Ukraine-Krieg: Was ist ein Kriegsverbrechen und wann ist Töten im Krieg erlaubt?
Das humanitäre Völkerrecht setzt Regeln für Soldatinnen und Soldaten im Krieg fest. Im Russland-Ukraine-Krieg wird beiden Seiten vorgeworfen, diese zu verletzten. Doch was ist erlaubt, was ein Kriegsverbrechen? Ein Gespräch mit Völkerrechtler Dominik Steiger.
Bilder aus Butscha lösten Anfang April weltweit Entsetzen aus. Russische Soldaten sollen ukrainische Zivilisten ermordet haben. „Das sind Kriegsverbrechen“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Besuch in dem Kiewer Vorort.
Russland dementierte und bezeichnete das Video- und Fotomaterial aus Butscha als Fälschungen – niemand dort sei Gewalt ausgesetzt gewesen. Das Land warf stattdessen der Ukraine Verbrechen vor und drängte auf Aufklärung: „Wir werden darauf bestehen, dass die von den ukrainischen Streitkräften begangenen Verbrechen nicht ohne Folgen bleiben.“ Russland arbeite daran, die „einschlägigen Normen des humanitären Völkerrechts anzuwenden“, so der russische Außenminister Sergej Lawrow Anfang April.
Ein Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vom 14. Juli stellte schwere Verstöße russischer Streitkräfte gegen das humanitäre Völkerrecht fest, darunter willkürliche Angriffe gegen Zivilisten und Folter. Laut Human Rights Watch sollen auch ukrainische Streitkräfte Kriegsverbrechen im Umgang mit russischen Kriegsgefangenen begangen haben. Die Ukraine habe angekündigt, diese Straftaten zu verfolgen.
Ukrainische Staatsanwaltschaft untersucht mehr als 23.000 mögliche Kriegsverbrechen
Die Liste möglicher Verstöße, die als Kriegsverbrechen zählen, ist lang. Laut dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (Artikel 8) fallen darunter vorsätzliche Tötung, Folter, Aushungern der Zivilbevölkerung, Vergewaltigungen oder sexuelle Versklavung.
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft untersucht nach eigenen Angaben bisher mehr als 23.000 Fälle mutmaßlicher Kriegsverbrechen. Im Mai verurteilte ein ukrainisches Gericht einen 21-jährigen russischen Soldaten erstmals für das Töten eines 62-jährigen Zivilisten. Der Soldat bekannte sich schuldig, sagte jedoch, er habe auf Anweisung gehandelt. Macht ihn das für seine Tat weniger verantwortlich? Ist jedes Töten im Krieg ein Kriegsverbrechen? Und wie werden aktuelle Verbrechen aufgearbeitet?
Darüber haben wir mit dem Völkerrechtler Dominik Steiger gesprochen. Er ist seit 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der TU Dresden.
Herr Steiger, das humanitäre Völkerrecht („Kriegsrecht“) schreibt Regeln im Krieg vor. Was ist im Krieg erlaubt?
Dominik Steiger: Ziemlich viel ist im Krieg erlaubt. Entscheidend ist das Unterscheidungsgebot, zum einen zwischen Kombattanten, also solchen Menschen, die kämpfen dürfen, und Zivilisten. Kombattanten dürfen töten, sie dürfen aber auch getötet werden. Zum anderen ist zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten zu unterscheiden. Nur militärische Ziele dürfen angegriffen werden, zivile Objekte nicht. Grundsätzlich erlaubt das humanitäre Völkerrecht also das Töten von Menschen. Die Vereinten Nationen beruhen auf der Idee, dass sich Krieg verhindern lässt. Aber es gibt natürlich immer die Situation, wie jetzt in der Ukraine, dass Krieg stattfindet. Man muss sich klar vor Augen führen, dass diese besonderen Regeln ein Zugeständnis an die Realität sind.
„Die Idee ist, die Schrecken und das Furchtbare des Krieges wenigstens einigermaßen zu zügeln.“
Für wen gelten diese Regeln im Russland-Ukraine-Krieg?
Dominik Steiger: Diese Regeln müssen von beiden Seiten eingehalten werden. Nur weil die Ukraine der angegriffene Staat ist und sich Russland per se rechtswidrig verhält, indem es die Ukraine angegriffen hat, befreit das die Ukraine nicht von den Regeln des humanitären Völkerrechts. Auch russische Soldaten, russische Zivilisten müssen geschützt sein. Deswegen heißt es auch humanitäres Völkerrecht. Die Idee ist, die Schrecken und das Furchtbare des Krieges wenigstens einigermaßen zu zügeln.
Was ist dann ein Kriegsverbrechen?
Dominik Steiger: Kriegsverbrechen liegen dann vor, wenn man sich nicht an die wichtigsten Regeln des humanitären Völkerrechts hält. Also zum Beispiel darf in keinem Fall ein Zivilist oder eine Zivilistin als Ziel eines Angriffs ausgesucht werden. Das ist zum Beispiel die Situation gewesen in dem Fall, der jetzt als erster in der Ukraine abgeurteilt wurde. Dort hat ein Soldat einen wehrlosen Zivilisten getötet. Das heißt aber nicht, dass Zivilisten gar nicht getötet werden dürfen. Wir alle kennen diesen Begriff des Kollateralschadens. Ein Kollateralschaden ist dann gegeben, wenn ein militärisches Ziel angegriffen wird und dabei auch Zivilisten sterben. Das ist rechtlich möglich. Allerdings darf dieser Kollateralschaden nur verhältnismäßig, nicht exzessiv sein.
„Jedem Soldaten ist es klar, dass man natürlich keinen Zivilisten einfach so erschießen darf.“
Soldatinnen und Soldaten handeln auf Befehl – sind sie trotzdem für ihre Taten verantwortlich?
Dominik Steiger: Militär funktioniert nicht ohne Befehl und Gehorsam. Das heißt, grundsätzlich ist ein Soldat, eine Soldatin verpflichtet, Befehle auszuführen. Die Grenze sind rechtswidrige Befehle. Wir finden das im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Der Artikel 33 sagt dazu, dass Verantwortlichkeit auch dann besteht, wenn Handlungen auf Befehl eines Vorgesetzten vorliegen. Außer wenn der Täter gesetzlich verpflichtet war, den Anordnungen zu folgen, nicht wusste, dass die Anordnung rechtswidrig war und die Anordnung nicht offensichtlich rechtswidrig gewesen ist. Jedem Soldaten ist aber zum Beispiel klar, dass man keinen Zivilisten einfach so erschießen darf.
„Es ist ein deutliches Zeichen, das dieses erste Urteil sehr schnell kam, zwei Monate nach Kriegsbeginn.“
Aktuell werden tausende mutmaßliche Kriegsverbrechen in der Ukraine untersucht. Sie haben eben schon das Urteil angesprochen, in dem ein russischer Soldat Ende Mai weger der Tötung eines 62-jährigen ukrainischen Zivilisten zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Was sagt uns dieses Urteil?
Dominik Steiger: Die Mühlen der Justiz mahlen grundsätzlich langsam und das ist auch gut so. Denn es geht natürlich immer darum, dass bewiesen werden muss, dass jemand eine bestimmte Tat begangen hat. Gerade angesichts dessen ist es ein deutliches Zeichen, dass dieses erste Urteil sehr schnell kam, zwei Monate nach Kriegsbeginn. Ein deutliches Zeichen an diejenigen Soldaten, die auf russischer Seite kämpfen, dass die Ukraine willens und auch in der Lage ist, solche Kriegsverbrechen abzuurteilen.
Und das Strafmaß?
Dominik Steiger: Lebenslänglich ist eine sehr harsche Strafe. Dieses Strafmaß würden viele zwar intuitiv für Mord verhängen. Es ist allerdings zum Beispiel in Deutschland so, dass, obwohl Mord nach dem Strafgesetzbuch mit lebenslänglicher Haftstrafe bestraft wird, das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass es nach 15 Jahren eine Überprüfung geben muss. Auch der Internationale Strafgerichtshof verhängt meist zeitliche Haftstrafen.
Gibt es eine vergleichbare Verurteilung aus der Vergangenheit?
Dominik Steiger: Es gibt den Fall eines Soldaten, der sich auf Befehl von Mladić [Ratko Mladić, bosnisch-serbischer General und verurteilter Kriegsverbrecher, unter anderem für das Massaker von Srebrenica, Anm. d. Red.] an der Tötung von 1.200 Zivilisten beteiligt hat. Das ist natürlich ein fürchterliches Kriegsverbrechen. Er war geständig, hat sich selbst gestellt und dann zehn Jahre Haft bekommen. Das wurde im Berufungsverfahren auf fünf Jahre reduziert. Also wir sehen, lebenslänglich ist eine sehr harsche Strafe, die die Ukraine ausgesprochen hat. Das dient auch der Prävention.
Wer arbeitet Kriegsverbrechen auf?
Dominik Steiger: Jeder Staat hat das Recht, Verbrechen, die auf seinem eigenen Territorium begangen worden sind, abzuurteilen. Das gilt für Diebstahl auf der einen Seite und das gilt natürlich erst recht für Mord und Totschlag und Kriegsverbrechen. Und das heißt, die Ukraine hat jedes Recht, das zu tun. Es ist sogar möglich, dass solche Taten in Deutschland abgeurteilt werden, auf der Basis des sogenannten Völkerstrafgesetzbuchs. Dieses setzt das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Deutschland um.
„Die Ukraine könnte wegen der Verbrechen auf ukrainischem Boden einen Prozess gegen Wladimir Putin führen, wenn sie seiner habhaft würde.“
Russland und die Ukraine sind aber keine Mitglieder des Internationalen Strafgerichtshofs. Warum ermittelt der Internationale Strafgerichtshof aktuell?
Dominik Steiger: Die Ukraine hat 2014 nach der Krim-Annexion einen Brief an den International Strafgerichtshof geschrieben und ihn gebeten, zu ermitteln. 2015 hat sie diesen Brief wiederholt. Laut Strafgerichtshof reicht das aus als Jurisdiktions-Grundlage. Diese Fortwirkung ist aber juristisch betrachtet ein bisschen kritisch, es wäre besser, wenn die Ukraine Mitglied des Strafgerichtshof würde. Mancher fragt sich vielleicht: Wie kann es sein, dass die Ukraine über russische Soldaten entscheidet, dass diese nach Den Haag [Sitz des Strafgerichtshof, Anm. d. Red.] kommen können? Aber weil die Verbrechen auf ukrainischem Boden und an ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern passieren, ist die Ukraine zuständig. Die Ukraine könnte also wegen der Verbrechen auf ukrainischem Boden einen Prozess gegen Wladimir Putin führen, wenn sie seiner habhaft würde. Und weil sie das kann, kann sie auch sagen: Lieber Internationaler Strafgerichtshof, mach du das bitte.
Zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen kursieren Unmengen an Bildern und Videos. Wie verändert das die Aufarbeitung und mögliche Strafverfahren? Ein Fluch oder ein Segen?
Dominik Steiger: Natürlich erschweren die Unmengen an Daten die Arbeit der Ermittler, denn sie müssen mehr Material sichten. Aber gleichzeitig erleichtern sie sie auch. Denn die ganzen Videos aus Social Media, Nutzung von Satellitendaten, auch Nutzung von Metadaten, die von Telefonen oder E-Mails genutzt werden können, sind ein unglaublicher Fundus für Beweismittel. Das wurde schon vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien gemacht, auch nationale Gerichte in Deutschland greifen auf solche Quellen zurück.
Gibt es dabei auch Probleme?
Dominik Steiger: Das Problem ist immer, wie aussagekräftig sind die Bilder und Videos? Zeugenaussagen sind ganz wichtig. Aber wir wissen genau, dass Zeugenaussagen schwierig einzuordnen sind. Menschen erinnern sich später anders. Viele sind traumatisiert. Bilder und Videos sind meines Erachtens also eine großartige Ergänzung. Sie müssen jedoch gut eingesetzt werden, vor allem gut überprüft werden. Gerade in Zeiten von Deep Fakes und Fake News muss man ganz vorsichtig sein, was man als Beweismittel zulässt und es am Schluss richtig gewichten.
Einen Überblick mit allen Faktenchecks, die im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stehen, finden Sie hier.