soldaten zu erheben. Das liegt unter anderem daran, dass Kriegsparteien Interesse daran haben, ihre eigenen Opferzahlen zu unter- und die des Gegners zu übertreiben. So lassen sich die öffentliche Meinung beeinflussen, Verbündeten bestimmte Narrative vermitteln und die Moral der Truppen stärken, wie eine Gruppe Forschender aus den USA und der Schweiz schildert. Auch Rafael Loss, Koordinator für paneuropäische Datenprojekte der Denkfabrik European Council on Foreign Relations, sagte der Tagesschau, es sei „nahezu unmöglich, Verluste an Mensch und Material in einem laufenden Krieg zweifelsfrei nachzuverfolgen.“

Werfen wir zunächst also einen Blick darauf, welche Zahlen die Ukraine und Russland selbst kommunizieren: Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach Mitte Februar 2025 gegenüber dem US-Sender NBC von seit Kriegsbeginn 46.000 getöteten Soldaten, 380.000 Verwundeten und „zehntausenden Vermissten oder Kriegsgefangenen“ auf Seiten der Ukraine. Der ukrainische Generalstab gab laut Medienberichten Mitte Februar 2025 an, dass Russland über 850.000 Streitkräfte verloren habe.

Die russische Regierung hingegen äußerte sich zuletzt im September 2022 über die eigenen Verluste. Damals behauptete der damalige Außenminister Sergei Shoigu, knapp 6.000 russische Soldaten seien seit Beginn der Invasion gestorben. Im Dezember 2024 sprach der Verteidigungsminister Andrei Belousov von knapp einer Million getöteten und verwundeten ukrainischen Soldaten seit Kriegsbeginn.

Die Angaben der beiden Kriegsparteien sind jedoch kritisch zu betrachten. Die Forschungsgruppe aus den USA und der Schweiz wertete für ihre Studie von August 2023 einen Datensatz von rund 4.600 Berichten über militärische und zivile Opfer auf beiden Seiten aus. Sie kamen zu dem Fazit, dass Sowohl Russland als auch die Ukraine die Verluste des Gegners gegenüber der Öffentlichkeit überschätzten, und insbesondere Russland die eigenen personellen Verluste herunterspiele.

Welche anderen Schätzungen gibt es?

Welche von den beiden Regierungen unabhängigen Schätzungen gibt es also? Das russische kremlkritische Medium Mediazona erfasste in Zusammenarbeit mit der BBC die Namen von über 90.000 getöteten russischen Militärangehörigen anhand von Nachrufen in Sozialen Netzwerken, lokalen Medienberichten und behördlichen Mitteilungen. Da jedoch nicht alle militärischen Opfer über solche Wege bekannt werden, schätzen sie die tatsächliche Zahl der Toten auf russischer Seite bis Januar 2025 auf zwischen 138.000 und 200.000.

Die Projekte UA Losses und Lost Armour geben gegenüber der New York Times an, nach einer ähnlichen Methode Todesfälle des ukrainischen Militärs zu erfassen. Sie zählen aktuell 70.000 beziehungsweise rund 65.000 Tote (Stand: 11. März 2025). Auch hier ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher ist: Lost Armour schätzt, dass bis Dezember 2024 über 100.000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten gestorben sind. Damit läge die Zahl der insgesamt auf beiden Seiten getöteten Soldaten zwischen 238.000 und 300.000.

Auch das US-amerikanische Wall Street Journal schätzte die Zahl der getöteten russischen Soldatinnen und Soldaten im September 2024 unter Berufung auf westliche Geheimdienste auf 200.000, während das Ukrainische Militär bis dahin 80.000 getötete Soldaten verzeichnet haben soll. Die Zahlen passen somit zu den oben genannten Schätzungen.

Wie verlässlich diese Schätzungen sind, lässt sich nur schwer sagen. Aber fest steht: Trotz der Unsicherheit über die genaue Zahl übertrifft die von Wagenknecht und Schwarzer genannte Zahl gängige Schätzungen um ein Vielfaches.

Verwechslung von Kriegsopfern und Toten?

Eine mögliche Erklärung dafür könnte in einer falschen Interpretation oder Übersetzung von Berichten liegen: Im Englischen ist häufig von „Casualties“ die Rede – das Wort kann Todesopfer bedeuten, im militärischen Kontext sind in der Regel jedoch getötete und verletzte Soldaten gemeint. Je nach Definition werden darüber hinaus auch Vermisste und Kriegsgefangene mitgezählt.

Die Zahl der Toten und Verwundeten zusammen dürfte gegen Ende 2024 auf über eine Million angestiegen sein. Das geht aus übereinstimmenden Einschätzungen von Selenskyj, NATO-Generalsekretär Mark Rutte und einer Recherche des Wall Street Journal hervor. Laut Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) hat der Ukraine-Krieg zudem bis Februar 2025 mindestens 12.600 zivile Opfer gefordert.

Immer wieder zitieren Medien und Analysten Statistiken zu „Casualties“ und betiteln dabei die Summe der Toten und Verwundeten fälschlicherweise als Todeszahlen. Auch Donald Trump sorgte im August 2024 für Aufsehen, als er über die Ukraine behauptete, „eine Million Menschen“ könnten noch am Leben sein, wenn er 2020 gewählt worden wäre. Im Januar sprach er sogar von 1,7 Millionen Toten. In beiden Fällen gehen Experten davon aus, dass er Tote und Verletzte zusammenzählte.

Auf unsere Anfragen an Sahra Wagenknecht und die Redaktion von Emma erhielten wir keine Antwort.

Redigatur: Uschi Jonas, Gabriele Scherndl

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