Politik

Koalitionspläne zu Totalsanktionen beim Bürgergeld sind rechtlich umstritten

In ihrem Koalitionsvertrag forderte die neue Regierung für Arbeitslose, die mehrfach eine Arbeit ablehnen, einen vollständigen Leistungsentzug. Und das obwohl das Verfassungsgericht solche Sanktionen bereits 2019 einschränkte. Sind die Pläne der Koalition rechtmäßig?

von Paulina Thom , Matthias Bau

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Die neue Regierung will das Bürgergeld in „neue Grundsicherung“ umbenennen. Laut Koalitionsvertrag sollen zudem „vollständige Leistungskürzungen“ eingeführt werden. (Foto: Schoening / Picture Alliance)

Die Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP ersetzte 2023 das Hartz-IV-System durch das Bürgergeld. Seitdem gibt es ein großes Streitthema: Sanktionen gegen Menschen, die Jobangebote mehrfach abgelehnt haben – abwertend „Totalverweigerer“ genannt. Die von der Ampel beschlossenen Sanktionsmöglichkeiten gingen der Linken zu weit, CDU und AfD forderten dagegen mehr Härte. 

Nun will die neue Bundesregierung aus Union und SPD die Sanktionen verschärfen. Konkret heißt es zur „neuen Grundsicherung“ im Koalitionsvertrag: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“ Um dieses Vorhaben umzusetzen, will die Regierung die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten – was jedoch schwierig sein könnte, denn dieses hatte solche Totalsanktionen 2019 eingeschränkt.

Deshalb halten mehrere Stimmen die geplante Verschärfung für nicht rechtmäßig. So bezeichnete die Gewerkschaft Verdi die „neue Grundsicherung“ bereits 2024 als „verfassungswidrig“. Ein Experte des Sozialverbands VdK Deutschland erklärte Medien gegenüber, dass der Rahmen möglicher Sanktionen durch das Urteil von 2019 bereits ausgeschöpft sei und Jan van Aken, Co-Vorsitzender der Linken, sagte, der geplante „Totalentzug“ im Koalitionsvertrag sei ein „angekündigter Rechtsbruch“

Wir haben Rechtsexpertinnen um Einschätzung gebeten. Zwar ist der Fall kompliziert, klar ist aber: Der große Streit um Sanktionen für Menschen, die mehrfach einen Job abgelehnt haben, dreht sich um einen sehr geringen Anteil von Menschen, die Bürgergeld beziehen. 

Auch beim Bürgergeld kann der Regelbedarf bis zu zwei Monate komplett gestrichen werden

Doch erstmal vorab: Es gibt nicht „das Bürgergeld“. Je nach Lebenssituation setzt sich die Grundsicherung für eine Person unterschiedlich zusammen: Es gibt den Regelbedarf, Mehrbedarfe, besondere Bedarfe und Bedarfe für Unterkunft und Heizung. 

Wie die Bundesagentur für Arbeit erklärt, ist der Regelbedarf ein pauschaler Betrag, um „alle notwendigen Alltagsausgaben“ bezahlen zu können – Unterkunft und Heizung werden unabhängig davon übernommen. In besonderen Situationen haben bestimmte Personengruppen Anspruch auf einen Mehrbedarf, zum Beispiel Alleinerziehende.

Die Sanktionsmöglichkeiten, die es von Anfang an beim Bürgergeld gab, betreffen den Regelbedarf. Dieser kann bei Pflichtverletzungen schrittweise um bis zu 30 Prozent für drei Monate gekürzt werden. Bürgergeldempfänger verletzen ihre Pflicht, wenn sie – ohne wichtigen Grund – beispielsweise einen Termin nicht wahrnehmen, Fristen nicht einhalten oder eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen.

Im März 2024 ergänzte die Ampel-Regierung, dass der Regelbedarf für eine Dauer von zwei Monaten komplett gestrichen werden kann, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte innerhalb des letzten Jahres bereits sanktioniert wurden und „willentlich eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen“. Diese Regelung gilt zunächst bis Ende März 2026.

Koalitionsvertrag: Unklar was Union und SPD mit „vollständiger Leistungsentzug“ meinen 

So viel zum Ist-Stand der Sanktionen, den die neue Regierung nun verschärfen will. Unklar ist, was sie mit „vollständiger Leistungsentzug“ im Koalitionspapier meint. Will sie den Regelbedarf stärker und länger kürzen, oder plant sie neben dem Regelbedarf auch Leistungen für Heizung und Wohnung zu streichen? Auf unsere Nachfrage dazu bei den Parteien und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erhielten wir keine Antwort. 

Ein SPD-Sprecher schrieb uns lediglich, eine Kommission werde Vorschläge erarbeiten. Wie genau diese aussehen, bleibe abzuwarten. Das BMAS schrieb uns, man werde das Vorhaben „zügig“ umsetzen. Einen Zeitplan und die Inhalte der Reform nannte man uns aber nicht. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas sagte gegenüber der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung Mitte Mai, schon heute könnten Leistungen komplett gestrichen werden. Weiter sagte die Ministerin: „Wer aber eine komplette Streichung auch der Wohnkosten fordert, verkennt die Lage. Das Existenzminimum muss gesichert werden – das sagen die Gerichte. Es kann nur darum gehen, dass Sanktionen schneller greifen und deutlicher sind.“ 

CDU Generalsekretär Carsten Linnemann sagte Anfang Juni: „Wenn jemand nachweislich wiederholt einen zumutbaren Job nicht annimmt, obwohl er offenkundig arbeiten kann, dann muss der Staat davon ausgehen, dass derjenige nicht bedürftig ist. Und dann bekommt er auch kein Bürgergeld mehr.“

Es bleibt also auch aktuell noch unklar, welche Verschärfungen SPD und CDU genau umsetzen wollen. Unabhängig davon gilt aber: Das Bundesverfassungsgericht hat Totalsanktionen nicht per se für verfassungswidrig erklärt. 

Warum das Bundesverfassungsgericht 2019 Sanktionen einschränkte

Constanze Janda, Rechtswissenschaftlerin an der Universität Speyer, schreibt uns: Das Gericht habe 2019 entschieden, dass der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II mit den verfassungsrechtlichen Maßgaben nicht vereinbar sei. Und zwar aus folgenden Gründen: Bei einem vollständigen Leistungsentzug würden nicht nur die Geldleistungen wegfallen, sondern auch der Verlust von Wohnung und Krankenversicherung drohen. Das habe schwerwiegende Auswirkungen auf die Existenzsicherung, erklärt Janda. 

Außerdem müsse man jederzeit die Möglichkeit haben, sein Verhalten zu ändern und danach sofort wieder die vollen Leistungen zu beziehen. Laut Gericht gebe es zudem keine Studien, die belegen, dass der vollständige Entzug von Leistungen geeignet sei, Menschen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu bewegen.

Letzteres hielt auch Andrea Kießling, Rechtswissenschaftlerin an der Goethe-Universität Frankfurt, für relevant. Sie schrieb 2024 auf dem Verfassungsblog: Das Gericht habe nur für Sanktionen in Höhe von 30 Prozent des Regelbedarfs eine durch Studien belegte Wirksamkeit festgestellt.

Ausnahme im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu Sanktionen 

In der Regel sind Totalsanktionen also verfassungswidrig, doch es gibt eine Ausnahme im Urteil: 

„Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit […] ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern.“

Diese Situation wäre laut Gericht mit fehlender Hilfebedürftigkeit vergleichbar, schreibt uns Janda, und die Hürden dafür seien recht hoch: Denn die Ausnahme setze voraus, dass der Person eine zumutbare Arbeit angeboten worden sei, mit der sie ihr Existenzminimum sichern könne. Das Angebot müsse die betreffende Person willentlich, also in Kenntnis aller Umstände, verweigert haben, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. 

Ein vollständiger Leistungsentzug ist also unter diesen Umständen möglich – darin sind sich alle von uns kontaktierten Rechtsexpertinnen einig. 

Vertragen sich die Koalitionspläne mit dem Recht? Was Expertinnen sagen

Ob der Vorschlag aus dem Koalitionsvertrag am Ende wirklich verfassungskonform wäre, darüber gehen die Meinungen aber auseinander. 

Die Bedeutung der Passage aus dem Urteil sei letztlich ungeklärt, schreibt uns Kießling: „Beim ersten Lesen klingt sie so, als habe der Gesetzgeber hier einen noch nicht ausgereizten Spielraum; bei näherer Betrachtung ergeben sich aber viele ungelöste Probleme, die den Spielraum wieder sehr stark einschränken.“ Es sei etwa unklar, wann man von einer „willentlichen Verweigerung“ einer angebotenen Arbeit sprechen könne und wie man sicherstelle, dass in der Praxis auch nur solche Fälle – und nicht etwa Menschen mit psychischer Erkrankung – sanktioniert würden „Ich bin der Meinung, dass es nahezu unmöglich ist, die entsprechende Vorschrift im Gesetz so zu formulieren, dass man nur die ‚Richtigen‘ trifft“, so Kießling. 

„Ich sehe keine Spielräume, das im Koalitionsvertrag angekündigte Vorhaben umzusetzen“, schreibt uns Janda und erläutert auf Nachfrage, dass die angebotene Arbeit existenzsichernd sein müsse. Dieser Aspekt wird im Koalitionsvertrag jedoch nicht erwähnt. Zudem gibt es laut Janda noch immer keine Studien, die belegen, dass sich Totalsanktionen eigneten, um Menschen in Arbeit zu bringen.

Anders sieht das Minou Banafsche, Rechtswissenschaftlerin an der Uni Kassel: Im Koalitionsvertrag stehe, dass man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten wolle. Der von Union und SPD geforderte vollständige Leistungsentzug im Sinne der „Totalsanktion“ sei nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts unter den dort genannten Umständen rechtlich möglich.

Wann greifen die Sanktionen und wie viele Menschen gibt es, die mehrfach Jobangebote ablehnen? 

Doch wie viele „Totalverweigerer“ gibt es überhaupt? 2024 behauptete CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, es gebe eine „sechsstellige Zahl“ von Menschen, die „grundsätzlich nicht bereit ist, eine Arbeit anzunehmen“. Zu der Frage, wie Linnemann zu seiner Behauptung gekommen sei, werde man sich nicht äußern, schreibt eine Sprecherin der CDU auf Nachfrage.

Laut Informationen der Bundesagentur für Arbeit ist die Zahl deutlich zu hoch gegriffen. Ein Sprecher sagte gegenüber der Tagesschau im März 2024, man habe keine genauen Zahlen zu „Totalverweigerern“. Doch eine Zahl kommt dem nahe: In der Statistik werde erfasst, wie viele Sanktionen es gab, weil die Aufnahme einer Arbeit, Ausbildung oder vergleichbaren Maßnahme verweigert wurde. 

Aus diesem Grund gab es 2024 insgesamt rund 23.400 Kürzungen. Wie uns ein Sprecher der Bundesagentur auf Nachfrage telefonisch erklärte, lasse sich daraus jedoch nicht ableiten, ob eine Kürzung auf eine Person entfällt oder ob manche mehrfach sanktioniert wurden. 

Der Einfachheit halber gehen wir davon aus, dass jede Sanktion genau eine leistungsberechtigte Person betraf, also insgesamt 23.400 Menschen sanktioniert wurden, weil sie eine Arbeitsaufnahme verweigerten. Diesen standen laut der Bundesagentur für Arbeit im Februar 2025 rund 5,4 Millionen Leistungsberechtigte gegenüber, die Anspruch auf Bürgergeld haben. Von diesen 5,4 Millionen stehen nur rund 1,8 Millionen auch tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung.

Das heißt, dass der Anteil derjenigen, die arbeiten könnten und wegen der „verweigerten Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder Teilnahme an einer Eingliederungsmaßnahme“ 2024 sanktioniert wurden, bei maximal rund 1,3 Prozent lag. 

Der häufigste Grund für Leistungskürzungen (rund 86 Prozent) waren Meldeversäumnisse. Von rund 369.200 Leistungskürzungen wurden 2024 insgesamt etwa 318.700 Kürzungen ausgesprochen, weil Personen ohne wichtigen Grund nicht zu Terminen bei einem Träger erschienen sind. 

Auswirkungen von Leistungskürzungen auf die Betroffenen

Die Anzahl derjenigen, für die es solche Totalsanktionen geben soll, wäre also anteilig zu den Personen, die Bürgergeld beziehen, nur sehr gering. Die Effekte solcher Sanktionen sind bislang wenig erforscht.

Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 2019 schreibt, zeigten vorhandene Studien zwar, dass Leistungskürzungen positive arbeitsmarktpolitische Wirkungen entfalten können, dass Betroffene dadurch jedoch ihre Hilfebedürftigkeit tatsächlich überwinden können, sei „nicht eindeutig belegt“. 

So untersuchte etwa das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH Köln im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen mithilfe einer repräsentativen Befragung 2013 die Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen. Dabei zeigte sich, dass Totalsanktionen vor allem dazu führten, dass 54 Prozent der unter 25-Jährigen anschließend angaben, kein Vertrauen mehr in ihren Sachbearbeiter oder ihre Sachbearbeiterin zu haben. Unabhängig von der Höhe der Sanktionen brachen eigenen Angaben zufolge 17 Prozent den Kontakt zum Jobcenter ab. 

Bei den über 25-Jährigen zeigte sich, je höher die Sanktionen waren, desto größer war der Anteil derjenigen, die laut Eigenaussage den Kontakt zum Jobcenter abgebrochen haben. Bei der Gruppe an Personen, die Sanktionen in Höhe von 60 Prozent oder mehr erhielten, gaben 23 Prozent an, den Kontakt abgebrochen zu haben.

Dieselbe Studie zeigt darüber hinaus, dass sich Betroffene aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen. So gaben etwa 50 Prozent der unter 25-jährigen an, dass sie seit der Sanktion zurückgezogener leben und sich nicht mehr so häufig mit Freunden treffen. Das trifft auf Personen, deren Leistungen um 10 Prozent gekürzt wurden, genauso zu wie auf Personen, deren Leistungen vollständig gekürzt wurden. Die Tendenz zur sozialen Isolation zeigte bereits eine Studie aus dem Jahr 2009.

Im August 2024 berichtete das Institut für Arbeitsmarkt und Bildungsforschung, eine Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit, dass die Möglichkeit von Sanktionen zwar dazu führen könne, dass Menschen eher eine Beschäftigung aufnehmen. Stärkere Sanktionen führten jedoch eher dazu, dass Menschen schlechter bezahlte Berufe annehmen würden. 

Update, 12. Juni 2025: Wir haben eine Aussage von Rechtswissenschaftlerin Banafsche konkretisiert.

Redigatur: Kimberly Nicolaus, Steffen Kutzner

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 21. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages: Link (PDF, archiviert) 
  • Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 5. November 2019: Link (archiviert)
  • Anne Ames, 2009, „Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II“: Link (PDF, Download)
  • Unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB 11 und nach dem SGB 111 in NRW, 2013, Helmut Apel und Dietrich Engels: Link (archiviert)
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