Gesundheit

Adventskränze sind nicht schlimmer als Diesel – der Stickoxid-Grenzwert ist trotzdem fragwürdig

Die Kritik am Grenzwert für Stickoxide ist berechtigt. Statt einfach nur Diesel-Autos zu verbieten, müssten wir wieder über Feinstaub sprechen. Vor Kerzen braucht man trotzdem keine Angst haben.

von Anna Mayr

Eine Kerze kann 280 Mikrogramm Stickoxid produzieren. Adventskränze sind trotzdem nicht giftig. Bild: pixabay
Eine Kerze kann 280 Mikrogramm Stickoxid produzieren. Adventskränze sind trotzdem nicht giftig. Bild: pixabay
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Einen Adventskranz, der die Stickoxidkonzentration nur kurz erhöht, kann man nicht mit der Situation von Menschen vergleichen, die ihr ganzes Leben neben einer großen Straße wohnen.

Dicke rote Kerzen, Tannenzweigenduft, und ein Hauch von Heimlichkeiten liegt jetzt in der Luft. So beginnt ein Weihnachtslied, das jedes Kind in der Grundschule lernt – und wenn man einem Facebookpost glaubt, der sich in den letzten Wochen verbreitet hat, dann beginnt so auch die Vergiftung aller Weihnachts-Liebhaber.

Der Post behauptet, dass die Kerzen auf einem Adventskranz mehr Stickoxid ausstoßen würden, als in der EU erlaubt wäre. Damit will man sich wohl über die Diskussion um Luftreinhaltung und Diesel-Fahrverbote lustig machen.

Der Facebookpost, der eine verwirrende Rechnung macht. Screenshot: CORRECTIV
Der Facebookpost, der eine verwirrende Rechnung macht. Screenshot: CORRECTIV

Die Rechnung, die in dem Post aufgestellt wird, ist Quatsch. Doch die Aussage, dass man den Grenzwert für Stickoxide hinterfragen muss, ist nicht ganz falsch.

Worum es in der Debatte um Stickoxide geht

Stickoxide sind Gase. Unsere Luft besteht nicht nur aus Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid (CO2) – es schwirren darin je nach Höhe und geographischer Lage auch andere Verbindungen herum. Das ist erstmal nichts besonderes.

Immer, wenn etwas verbrennt, entstehen Stickoxide: Zigaretten, Kerzen, Gasherde, Kamine, Dieselmotoren (also: Verbrennungsmotoren) – je heißer die Flammen, desto mehr Stickoxide entstehen durch all diese Dinge. Die Flammen in Diesel-Autos wurden zuletzt immer heißer. Denn je heißer die Flamme, desto weniger Sprit verbraucht das Auto.

Wenn wir über Stickoxide sprechen, meinen wir meistens Stickstoffdioxid (NO2). Es gibt zwar auch Stickoxid (NO) – aber sobald Stickoxid an die Luft kommt, reagiert es mit anderen Gasen und wird ziemlich direkt zu NO2, Stickstoffdioxid. Deshalb ist NO2 viel relevanter als NO.

Um herauszufinden, wie viel Stickstoffdioxid aus einem Adventskranz kommt, haben wir unter anderem Stefan Thomann gefragt. Er ist Chemiker bei der European Candle Association. Er sagt, dass es momentan verschiedene Studien gibt, bei denen Forscher messen, wie Kerzen die Stickoxidkonzentration im Raum erhöhen.

Thomann sagt allerdings, dass es verschiedene Probleme mit der Rechnung in dem Facebookpost gibt.

Problem 1: Die Einheit

Der Facebookpost will die Stickoxid-Konzentration in „ng“ angeben – also in Nanogramm. Das ist, als würde man an der Obsttheke die Preise von Äpfeln und Birnen in Milligramm vergleichen: Unsinn. Die Einheit ist viel zu klein. Denn Stickoxide misst man in Mikrogramm. Der EU-weite Grenzwert für Stickoxide liegt momentan bei 40 Mikrogramm Stickoxid pro Kubikmeter Luft im Jahresdurchschnitt. 40 Mikrogramm sind 40.000 Nanogramm. Die Rechnung benutzt also die falsche Einheit.

Problem 2: Die Raumgröße

Wie gesagt – man misst die Konzentration von Stickoxid in der Luft in Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Ein Raum, der 20 Quadratmeter groß ist und in dem die Decken 3 Meter hoch sind, hat insgesamt 60 Kubikmeter Luft. Man bräuchte also 2400 Mikrogramm Stickoxid, um die Konzentration in dem Raum auf den EU-weiten Grenzwert zu bringen.

Wissenschaftler aus Hongkong testeten 2005 den Stickoxid-Ausstoß von fünf verschiedenen Kerzen. Die Kerze, die am meisten Stickoxid ausgestoßen hat, produzierte insgesamt 280 Mikrogramm. Wenn vier Kerzen komplett abbrennen, hat man also 1120 Mikrogramm Stickoxid, die sich im Raum verteilen. Bei 60 Kubikmetern Luft wären wir also bei etwa 18,5 Mikrogramm Stickoxid pro Kubikmeter Luft. Das liegt unter dem EU-Grenzwert von 40 Mikrogramm.

Problem 3: Innenraum und Außenraum

Verschiedene Studien, die auch von der Weltgesundheitsorganisation zitiert werden, zeigen, dass Stickoxid im Innenraum schneller verfliegt – die Konzentration bleibt also nicht ewig erhöht, selbst wenn man den Gasherd anstellt und dabei nicht lüftet. Das liegt daran, dass Stickoxide an Oberflächen zerfallen. Eine Studie ergab, dass ein erhöhter Wert im Innenraum innerhalb von etwa einer Stunde wieder das vorherige Level erreicht.

Einen Adventskranz, der die Stickoxidkonzentration nur kurz erhöht, kann man also nicht mit der Situation von Menschen vergleichen, die ihr ganzes Leben neben einer großen Straße wohnen.

Macht der Grenzwert also doch Sinn?

Naja.

CORRECTIV hat hierzu viele Experten befragt und die Studien gelesen, die den Grenzwert begründen. Die Sache ist: Es sind so viele Disziplinen, die mit Stickoxiden zu tun haben, dass sich keiner vollends auskennt. Meteorologen, Ärzte, Physiker, Politiker – niemand überblickt den Streit. Denn er ist viel zu komplex.

Der Lungenarzt Dieter Köhler etwa führt einen Krieg gegen den EU-Grenzwert. Er selbst fährt einen Diesel und sagt, dass Stickoxide nicht so schlimm sein können, denn Raucher atmen mit jeder Zigarette bis zu 600 Mikrogramm davon ein. Dass es ein Unterschied ist, ob man freiwillig raucht oder unfreiwillig an einer Autobahn wohnt, interessiert ihn in seiner Rechnung aber nicht.

Die Meteorologin Ulrike Dauert vom Umweltbundesamt weiß genau, wie man Stickoxide in der Luft misst – aber warum es den Grenzwert gibt und wie viel schlechte Luft für Menschen schädlich ist, das ist nicht ihr Fachgebiet.

Martin Lutz, der die Luftreinhaltepläne für Berlin macht, kann nicht verstehen, wieso jetzt auf einmal der Grenzwert hinterfragt wird, der seit Ewigkeiten feststeht. Er arbeitet jeden Tag dafür, dass in Berlin die 40 Mikrogramm auf keiner Straße mehr überschritten werden. Dass Stickoxide schädlich sind, findet er „arschklar“.

Der Mediziner Wolfgang Straff war Teil eines Teams, das für das Umweltbundesamt eine Studie machte, um die Gefährlichkeit von Stickoxiden zu beweisen. Er sagt: Das Gesetz ist da, jetzt muss man sich daran halten. Doch die Diesel-Fahrer würden eben nur an sich selbst denken.

Was war noch gleich mit Feinstaub?

Was alle Experten gemeinsam haben, ist Ratlosigkeit. Darüber, warum und wann die Debatte gekippt ist. Wieso auf einmal alle über Stickoxide reden, aber niemand mehr über Feinstaub und CO2. Feinstaub ist viel gefährlicher als Stickoxid. Er macht krank, das ist erwiesen – statistisch signifikant. Feinstaub ist so fein, dass er über die Lunge in die Blutbahn geraten kann. Und jedes Auto produziert Feinstaub – er entsteht, wenn die Scheibenbremsen den Wagen anhalten lassen, er entsteht bei jedem Kilometer, auf dem sich die Reifen abnutzen, er wirbelt noch vom Boden auf, wenn die Autos längst vorübergefahren sind.

Der Physiker Gerhard Scheuch hat fast zwanzig Jahre in der Umweltforschung gearbeitet. Ein halbes Jahr verbrachte er auch bei der amerikanischen Umweltschutzbehörde.

Diese Behörde schlug ursprünglich mal den Wert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter vor. In einer Studie aus den 90er Jahren.

Scheuch sagt: „Es gibt für manche Stoffe nicht den einen Grenzwert, ab dem sie definitiv tödlich werden.“ Stickoxid ist einer dieser Stoffe.

Politik braucht klare Aussagen, aber so ist Wissenschaft nicht

Man weiß nicht genau, bis zu welchem Wert und unter welchen Voraussetzungen das Gas unschädlich ist. Die Aufgabe der Wissenschaftler ist es aber, genau das herauszufinden – damit die Politik Entscheidungen treffen kann, um die Bevölkerung zu schützen. Politik braucht keine Zweifel und auch keine Komplexität – Politik braucht Gesetze.

„Man muss dann als Wissenschaftler abwägen. Und geht auf Nummer sicher“, sagt Scheuch im Gespräch mit CORRECTIV. Bei den Stickoxiden hatte es zum Beispiel Studien gegeben, die bei Asthmatikern schon bei einer Konzentration von 100 Mikrogramm pro Kubikmeter Veränderungen in der Lunge beobachteten. Und wieder andere Studien, in denen man nichts feststellen konnte.

In den Forschergruppen, die eine Gefahrenschwelle festlegen sollen, sei man sich einig darüber, dass die eigenen Ergebnisse statistisch nicht immer einwandfrei belegt seien. „Man zweifelt natürlich”, sagt Scheuch.

Es gibt aber keine Studien, die überprüfen, wie es Menschen geht, die lange Zeit an einer Straße bei erhöhter Stickoxidkonzentration leben. Denn man müsste den Probanden damit schaden. Sie dazu zwingen, 24 Stunden am Tag schlechte Luft zu atmen. Raucher tun das zwar freiwillig – aber ihre Lunge bekommt ab und zu eine Pause. Wer im Bett liegt und zwei Zigaretten raucht, kann das Fenster öffnen, damit es im Zimmer nicht mehr stinkt. Wer stinkende Luft vor dem Fenster hat, der hat Pech.

Deshalb kann man mögliche Schäden von Stickoxiden nur anhand von Tierversuchen, Rechnungen und Statistiken vermuten.

Wie der Grenzwert in die Welt kam

1989 – Bei der „Sechs Städte Studie“ der Harvard-Universität verglichen Forscher die Luftqualität in sechs amerikanischen Städten mit der Sterblichkeit. Damit, sagt der Physiker Gerhard Scheuch, begann der Hype um saubere Luft.

Es kam heraus: Menschen in luftverschmutzten Städten sterben früher. Die Forscher fanden einen klaren Zusammenhang zwischen Feinstaub und Lungenkrankheiten. Die Ergebnisse zu Stickoxid hingegen waren statistisch nicht relevant.

1997 – Die Weltgesundheits-Organisation (WHO) gibt einen Bericht heraus, in dem der Grenzwert von 40 Mikrogramm zum ersten Mal vorgeschlagen wird. In dieser Studie steht:

„Zwar kann man etwas Vertrauen in die Meta-Analyse haben, die Symptome und Krankheiten könnten aber ebenso an anderen Prozessen festgemacht werden. Deshalb muss man die Ergebnisse mit Vorsicht interpretieren. Andere Studien haben versucht, die Stickoxid-Konzentration mit Veränderungen der Lungenfunktion zu verbinden. Diese Veränderungen waren kaum signifikant. Viele Studien konnten keine Effekte feststellen, was sich auch in Studien mit Menschen zeigt.“ (Übersetzungen und Hervorhebungen von CORRECTIV)

Erklärung: Die meisten Studien, die es zu Stickoxiden an diesem Punkt gegeben hatte, fanden mit Mäusen und Ratten statt. Mäuse waren deutlich anfälliger als Ratten. In Versuchen mit Affen stellte man keine Veränderungen fest.

„Auf der Basis einer Hintergrundkonzentration von 15 Mikrogramm pro Kubikmeter, und dem Fakt, dass Gesundheitseffekte bei einer Konzentrationserhöhung von 28.2 Mikrogramm oder mehr auftreten, wird ein jährlicher Richtwert von 40 Mikrogramm vorgeschlagen.“

Erklärung: Die Zahl 28.2 nehmen die Forscher aus einer Studie, die eine Verbindung zwischen Wohnungen mit Gasherd und Atemwegserkrankungen bei Kindern fand. In Gasherd-Wohnungen war die Stickoxid-Konzentration etwa 28.2 Mikrogramm höher. Die Kinder in diesen Wohnungen bekamen häufiger Husten. Diesen Effekt fand man allerdings nur bei Kleinkindern ab zwei Jahren – für Babys galt er nicht.

„Dieser Wert wird die schlimmsten Einflüsse verhindern“, so steht es weiter in der Studie der WHO aus diesem Jahr. Genau, wie Gerhard Scheuch es gesagt hatte: Die Forscher gehen auf Nummer sicher.

Der Bericht zitiert auch einen Versuch, bei dem die Forscher Hamster beobachtet hatten: 40 Stunden in der Woche mussten die Hamster bei einer Stickstoffdioxid-Konzentration von 3760 Mikrogramm pro Kubikmeter leben. Acht Wochen lang. Sie blieben kerngesund.  

Aus dem Bericht der WHO. Screenshot: CORRECTIV.
Aus dem Bericht der WHO. Screenshot: CORRECTIV.

1999 – Der Europäische Rat gibt eine Richtlinie heraus. Darin steht ein „Alarmschwellenwert“. Ab 400 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft soll die Bevölkerung gewarnt werden.

Aus dem EU-Beschluss. Screenshot: CORRECTIV
Aus dem EU-Beschluss. Screenshot: CORRECTIV

2002 – Europäischer Rat und EU-Parlament beschließen das Umweltaktionsprogramm – eine Absichtserklärung, die noch keine konkreten Werte nennt.

Aus dem EU-Programm. Screenshot: CORRECTIV
Aus dem EU-Programm. Screenshot: CORRECTIV

2005 – Die WHO gibt einen neuen Bericht zur Luftqualität heraus. Darin stehen zwei wichtige Dinge. Erstens, dass Stickoxid ein guter Indikator ist. Wenn viel Stickoxid in der Luft ist, wird viel verbrannt. Deshalb gibt es dann auch mehr Feinstaub und andere Verbrennungsprodukte. Zweitens: In den Studien, die Stickoxid untersuchen, könnten auch andere Verbrennungsprodukte die Krankheiten erzeugt haben. Welcher Bestandteil des Abluft-Cocktails Menschen krank macht, das lässt sich nicht sagen. „Es gibt immer noch keine robuste Basis, um einen Richtwert für Stickstoffdioxid festzulegen“, steht in der Studie.

2008 – Europäischer Rat und EU-Parlament beschließen eine neue Richtlinie, die die alte außer Kraft setzt. Darin steht auch der neue Grenzwert: 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter. Der Grenzwert gilt allerdings nicht für Arbeitsplätze – wer in der Industrie arbeitet, darf 950 Mikrogramm pro Kubikmeter einatmen. Das hat zwei Gründe. Der eine ist, dass der 40-Mikrogramm-Grenzwert auch Asthmatiker und Kleinkinder schützen soll. Die arbeiten meistens nicht in der Industrie.

Der zweite ist, dass bei Beobachtung von Menschen, die unter deutlich höheren Stickoxid-Konzentrationen arbeiteten, keine gesundheitlichen Einschränkungen festgestellt wurden. Das stand bereits 1997 in der Studie der WHO.

Aus dem Beschluss der EU. Screenshot: CORRECTIV
Aus dem Beschluss der EU. Screenshot: CORRECTIV

2010 – Die Richtlinie wird zum Gesetz. Die europäischen Länder müssen die Grenzwerte nun einhalten. Ute Dauert, Meteorologin beim Umweltbundesamt, sagte dazu gegenüber CORRECTIV: „Bei dem Grenzwert hat die EU-Kommission eine Empfehlung der WHO von 1999 aufgegriffen, der Wissensstand von damals ist also die Grundlage. Am Ende ist es ein politischer Kompromiss, den man eingeht.“

Seitdem gibt es über 500 Messstationen in Deutschland, die die Stickoxidkonzentration in der Luft messen. Der Betrieb einer Station kostet etwa über 100.000 Euro im Jahr, sagte Martin Lutz aus dem Berliner Senat gegenüber CORRECTIV.

Aus der Mail des Experten Martin Lutz. Screenshot: CORRECTIV
Aus der Mail des Experten Martin Lutz. Screenshot: CORRECTIV

Grob gerechnet sind es also etwa 50 Millionen Euro, die Deutschland ausgibt, um ein Gas zu überwachen, dessen toxische Wirkung nicht komplett bewiesen ist. Was dafür spricht: Daran, wie viele Stickoxid in der Luft ist, lässt sich auch auf andere schädliche Luftbestandteile schließen. Wer in einem Bereich lebt, in dem die Belastung hoch ist, sollte ein Recht haben, das zu wissen.

2015 – VW fliegt auf: Der Autohersteller hatte seine Dieselautos manipuliert. Sie hatten mehr Stickoxide ausgestoßen, um weniger Kraftstoff zu verbrauchen.

Für Martin Lutz, der in Berlin für die Luftreinhaltung zuständig ist, war auf einmal alles klar. „Wir hatten gedacht, dass die Werte für Stickoxid nicht runtergehen, weil die Leute sich so viele SUVs kaufen“, sagt er. „Außerdem bestellen immer mehr Leute online, es gibt also mehr Lieferverkehr.“ Aber nun hatte er den Beweis, dass es nicht allein an den Menschen lag, die in den Autos saßen – sondern auch an denen, die die Autos bauten.  

Diesel sind die Haupt-Verursacher von Stickoxiden in Städten. Sie sind aber nicht die einzigen Luftverschmutzer. Benziner pusten CO2 in die Luft. Und alle Autos produzieren Feinstaub.

Wenn es nach der WHO ginge, dann läge der Grenzwert für die feinste Feinstaub-Art (PM2.5), die gleichzeitig am gefährlichsten ist, bei 10 Mikrogramm pro Kubikmeter. Doch diesen Wert übernahm die EU nicht. Der Grenzwert für Feinstaub in Deutschland liegt bei 25 Mikrogramm pro Kubikmeter. Doppelt so viel, wie die WHO empfohlen hatte.

Für Stickoxid, bei dem es nicht ganz klar erwiesen ist, ob und wann man davon krank wird, nahm die EU also die strenge, vorsichtige Empfehlung an.

Für Feinstaub, bei dem es ganz klar ist, dass man davon krank wird, tat die EU das nicht.

Februar 2018 – Eine Forschergruppe soll analysieren, wie viele Todesfälle es in Deutschland aufgrund von Stickoxiden gibt. Aber die Forscher machen keine Untersuchungen, sie klingeln nicht an Türen von Autobahnanwohnern und hören deren Bronchien ab. Sie rechnen. Machen eine Meta-Analyse von anderen Meta-Analysen.

Dass diese Studie nicht ganz einleuchtend ist, lässt sich etwa daran festmachen, dass nicht die Wirkung von Stickoxiden auf die Lunge analysiert wurden – sondern auf das Herz-Kreislauf-System. Dazu, so schreiben es die Forscher, gab es genug Daten. Über Lungenkrankheiten leider nicht.

Ironisch ist auch, dass die räumliche Analyse reine Hypothese blieb. Die Forscher schauten sich nicht eine Straße an und schauten dort, an welchen Krankheiten die Leute sterben. Sie rechneten zusammen, wie viele Menschen in Deutschland an Herz-Kreislauf-Erkrankungen starben. Dann rechneten sie zusammen, wie viele Menschen in Deutschland unter erhöhten Stickoxid-Belastungen wohnen. Dann leiteten sie daraus ab, wie viele Herz-Kreislauf-Tote wegen Stickoxid gestorben sein könnten.  

Nicht nur Statistik-Laien werden da stutzig. Auch das Ministerium für Umwelt und Klimaschutz in NRW. Ursprünglich hatte das Bundesland der Forschergruppe Daten zum Ruhrgebiet zur Verfügung gestellt – wollte dann aber nicht, dass diese veröffentlicht werden. Warum, das erklärt das Ministerium so:

„Die Ergebnisse der Studie sind unserer Auffassung nach nicht geeignet, eigenständige Aussagen zu den auf die NO2-Exposition zurückzuführenden vorzeitigen Todesfällen / Krankheitslasten in der konkreten Modellregion zu formulieren. Wichtige Faktoren wie die Altersverteilung in der Bevölkerung und die medizinische Versorgung, die einen Einfluss auf das Ergebnis haben, wurden aus unserer Sicht nicht entsprechend berücksichtigt.
Wir standen während der Durchführung der Studie in einem engen fachlichen Austausch mit dem Umweltbundesamt und haben unsere fachlichen und methodischen Bedenken frühzeitig in den Prozess eingebracht. Uns lagen vor der Veröffentlichung lediglich Entwürfe und Auszüge aus dem Gesamtbericht zu den Modellregionen vor. Hierzu hatten wir noch einige offene Fragestellungen zur Methodik, Aussagekraft und Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Da diese Fragen nicht abschließend geklärt werden konnten und sich der Gesamtkontext der Berichterstattung nicht erschloss, haben wir im Oktober 2017 entschieden, keine Zustimmung zur Veröffentlichung der Modellregion Ruhrgebiet zu erteilen.“

Die Experten in NRW fanden die Studie also nicht aussagekräftig.

Mai 2018 – Hamburg verhängt das erste Fahrverbot für Diesel-Autos, um die Stickoxid-Grenzwerte einzuhalten.

Es ist ein Indikator

Stickoxide sind in der öffentlichen Debatte zum Indikator für gute Luft geworden. Ein Marker-Wert, von dem aus man auf andere Schadstoffe in der Luft schließen kann. Wenig Stickoxide gleich freier Atem.

Das ist in etwa so, als würde man die Leistung eines Grundschulkindes nur am Matheunterricht festmachen.

Natürlich ist Mathe wichtig – und es ist natürlich auch nicht komplett egal, wie viel Stickoxid in der Luft ist. Aber ein Kind, das in Mathe nur Einsen schreibt – also alle Grenzwerte einhält – kann in Deutsch immer noch Fünfen schreiben und sitzen bleiben.

Gute Schüler sind meistens in mehreren Fächern gut. Diesel und Benziner allerdings haben beide eine Schwachstelle: Bei Diesel ist es das Stickstoffdioxid. Bei Benzinern ist es das CO2.

Diesel-Autos haben nun das Pech, dass genau ihre Schwachstelle der Indikator-Wert für gute Leistung geworden ist. Beziehungsweise: Für gute Luft. Wenn eine Stadt ihr Gute-Luft-Zeugnis zeigen will, gucken alle nur auf die Note für Stickoxide.

Das alles ist verdammt kompliziert. Darunter leiden die Diesel-Besitzer, die nun für das Gute-Luft-Zeugnis einiger Städte ihre Autos stehen lassen müssen. Weil eine Forschergruppe vor zwanzig Jahren einen Wert vorgeschlagen hat, an den sich nun alle klammern. Weil die EU diesen Wert zum Gesetz gemacht hat. Und vielleicht auch, weil Stickoxid so schön gefährlich klingt – nach ersticken.

Anmerkung, 21.12.2018: In einer früheren Version des Artikels haben wir im dritten Absatz Stickstoff als CO2 beschrieben und damit als einen der Haupt-Luftbestandteile. Wir haben das korrigiert.