Puppe statt totes Kind in Gaza? Warum es keine Belege für diese Behauptung gibt
Die israelische Regierung veröffentlichte über mehrere X-Kanäle ein Video, das zeigen soll, wie Hamas-Terroristen den Tod eines palästinensischen Kindes mit einer Plastikpuppe inszenierten. Auch deutsche Medien griffen die Behauptung auf, doch weitere Aufnahmen der Szene und Einschätzungen von Pathologen widersprechen dem.
Triggerwarnung: In diesem Beitrag wird Bildmaterial beschrieben und verlinkt, das die Folgen von Gewalt zeigt.
Ein Mann rennt in ein Krankenhaus, in seinen Armen ein Kind. Es folgt ein Schnitt: Man sieht zwei andere Männer in einem Innenraum mit dem Leichnam eines Kindes, es ist in ein weißes Leichentuch gewickelt. Auf einer Nahaufname sieht das Gesicht maskenhaft aus, der Körper steif und unbeweglich.
Die Szenen stammen aus einem knapp 20-sekündigen Video, das Israels offizieller X-Account am 13. Oktober 2023 teilte. Dazu heißt es, die Hamas habe „versehentlich ein Video einer Puppe“ geteilt und diese als Opfer eines Angriffs der israelischen Streitkräfte ausgegeben. Die israelischen Botschaften in Deutschland, Österreich und Frankreich teilten die Behauptung samt Video anschließend ebenfalls auf X. Mehrere Kommentare unter dem Beitrag pflichten bei, dass es sich hier um eine Inszenierung der Hamas zu Propagandazwecken handeln muss. „So geht Propaganda, einige werden trotzdem darauf hereinfallen“ heißt es etwa. Ein englischsprachiger X-Beitrag mit der Behauptung wurde über 13.000 Mal geteilt.
Neben deutschsprachigen Beiträgen in Sozialen Netzwerken griffen auch mehrere deutsche Medien den Bericht um die angebliche Puppe auf, darunter Bild, die Frankfurter Rundschau und T-Online. Demnach habe die Hamas das Video aus Versehen veröffentlicht und vergessen, das Gesicht der Puppe unkenntlich zu machen.
Wir haben geprüft, woher die Aufnahmen stammen und Rechtsmedizinerinnen und Rechtsmediziner um eine Einschätzung der Bilder gebeten.
Aufnahmen stammen von einem Fotografen aus Gaza
Als Quelle für die Behauptungen zitieren einige der deutschen Berichte einen Beitrag der indischen Journalistin Swati Goel Sharma – dieser ist allerdings nicht mehr abrufbar. Stattdessen schrieb Sharma wenige Tage später auf X: Die Bilder würden keine Puppe zeigen, sondern tatsächlich die Leiche eines vierjährigen Kindes. Sie habe die Behauptung „versehentlich“ auch selbst geteilt, den Beitrag jedoch inzwischen gelöscht.
Die Frankfurter Rundschau veröffentlichte am 17. Oktober ein Update mit Verweis auf den von Sharma gelöschten Beitrag und schreibt, „es kommen Zweifel daran auf, ob das Video tatsächlich ein Fake ist“. T-Online schrieb auf Anfrage, man habe den Text aktualisiert, nachdem man den Fehler bemerkt habe. Von Bild erhielten wir bisher keine Rückmeldung. Dort heißt es weiter, die Hamas habe das Video vom „Baby in Plastik“ auf ihren Kanälen veröffentlicht.
Richtig ist: Auf einigen Telegram-Kanälen der von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuften Hamas wurde das Video am 12. Oktober 2023 geteilt, dort war es auch Tage später noch sichtbar. Diese Kanäle sind mittlerweile in Deutschland gesperrt. Die Aufnahme stammt ursprünglich jedoch von woanders.
In dem Video ist ein Wasserzeichen in arabischer Schrift zu sehen. Laut einem Artikel der indischen Faktencheck-Redaktion Alt News zeigt es den Namen des Fotografen, der das Video aufgenommen habe: Momen El Halabi. Das hat uns ein Muttersprachler bestätigt. Über eine Google-Suche finden wir das Profil des Fotografen auf Instagram: Demnach lebt er in Gaza. Auf seinem Profil sind zahlreiche Bilder und Videos mit demselben Wasserzeichen zu sehen.
Momen El Halabi postete das ursprünglich 22-Sekunden lange Video am 12. Oktober 2023 gegen 16 Uhr auf Instagram, dort ist es auch immer noch abrufbar. Der früheste Beitrag der Hamas, den wir finden konnten, stammt erst vom Abend desselben Tages auf Telegram. In den Beiträgen auf X wurde das Video anschließend leicht gekürzt.
Der Fotograf gab gegenüber CORRECTIV.Faktencheck an, das Video am 12. Oktober 2023 im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt aufgenommen zu haben. Diese Angaben werden auch von zwei Bildern gestützt, die ein Fotograf der AFP vor Ort machte: Dieser fotografierte einen der Männer, der im Video zu sehen ist. Der Mann im grauen Poloshirt hält darin das Kind in den Armen. Zu finden sind die Bilder bei Getty Images.
Körpermerkmale laut Rechtsmedizinern und Rechtsmedizinerinnen für eine Leiche typisch
Außerdem ließ der Fotograf Momen El Halabi CORRECTIV.Faktencheck weitere Bilder sowie eine längere Version des Videos zukommen, auf denen unter anderem das Gesicht des Kindes aus der Nähe fotografiert wurde. Die Bilder legten wir mehreren Rechtsmedizinern und Rechtsmedizinerinnen vor und baten um eine Einordnung.
Rechtsmediziner Carsten Babian vom Universitätsklinikum Leipzig schreibt uns, er habe „keinen begründeten Zweifel“, dass es sich nicht um einen echten Leichnam halte. Alle Merkmale wie die Blässe des Gesichts und die Steifigkeit des Körpers seien typisch für einen Leichnam. Weiter meint Babian: „Um die täuschend echte Puppe einer Kinderleiche mit solchen authentischen Verletzungen herzustellen, bräuchte es erhebliches Know-how und Spezialisten, wie sie z. B. für Film- oder Fernsehstudios arbeiten.“
Kathrin Yen, ärztliche Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin vom Universitätsklinikum Heidelberg sagte uns, die Verletzungen auf dem Bild zeigten typische Befunde einer Leiche, die an einer durch hohe Energieeinwirkung verursachten Verletzung zu Tode gekommen ist. Dies wäre zum Beispiel bei Verletzungen infolge eines Raketenangriffs der Fall. Der steife Körper, der im Video zu sehen ist, deute darauf hin, dass das Kind zum Zeitpunkt der Aufnahmen noch nicht lange tot war, so Yen. Die gelbliche Hautfarbe und das maskenhafte Aussehen seien auf den vermutlich hohen Blutverlust des Kindes zurückzuführen. Die glänzenden, wachen Augen des Kindes würden ebenfalls zum puppenhaften Aussehen beitragen, seien allerdings ebenfalls ein Hinweis darauf, dass das Kind noch nicht lange tot sei.
Matthias Graw, Vorstand des Instituts für Rechtsmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München weist darauf hin, dass eine Beurteilung anhand von Bildern und Filmen immer schwierig sei. Im konkreten Fall sei ihm jedoch „nichts aufgefallen, was dagegen sprechen würde, dass es sich um die Aufnahme eines ‘echten’ Kindes handelt“. Auch das puppenartige Aussehen ist für Graw nicht ungewöhnlich: „Bei Toten wirken die Gesichter häufig maskenartig, und Totenstarre ist ein bekanntes Zeichen des Todes.“
Totes Kind im Video soll 4-jähriger Junge aus Gaza sein – BBC sprach mit der Mutter
Auch Hartmut Fischer vom Brandenburgischen Landesinstitut für Rechtsmedizin sieht auf den Beispielen typische Merkmale einer Leiche. Lediglich eine weiße Substanz im Mund, die auf den Bildern zu sehen ist und auf den ersten Blick wie Schaumbildung aussieht, sei laut Fischer und Yen untypisch bei Verletzungen dieser Art. Hartmut Fischer weist allerdings darauf hin, dass es sich auch um eine sogenannte Tamponade handeln könnte, bei der ein Ausstopfen von Körperöffnungen – in diesem Fall der Mundhöhle – eventuelles Austreten von Flüssigkeiten verhindern solle.
Dies sei bei islamischen Bestattungen tatsächlich üblich, wenn die Möglichkeit besteht, dass Körperflüssigkeit die Leiche oder das Leichentuch verunreinigen könne, bestätigte uns der Journalist und Islamwissenschaftler Özgür Uludağ, der zur Bestattung nach islamischer Tradition forscht und selbst als Bestatter tätig war. Nach der rituellen Waschung des Leichnams wird dieser in Leichentücher gehüllt. Körperöffnungen, aber auch Wunden, werden gegebenenfalls mit Watte oder Stoff verschlossen, damit keine Körperflüssigkeit mehr auf den rituell gereinigten Leichnam austreten kann.
Gegenüber der arabischen Faktencheck-Redaktion Misbar sagte der Fotograf Momen El Halabi, der das Video des Kindes aufgenommen hatte, dass es sich bei dem Opfer um einen vierjährigen Jungen handelt, der vor seinem Tod im Zeitoun-Viertel von Gaza-Stadt und damit in der Nähe des Al-Shifa Krankenhauses lebte. Laut Altnews und der BBC lautet der Name des Jungen Omar Bilal al-Banna. Eine Reporterin der BBC konnte mit der Mutter des Jungen sprechen. Laut ihr habe ihr Sohn gemeinsam mit seinem älteren Bruder Majd draußen gespielt, als er bei einem Raketenangriff getroffen wurde.
Nach den Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober reagierte Israel mit massiven Luftangriffen auf Gaza. Das Al-Shifa Krankenhaus, in dem das Video von Omar Bilal al Banna aufgenommen wurde, ist das größte Krankenhaus in Gaza und das wichtigste medizinische Versorgungszentrum. Laut Medienberichten suchten zehntausende Menschen in dem Krankenhaus Schutz vor israelischen Luftangriffen, die Leichenhalle sei bereits kurz nach Ausbruch des Krieges überfüllt gewesen, berichtet Euronews.
Die israelischen Botschaften in Deutschland, Österreich und Frankreich sowie die israelische Regierung reagierten bisher nicht auf eine Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck, auf welchen Quellen die Beiträge auf den jeweiligen X-Accounts basierten. Gegenüber der Frankfurter Rundschau heißt es von der Botschaft in Berlin, man habe die Informationen vom offiziellen Israel-Account übernommen. Die Beiträge sind weiterhin online.
Alle Faktenchecks zu Falschmeldungen und Gerüchten zum Krieg im Nahen Osten finden Sie hier.
Redigatur: Max Bernhard, Sophie Timmermann