Polizeigewalt bei Palästina-Demo: Virale Aufnahme zeigt Polizist der Schmerzgriff bei Mädchen anwendet
Nach pro-palästinensischen Demonstrationen kommt es aktuell immer wieder zu Vorwürfen von übertriebener Polizeigewalt. CORRECTIV.Faktencheck hat einen Vorfall aus Berlin verifiziert, bei dem ein Polizist bei einem Mädchen einen Schmerzgriff anwendet. Fachleute beurteilen dies nach Ansicht des Videos als unverhältnismäßig.

Nach Palästina-solidarischen Demonstrationen kommt es immer wieder zu Vorwürfen von Polizeigewalt. Im Mai kritisierte der Menschenrechtskommissar des Europarates Michael O’Flaherty die deutschen Behörden für ihr Vorgehen: Er sei „besorgt über Berichte über die übermäßige Gewaltanwendung der Polizei gegen Demonstranten, darunter auch Minderjährige“.
Vielfach verbreiten sich in Sozialen Netzwerken Aufnahmen von Fällen, in denen Nutzerinnen und Nutzer der Polizei unverhältnismäßige Gewalt vorwerfen. Videos einer Polizeimaßnahme im Juli in Berlin gingen zuletzt besonders viral – mehr als 13 Millionen Aufrufe hat inzwischen ein Video auf Tiktok, in dem zu sehen ist, wie ein Polizist ein Mädchen abführt – dabei bedeckt er das Gesicht mit seiner Hand und hält den Kopf zurück, mit der anderen Hand verdreht er das Handgelenk des Mädchens. Laut verschiedenen Beiträgen soll das Mädchen erst 13 Jahre alt sein. Wäre das der Fall, würde das Mädchen rechtlich noch als Kind gelten.
In Kommentaren fragen sich Nutzerinnen und Nutzer, was der Grund für das Vorgehen der Polizei war. Manche mutmaßen, der Polizist wolle durch die Hand auf dem Gesicht die Identität des Mädchens schützen. Ein anderer Nutzer fragt sich, ob das Video aus Deutschland stammt.
CORRECTIV.Faktencheck hat Aufnahmen von dem Vorfall verifiziert und mit Zeugen, die vor Ort waren, gesprochen. Außerdem ordneten Fachleute das Vorgehen der Polizei für uns ein. Laut ihnen wendet der Polizist bei dem Mädchen einen Schmerzgriff an, ohne dass es dafür eine Grundlage gebe.
Zu den Vorwürfen, dass das Vorgehen des Polizisten unverhältnismäßig sein könnte, antwortete die Polizei Berlin, dass gegen den eingesetzten Beamten durch eine Privatperson ein Beschwerdeverfahren eingeleitet worden sei, in dem die Maßnahme „objektiv geprüft“ werde. Die Polizei Berlin sei verpflichtet, unter mehreren geeigneten Maßnahmen diejenige zu wählen, die die betroffene Person und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt.

Polizei bestätigt Vorfall im Video
Die Aufnahmen im Netz sind bei einer Demonstration am 19. Juli 2025 nahe dem Breitscheidplatz in Berlin entstanden, wie ein Vergleich mit Bildern auf Google Maps zeigt.

Das bestätigten uns auch zwei Zeugen, die vor Ort anwesend waren und teilweise den Vorfall gefilmt haben. Laut einem der Zeugen, ist das Mädchen im Bild erst vor kurzem 14 Jahre alt geworden. Deshalb ist in den Beiträgen in Sozialen Netzwerken wohl noch von einem 13-jährigen Mädchen die Rede. Relevant ist das, weil Kinder in Deutschland ab dem 14. Lebensjahr teilweise strafmündig werden.
Die Pressestelle der Polizei Berlin bestätigte den Vorfall, der im Video zu sehen ist, auf Nachfrage ebenfalls: „Bei der im zugrundeliegenden Video erkennbaren Freiheitsbeschränkung einer weiblichen jugendlichen Person im Alter von 14 Jahren im Rahmen einer pro-palästinensischen Kundgebung handelt es sich um polizeiliche Maßnahmen im Nachgang zweier Beleidigungen zum Nachteil von zwei Polizeivollzugsbeamten.“
Das Mädchen wurde schon mehrfach von der Polizei festgenommen und dabei immer wieder gefilmt, wie Aufnahmen in Sozialen Netzwerken zeigen. Allerdings gehen die Polizeibeamten in diesen Aufnahmen anders vor: Sie tragen das Mädchen weg, oder bitten es, mit ihnen zu kommen.
Fachleute: Polizist wendet mit Schmerzgriff unverhältnismäßige Gewalt an
Wir haben Fachleute um eine Einschätzung zu dem Vorfall gebeten. Sowohl Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt, als auch Beate Streicher, Expertin für Polizei und Menschenrechte bei Amnesty International in Deutschland, sagten uns, dass das Vorgehen des Polizisten nach Ansicht des Materials unverhältnismäßig sei. Es lasse sich kein Grund erkennen, wieso bei dem Mädchen ein Schmerzgriff angewendet wird.
Streicher schreibt uns auf Nachfrage: „Das Verdrehen des Handgelenks ist ein Schmerzgriff.“ Gegebenenfalls würden auch durch den Griff ins Gesicht Schmerzen zugefügt, das lasse sich aber nicht eindeutig erkennen. Tatsächlich zeigen von FragDenStaat veröffentlichte Schulungsunterlagen der Polizei Berlin aus dem Jahr 2005 einen sehr ähnlichen Griff unter dem Kapitel „Schmerzpunkte“.

Singelnstein schreibt uns, Schmerzgriffe seien rechtlich sehr umstritten und bei Jugendlichen sei aus Gründen der Verhältnismäßigkeit besondere Zurückhaltung gefragt. „Gerade bei derart jungen Personen können sie allenfalls unter höchst besonderen Umständen als gerechtfertigt angesehen werden“, schreibt Singelnstein.
Auch Streicher zweifelt an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme: „Hier fehlt mir die Vorstellungskraft, wie die Anwendung des brutalen Schmerzgriffs zu rechtfertigen sein soll.“ Gewaltanwendung der Polizei müsse immer verhältnismäßig sein. Die Polizei müsse also einen rechtmäßigen Zweck verfolgen und das mildeste Mittel verwenden. Stehe der Vorwurf der Beleidigung, also eines Vergehens, im Raum – wie von der Polizei Berlin angegeben – wäre eher die Aufnahme der Personalien naheliegend, erklärt Streicher. „Jedenfalls hätte die Person weggeführt oder weggetragen werden können, ohne dass durch die Griffe am Handgelenk und gegebenenfalls auch im Gesicht zusätzliche Schmerzen zugefügt werden.“
Carolin Kaufmann ist Rechtsanwältin mit Fokus auf Strafrecht bei Jugendlichen und Heranwachsenden und Vorwürfen im Zusammenhang mit Demonstrationen. Sie ist außerdem Mitglied im Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein, der sich unter anderem gegen Polizeigewalt und die Ausweitung polizeilicher Befugnisse einsetzt. Auch laut Kaufmann ist kein anderer Grund für den angewendeten Griff im Video ersichtlich, als Schmerzen zu verursachen. Im Video sei außerdem kein Grund zu erkennen, wieso es notwendig gewesen wäre, Schmerzen zuzufügen. „Man sieht andere Beamte, die rumstehen, das Mädchen hätte also einfach getragen werden können,“ erklärt sie.
Tatsächlich sind in einer anderen Aufnahme von dem Vorfall mehr als zehn Polizeibeamte zu erkennen, die hinter oder vor dem Polizisten und dem Mädchen laufen oder an der Seite stehen.
Die Pressestelle der Polizei Berlin schrieb, dass das Wegtragen einer Person „unter bestimmten Umständen, etwa bei Widerstand oder unkontrollierten Bewegungen, ein erhöhtes Verletzungsrisiko darstellen“ könne und daher nicht immer das mildeste Mittel sei.

Weitere Aufnahme zeigt Moment vor Festnahme
Eine Aufnahme, die den Moment der Festnahme zeigt, liefert keine Anhaltspunkte, die das Vorgehen des Polizisten erklären würden: Das Mädchen steht zu Beginn der Aufnahme in einer kleinen Gruppe am Rande der Veranstaltung. Der Polizist greift sie am Arm und hält im nächsten Moment ihren Kopf nach hinten und verdreht ihr Handgelenk, ohne dass davor erkennbar wäre, dass sich das Mädchen widersetzt. Die Polizei schreibt, das Mädchen habe zwei Beamte beleidigt. Laut der Pressestelle der Polizei Berlin habe das Mädchen das Ausweisen zuvor abgelehnt. Ob das so war, konnten wir anhand der Videoaufnahmen nicht überprüfen, zum Geschehen davor konnten wir keine Aufnahmen finden.
Laut Kaufmann hätte die Polizei die Personalien des Mädchens auch vor Ort aufnehmen können. „Auch für den Fall, dass es für die Polizei praktischer gewesen wäre, die Personalien nicht vor Ort, sondern an einem Bearbeitungspunkt zu klären, müssten sie das Mädchen erst auffordern, mitzukommen“, erklärt die Anwältin. Falls das verweigert würde, müsste die Polizei unmittelbaren Zwang erst mündlich androhen und dürfte ihn grundsätzlich auch erst nach der mündlichen Androhung anwenden, wenn dann immer noch nicht kooperiert wird, so Kaufmann. Auch dann müsse auf die Verhältnismäßigkeit geachtet werden. „Folglich wäre es möglich gewesen, das Mädchen entweder mit mehreren Beamten zu tragen oder es, ohne die Hand auf das Gesicht zu legen und das Handgelenk zu überdehnen, wegzuführen. Wie diese Handlungen gerechtfertigt sein sollen, erschließt sich mir nach dem Video überhaupt nicht.“

Anwendung von Schmerzgriffen durch die Polizei ist allgemein umstritten – auch bei Erwachsenen
Die Fachleute wiesen außerdem darauf hin, dass die Anwendung von Schmerzgriffen insgesamt umstritten ist. „Bei der Anwendung von Techniken, die primär darauf ausgelegt sind, einer Person Schmerzen zuzufügen, kann man sich schon fragen, ob das überhaupt ein rechtstaatlich gebotener Zweck sein kann“, schreibt uns Beate Streicher von Amnesty International. Sehr oft gebe es andere Maßnahmen, die die Polizei stattdessen anwenden könnte. „Dabei geht es nicht darum, dass es für die Polizei besonders ,einfach‘ sein soll, sondern dass die Rechte der betroffenen Personen möglichst wenig beeinträchtigt werden.“ Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung und das Folterverbot setzten dabei klare Grenzen.
Im März urteilte das Berliner Verwaltungsgericht, dass die Anwendung von Schmerzgriffen gegen einen erwachsenen Klimaaktivisten rechtswidrig war. Zu seiner Entscheidung erklärte der Richter Wilfried Peters laut LTO, dass zwar an der generellen Zulässigkeit von Schmerzgriffen „keine Zweifel“ bestünden, die Polizei aber in dem speziellen Fall andere Möglichkeiten gehabt hätte, nämlich den Mann einfach wegzutragen.
Laut dem Artikel von LTO gab Peters, der Vizepräsident des Verwaltungsgerichts war, auch darüber Auskunft, anhand welcher Kriterien die Verhältnismäßigkeit einer polizeilichen Maßnahme gegen Versammlungsteilnehmende geprüft werden kann: Die Zahl der Einsatzkräfte vor Ort, ob sich die Person gegen die Zwangsmaßnahme wehre, und das „Kräfteverhältnis“ zwischen Polizei und Demonstrierenden.
Redigatur: Matthias Bau, Gabriele Scherndl