Hintergrund

Anschlagsdrohung an Berliner Schulen ist Teil einer internationalen Fake-Serie

„Wir sagen gleich, wohin wir gehen“: Mit diesem Satz beginnt eine angebliche Anschlagsdrohung gegen 20 Berliner Schulen, die Mitte November für Aufregung sorgte. CORRECTIV entdeckte dahinter ein Muster, das auch in Russland und der Ukraine bereits bekannt ist.

von Sarah Thust , Gabriele Scherndl

Ausschnitt einer Anschlagsdrohung gegen Berliner Schulen
Der russische Satz, übersetzt „Wir sagen gleich, wohin wir gehen“, taucht in einer Reihe von Anschlagsdrohungen gegen Schulen auf. So auch im aktuellen Fall in Berlin. (Quelle: Telegram; Screenshot und Collage: Ivo Mayr / CORRECTIV)

Am 16. November veröffentlicht ein russischsprachiger Telegram-Kanal eine Drohung gegen 20 Berliner Schulen um 9.16 Uhr deutscher Ortszeit. Knapp zehn Minuten später macht eine Nutzerin in deutschen Telegram-Kanälen auf die Drohung aufmerksam: „Hallo, ich habe den Kanal eines Terroristen gesehen, der plant, Kinder in Berlin zu töten“, schreibt sie, erst auf Russisch und dann auf Deutsch. Einer der Kanalbetreiber reagiert – er gibt an, den Hinweis um 10.23 Uhr der Polizei gemeldet zu haben und macht später in einem Video auf Telegram darauf aufmerksam. 

Von da an klingelt das Telefon bei der Polizei Berlin immer wieder: Mehr als 900 Anrufe besorgter Eltern seien eingegangen, sagt ein Sprecher. Rund 24 Stunden später gibt die Polizei auf X Entwarnung: Die Schulen seien überprüft worden, es habe verstärkte Präsenz im Stadtgebiet gegeben, Präventionsbeamte seien vor Ort gewesen, um Eltern, Schülerinnen und Schüler zu unterstützen und kein Hinweis habe sich bestätigt. Die Anschlagsdrohung sei eine Falschinformation. Auch der Verfassungsschutz prüft den Fall.  

Was bislang unbekannt war: Der Fall in Berlin ist Teil einer Serie von Drohungen. CORRECTIV.Faktencheck fand weitere Beiträge und ältere Medienberichte aus unterschiedlichen Ländern, die mehr als ein Dutzend ähnlicher Drohungen belegen. Sie sorgten in Russland, der Ukraine, Belarus, Kasachstan und Aserbaidschan für Verunsicherung, und wurden alle auf ähnlichem Weg verbreitet. Soweit bekannt, waren sie alle erfunden, Anschläge folgten nicht.

Ähnliche Anschlagsdrohungen zuvor in Russland, Ukraine, Belarus, Kasachstan und Aserbaidschan 

Der Telegram-Beitrag mit der Drohung gegen Berliner Schulen beginnt mit dem Satz „ГОВOРИМ СРАЗУ КУДА ПОЙДЕМ“, übersetzt: „Wir sagen gleich, wohin wir gehen“. Danach werden 20 Lehreinrichtungen in Berlin mit teils russischer Prägung genannt. Wie bereits der Tagesspiegel (kostenpflichtig) berichtete, existieren drei davon nicht mehr und einige sind falsch geschrieben.

Der Telegram-Kanal, in dem die Drohung veröffentlicht wurde, ist auffällig: Der inzwischen gelöschte Kanal „ГЕРМАНСКИЙ ХАЛИФАТ“, übersetzt „Deutsches Kalifat“, wurde zwei Tage zuvor erstellt, veröffentlichte nur zwei Beiträge mit der Anschlagsdrohung und hatte anfangs nur zwei Abonnenten – die Drohung wäre also nie öffentlich bekannt geworden, wenn sie nicht weiter verbreitet worden wäre. Das Problem bei Telegram: Es lässt sich kaum herausfinden, wer hinter einem Kanal oder Nutzer-Profil steckt. 

Dieser Satz kommt auch in 16 weiteren Drohungen vor, die CORRECTIV.Faktencheck fand, mal auf Russisch, mal auf Ukrainisch. Weitere Übereinstimmungen: Alle Beiträge zeigen Fotos von Gewehren – laut Waffenhändler Markus Schwaiger teils echte Waffen und scharfe Munition, teils Luftdruckgewehre. Einige Fotos werden in mehreren Beiträgen verwendet – etwa tauchte dasselbe Bild in Drohungen in Russland, Aserbaidschan und der Ukraine auf. Auch weitere Formulierungen sind auffällig, etwa die Aufzählung von Schulen und der Satz „Wir sind 50, wir haben keine Angst, die Polizei kann uns nicht fassen.“ (Anmerkung der Redaktion: Mal heißt es „50“, mal „20“ oder „viele“.)

Eine Auswahl der Beiträge haben wir hier aufbereitet:

Die einen deuten auf Russland, die anderen auf die Ukraine – Belege fehlen da wie dort

Unsere Auswertung ergibt: Drohungen nach diesem Muster tauchen mindestens seit Ende Dezember 2023 immer wieder auf. Anfangs – soweit nachvollziehbar – vor allem in Russland. Auch dort sorgte der erste auffindbare Post für Verunsicherung, laut russischen Medienberichten sei dafür mutmaßlich ein Schüler verantwortlich gewesen, der „seinen Mitschülern einen Streich spielen wollte“.

Einige Monate später waren auch mehrere ukrainische Städte betroffen. CORRECTIV.Faktencheck stieß etwa auf einen Telegram-Beitrag von Mai 2024, der sich gegen Schulen und ein Einkaufszentrum in der umkämpften Region Donezk richtete. Das ukrainische Medium Gwara sammelte die Drohungen im April 2025 in einem Hintergrundbericht: Betroffen waren etwa die Städte Ternopil, Dnipro und Schytomyr. Das ukrainische Innenministerium auf Telegram schrieb über eine weitere Drohung in Lwiw, der Kanal sei von russischem Territorium aus betrieben worden. Belege legt es auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck jedoch nicht vor.

In dieser Recherche hat CORRECTIV.Faktencheck Beiträge zusammengetragen, die der Drohung in Berlin in Sprache und Aufbau ähnelten. Wir fanden insgesamt 28 Beiträge in ukrainischer oder russischer Sprache, von denen aber nur 16 in dasselbe Muster passten wie der Beitrag zu Berlin. Sechs dieser Drohungen richteten sich an Städte in Russland, sechs an Städte in der Ukraine und wir fanden jeweils einen Fall aus Aserbaidschan, Kasachstan und Belarus. Ein Fall ließ sich keinem Land oder Ort zuordnen.

Drohungen gab es aber eben auch in Russland. Laut Berichten etwa in Bratsk und Saratow – beide Male bereits im Januar 2024, weitere folgten. Auch in Belarus, das eng mit Russland verbunden ist, gab es Anfang 2024 eine Drohung, die dem bekannten Muster folgt. Die Polizei der Region Brest vermutete die Ukraine hinter den Drohungen, weil die Falschinformation von einem ukrainischen Nutzer-Profil verbreitet worden sei. Eine Anfrage an die betroffene Stadt Brest blieb unbeantwortet.

Auch Städte in Aserbaidschan und Kasachstan wurden bedroht. Der Leiter der regionalen Polizeibehörde berichtete von mehreren Vorfällen und sagte laut dem Medienhaus Ratel, die Drohungen kämen „aus einem Nachbarstaat“. So einer ist zwar Russland, nicht aber die Ukraine – welchen Nachbarstaat er meinte, konkretisierte er auf Nachfrage von CORRECTIV.Faktencheck nicht. Weder der russische noch der ukrainische Staat antworteten auf entsprechende Nachfragen.

Berliner Polizei und Verfassungsschutz empfehlen: Drohungen melden, nicht weiterverbreiten

Im Berliner Fall erinnerte die Polizei bereits in einer Pressemitteilung an den richtigen Umgang mit Drohungen dieser Art: „Bitte verbreiten Sie diese Falschinformationen nicht weiter. Sorgen Sie nicht dafür, dass die Verantwortlichen mit diesem Versuch, Angst und Schrecken unter unseren Kindern und Jugendlichen zu verbreiten, am Ende Erfolg haben.“ Der Verfassungsschutz schrieb CORRECTIV.Faktencheck auf Nachfrage, Nutzende sollten auffällige Inhalte in Sozialen Netzwerken zunächst auf Plausibilität prüfen und im Zweifelsfall – vor allem bei Gefahr für Leib und Leben – direkt die Polizei informieren. 

Wer hinter der Drohung an die Berliner Schulen steckt, ist bis 25. November 2025 noch unklar: Am Telefon sagte ein Sprecher der Polizei, man arbeite daran, die Verantwortlichen zu ermitteln. Die Behörden würden auch prüfen, ob es sich um eine ausländische Desinformationsaktion handele oder nicht. Man ermittle „in alle Richtungen“. 

Das Bundesamt für Verfassungsschutz teilte auf Anfrage mit, man stehe „in engem Kontakt mit den Behörden vor Ort“ und prüfe auch die Vermutungen, ob es sich um eine Desinformationskampagne aus dem Ausland handeln könnte. Der Verfassungsschutz schrieb: „Grundsätzlich gilt: Fremde Mächte setzen ihre Nachrichtendienste umfassend gegen Deutschland ein und betreiben in diesem Kontext jedenfalls unzulässige Einflussnahme und verbreiten Desinformation.“

Desinformation bezeichnet die absichtliche Verbreitung falscher, ungenauer oder irreführender Information. Sie zielt darauf ab, Meinungen zu beeinflussen, um so einer Person, einer sozialen Gruppe, einer Organisation oder einem Land zu schaden. Der Begriff beschreibt also auch die Absicht, die hinter der Verbreitung steckt.

„Wenig emotionalisiert Menschen schneller als die Behauptung, ihre Kinder seien in Gefahr“

Fest steht: Drohungen dieser Art tauchten seit mindestens zwei Jahren mehrfach in verschiedenen Ländern auf. Ob sie nun das erste Mal innerhalb der Europäischen Union kursieren, oder anderswo vielleicht nur nicht darüber berichtet wurde, lässt sich nicht sagen.

Ob dahinter eine koordinierte Aktion steckt, oder schlicht Nachahmer, die dieselbe Vorlage nutzen, bleibt offen. Die Fülle der Beiträge und die Tatsache, dass mehrere Merkmale übereinstimmen, könnten auf eine Kampagne hindeuten, die Verunsicherung stiften soll. 

Nicht nur für die Behörden, auch für Forschende bleiben vorerst Fragen offen. Die Psychologin Lea Frühwirth vom Forschungszentrum Cemas (Center for Monitoring, Analyse und Strategie), schreibt auf Anfrage, dass die ihr vorliegenden Daten zur Verbreitung in Deutschland nicht ausreichen, um auf eine Kampagne schließen zu können. Grundsätzlich sei aber das Auslösen von Verunsicherung und Misstrauen in der Bevölkerung „ein typisches Instrument russischer Einflussversuche“. Wenig emotionalisiere Menschen schneller als die Behauptung, ihre Kinder seien in Gefahr. 

Redigatur: Sara Pichireddu, Paulina Thom