Machen Probleme bei der Auslandsbriefwahl die Bundestagswahl anfechtbar? Das sagen Fachleute
Wer im Ausland lebt und sich für die Bundestagswahl registrieren ließ, erhielt die Briefwahlunterlagen teils spät oder gar nicht, sodass diese es nicht mehr rechtzeitig nach Deutschland schaffen konnten. Könnte deshalb die Wahl annulliert werden? Fachleute halten das für unwahrscheinlich.
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„Ist es korrekt, dass Auslandsdeutsche, die die Briefwahlunterlagen nicht erhalten haben und nicht die Möglichkeit haben, an ihren alten Wohnort zu reisen, um zu wählen, klagen können und dann die Wahl eventuell ungültig wäre?“ Das fragte ein Nutzer über den Whatsapp-Chatbot von CORRECTIV.Faktencheck vor der Bundestagswahl. Er ist nicht der einzige, den die Frage umtreibt.
Wochen vor der Bundestagswahl berichteten Medien darüber, dass im Ausland lebende Deutsche Schwierigkeiten bei der Stimmabgabe für die vorgezogene Bundestagswahl am 23. Februar in Deutschland hatten. Der Grund ist, dass sie ihre Briefwahlunterlagen erst spät oder gar nicht erhielten oder die Rücksendung mit der Post zu lange dauerte.
Der deutsche Botschafter in London, Miguel Berger, schrieb am 22. Februar auf X: „Keine Wahlunterlagen bei mir in London angekommen!“ und fordert eine Reform des Briefwahlverfahrens. Das BSW, dem am Ende nur 13.400 Stimmen fehlten, um in den Bundestag einzuziehen, will die Bundestagswahl anfechten – als einen Grund dafür nannte Parteivorsitzende Sahra Wagenknecht, das nur „ein Bruchteil“ der Auslandsdeutschen, die Wahlunterlagen beantragt hatten, tatsächlich wählen konnte.
Eine Reform des Briefwahlverfahrens könnte es nach der Bundestagswahl laut der Meinung mehrerer Experten durchaus geben. Eine Wiederholung der Wahl, von der manche bereits vor der Wahl im Netz raunten, halten sie aber für unwahrscheinlich. Die Details erklären wir im Folgenden.
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Bundeswahlleiterin warnte im Vorfeld vor Problemen bei der Briefwahl
Insgesamt gibt es rund 59,2 Millionen wahlberechtigte Deutsche. Deutsche mit Wohnsitz im Ausland, die wählen wollen, müssen sich zunächst ins Wählerverzeichnis bei ihren zuständigen Gemeindebehörden eintragen lassen. Bis zum 21. Februar taten das 213.255 Personen, schreibt die Bundeswahlleiterin in einer Pressemitteilung. Die Zahl werde sich noch „geringfügig“ erhöhen, wenn die Unterrichtung durch die Gemeindebehörden abgeschlossen sei.
Es habe „Fragen und Beschwerden“ von im Ausland lebenden Deutschen gegeben, bei denen „die rechtzeitige Zustellung der Wahlbriefe bei dieser unter verkürzten Fristen stattfindenden Bundestagswahl kritisch oder unmöglich“ gewesen sei, so die Bundeswahlleiterin. Das sei vor allem darauf zurückzuführen, dass das Grundgesetz bei einer vorgezogenen Neuwahl vorsieht, dass diese innerhalb von 60 Tagen durchzuführen ist. Wörtlich heißt es dort in Paragraph 39 Absatz 1: „Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.“
Den Bundestag hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 27. Dezember aufgelöst. Zuvor hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 16. Dezember 2024 die Vertrauensfrage gestellt und diese verloren. Olaf Scholz hatte zunächst einen Wahltermin im März vorgeschlagen, dem Druck der Opposition aber nachgegeben, sodass der Bundespräsident die Bundestagswahl schließlich für den 23. Februar ansetzte. Bereits im November warnte die Bundeswahlleiterin, dass ein früher Wahltermin zu einer Überlastung der Wahlämter führen könne und die ordnungsgemäße Briefwahl gefährde, wie der Spiegel berichtete.
Behörden ergriffen Maßnahmen, um Unterlagen an Auslandsdeutsche zuzustellen
In einer Pressemitteilung einen Tag vor der Bundestagswahl schrieb die Bundeswahlleiterin, dass man mehrere Maßnahmen unternommen habe, um die Wahl für Auslandsdeutsche möglich zu machen.
So seien die Gemeindebehörden gebeten worden, „für einen vorrangigen Versand der Unterlagen an Deutsche im Ausland zu sorgen“. Das Auswärtige Amt habe darüber hinaus „die Mitbenutzung des amtlichen Kurierwegs für viele Auslandsvertretungen ermöglicht“, weil es nicht möglich sei, auf den Postversand im Ausland Einfluss zu nehmen. Bis zum 20. Februar seien über diesen Kurierweg bisher 9.000 ausgefüllte Briefwahlunterlagen in Berlin angekommen, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes auf der Regierungspressekonferenz.
Doch auch mit dem Kurierweg gab es laut Medienberichten offenbar mehrfach Probleme. Und: Teilweise kam es offenbar zu skurrilen Umständen: Wie Tagesschau.de berichtet hat die Stadtverwaltung Halle auf Kostengründen auf einen Billigversand mit Umweg über die Schweiz gesetzt, um Unterlagen an Auslansdeutsche in Schweden zu verschicken – eine massive Zeitverzögerung war die Folge.
Anzahl der Briefwahlstimmen aus dem Ausland ist laut Experten zu gering, um Wahl zu beeinflussen
Könnten diejenigen, die so letztlich von der Wahl ausgeschlossen werden, am Ende rechtlich gegen das Ergebnis vorgehen? Das ist möglich und kann erst einmal jede Person tun, die wahlberechtigt ist. Die Beschwerden werden dann vom Wahlprüfungsausschuss des Bundestages untersucht und dem neu gewählten Bundestag vorgelegt. Volker Boehme-Neßler, Professor für öffentliches Recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, sagte gegenüber T-online, dass er es aber für unwahrscheinlich halte, dass die Wahl auf diesem Wege annulliert werde: „Der gerade neu gewählte Bundestag wird die Beschwerden ablehnen. Schließlich wird er sich nicht selbst für ungültig erklären.“ Danach ist eine Klage beim Bundesverfassungsgericht möglich.
Bernd Grzeszick, Professor für öffentliches Recht an der Universität Heidelberg, hält eine Annullierung für unwahrscheinlich. Er gehe davon aus, dass es Klagen von Auslandsdeutschen gegen die Wahl geben werde, sagte er gegenüber der Wirtschaftswoche am Tag vor der Bundestagswahl. Er ist aber der Meinung: „Sie dürften kaum Erfolg haben, da die Verfassung keine andere Möglichkeit zulässt“. Das liege an der Frist, die das Grundgesetz für die Neuwahl vorsehe: „Hier stehen zwei zentrale Ziele im Konflikt: das Recht auf Teilnahme an der Wahl und die Frist für die Wahl – und in diesem Fall hat die Frist Vorrang“, so Grzeszick. Zudem sei die Zahl der betroffenen Auslandsdeutschen zu gering, um die Zusammensetzung des Bundestags zu verändern.
Wie wir oben schrieben, waren Stand 21. Februar rund 213.000 Personen im Ausland für die Wahl registriert. Ein Gedankenspiel: Hätten sie so abgestimmt, wie die anderen Deutschen, dann könnte das BSW auf zusätzliche 10.650 Stimmen hoffen. Der Partei fehlen aber rund 13.000 Stimmen, um in den Bundestag einziehen zu können. Ulrich Battis, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Humboldt-Universität in Berlin sagte dazu gegenüber dem Handelsblatt, es sei „kaum anzunehmen“, dass die Zahl der Briefwahlstimmen das Ergebnis des BSW ändern würden. „Ein Nachweis wäre auch schwer zu erbringen“, so Battis.
Entscheidend ist dabei, sollte überhaupt ein Wahlfehler festgestellt werden, die sogenannte Mandatsrelevanz. Also die Frage, wie erheblich ein möglicher Wahlfehler auf das Wahlergebnis Einfluss hätte, zum Beispiel auf die Sitzverteilung oder den Einzug ins Parlament.
Die Bundeswahlleiterin schrieb uns dazu auf Anfrage: „Ein Wahlfehler ist dann mandatsrelevant, wenn er Einfluss auf die Sitzverteilung im Parlament haben kann“ und sei der „zentrale, wenn auch ungeschriebene Grundsatz des materiellen Wahlprüfungsrechts“. Es sei nicht nötig, den Einfluss „konkret“ nachzuweisen, sondern es genüge, dass der Fehler diese mögliche Auswirkung habe. Wörtlich schrieb uns die Bundeswahlleiterin: „Die Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung muss eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit sein. Andernfalls würde die Wahlanfechtung erheblich erschwert und das Verfahren mit überzogenen Beweisanforderungen belastet.“
Rechtswissenschaftlerin Schönberger: „verfassungsrechtlichen Anspruch auf Briefwahl“ gibt es nicht
Weiter sagte Rechtswissenschaftler Battis, dass es keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf die Briefwahl gebe. „Es sei Angelegenheit des Wählers, dass die eigene Stimme gewertet werden könne“, gibt das Handelsblatt den Staatsrechtler wider.
Gegenüber der Zeit äußerte sich auch Sophie Schönberger, Professorin für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, so: Es gibt „keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Briefwahl“, sagte sie. Denn es stehe allen Auslandsdeutschen frei, zur Wahl nach Deutschland zu kommen und ihre Stimme hier abzugeben. „Ich weiß, das ist für viele utopisch, aber deshalb wird das Verfassungsgericht die Wahl nicht annullieren.“
Niklas Simon, Doktorand an den Universitäten Freiburg und Toulouse, forscht zu Wahlrecht und Repräsentation im Ausland ansässiger Staatsangehöriger in Deutschland und Frankreich. Er ist ebenfalls der Auffassung, dass der Gesetzgeber generell nicht zur Briefwahl verpflichtet sei und es keine Pflicht gebe, diese einzuführen. Sei die Briefwahl für Auslandsdeutsche aber einmal eingeführt, dann müsse sie auch reibungslos durchgeführt werden. Das gelte aus seiner Sicht vor allem deshalb, weil „das ganze Verfahren der Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen auf die Briefwahl ausgerichtet“ sei. Wer sich als Auslandsdeutscher ins Wählerverzeichnis eintrage, bekomme die Briefwahlunterlagen automatisch zugesandt. Faktisch gebe es für Auslandsdeutsche aus seiner Sicht nur die Briefwahl.
Fachleute gehen von Reform des Wahlrechts aus
Volker Boehme-Neßler sagte gegenüber T-Online am Tag nach der Wahl, das bei „einem so knappen Wahlausgang“ die Möglichkeit eines mandatsrelevanten Wahlfehlers gegeben sei. Das Bundesverfassungsgericht müsse aber bei seiner Entscheidung auch abwägen, ob der Wahlfehler so gravierend sei, dass die Wahl wiederholt werden müsse. Sollte es zu einem Urteil kommen, könne das Bundesverfassungsgericht auch versuchen, den Wahlfehler zu „heilen“, ohne gleich die ganze Wahl zu annullieren.
„Eine naheliegende Lösung wäre, dass man die Wahlzettel, die nachweislich rechtzeitig abgeschickt wurden, aber verspätet ankamen, noch nachträglich mitzählt. Ich könnte mir vorstellen, dass das Verfassungsgericht so den Wahlfehler reparieren würde“, so Boehme-Neßler gegenüber T-Online.
Bernd Grzeszick von der Universität Heidelberg geht davon aus, dass Klagen gegen die Wahl den Anlass liefern könnten, „die Wahlverfahren so zu reformieren, dass Auslandsdeutsche künftig leichter ihre Stimme abgeben können“.
Das sieht auch Ulrich Battis so, wie er gegenüber der Tagesschau sagte: „Es könnte der Auftrag des Verfassungsgerichts an den Gesetzgeber dabei herauskommen, dafür Sorge zu tragen, dass das Wahlrecht im Ausland auch ausgeübt werden kann.“
Gegenüber der Zeit sagte Sophie Schönberger zudem, das Problem mit der Briefwahl für Auslandsdeutsche ließe sich dadurch lösen, „dass die Auslandsdeutschen vor Ort in den deutschen Botschaften und Konsulaten wählen dürfen. Das würde ich für sinnvoll halten, aber es ist eben verfassungsrechtlich nicht zwingend geboten. Es ist eine politische Entscheidung, das zuzulassen.“
Redigatur: Sophie Timmermann, Uschi Jonas