Flüchtlingsbürgen in Wolfsburg: Syrer bürgt für mehr als 30 Angehörige, was den Staat weniger als 700.000 Euro kostet
Die Webseite „Unzensuriert“ berichtete, dass ein Syrer mittels Familiennachzug insgesamt 31 Angehörige nach Deutschland geholt haben soll. Die entstandenen Kosten von 700.000 Euro müsse nun der Staat zahlen. CORRECTIV hat den Fall überprüft.
In einem Artikel der Webseite unzensuriert.de vom 25. Februar 2019 wird behauptet, ein Syrer habe per Familiennachzug insgesamt 31 Verwandte nach Deutschland geholt. Der unbekannte Verfasser des Textes beruft sich dabei auf ein eingebettetes Video des AfD-Bundestagsabgeordneten René Springer.
Springer spricht über die Möglichkeit von Bürgschaften im Zuge der sogenannten Landesaufnahmeprogramme, die es möglich machten, syrische Kriegsflüchtlinge ab 2013 durch schriftliche Verpflichtungserklärungen nach Deutschland zu holen.
Im Video sagt Springer: „Wir haben von einem Fall gehört, wo ein hier in Deutschland lebender Syrer, ein syrischer Kurde, 31 Familienangehörige nachgeholt hat. Die Kosten, die dafür bei den Jobcentern entstanden sind, belaufen sich mittlerweile auf 700.000 Euro.“ Der Brandenburger sagt weiter, die SPD habe sich dafür ausgesprochen, dass der Steuerzahler die Kosten tragen solle. Die AfD dagegen wolle, dass „die Bürgen haften“.
Inzwischen lässt sich eineinhalb minütige Youtube-Clip nicht mehr abspielen, da das mit dem Video verknüpfte Konto gekündigt wurde. Das Video ist aber weiterhin auf einem anderen Konto abrufbar.
Der Fall stammt aus Wolfsburg
Springer nannte auf Nachfrage von CORRECTIV einen Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) von 2017 als Quelle für sein Statement. Da heißt es in einem Satz: „Ein Kurde, der nicht für weniger 31 Angehörige Verpflichtungserklärungen unterschrieben hat, soll sogar 700.000 Euro zahlen.”
Vom niedersächsischen Innenministerium erfuhr CORRECTIV auf Anfrage, dass ein entsprechender Fall nicht bekannt sei. Im Zuge der weiteren Recherche verwies Andrea Müller-Kudelka, Autorin des Berichts in der HAZ, auf Günter Schütte von der Flüchtlingshilfe Wolfsburg und die SPD-Landtagsabgeordnete Immacolata Glosemeyer. Beide kennen den betroffenen Syrer und bestätigten den Fall gegenüber CORRECTIV. Der Betroffene wohnt in Glosemeyers Wahlkreis in der Wolfsburger Nordstadt.
Elke Wichmann von der Presseabteilung der Stadt Wolfsburg antwortete auf Presseanfrage von CORRECTIV: „Ein Verpflichtungsgeber hat sich in dem Zeitraum von November 2013 bis Februar 2015 nach und nach für über 30 Familienangehörige verpflichtet.“ Was die Zahl der Angehörigen betrifft, stimmt die Behauptung von AfD-Politiker Springer also.
Höhe der Sozialleistungen liegt weit unter 700.000 Euro
Was die Höhe der Sozialleistungen betrifft, konnten die Behörden keine genaue Summe nennen – weil das personenbezogene Daten seien. Allerdings teilte die Stadt Wolfsburg mit: „Die Höhe der entsprechenden Leistungen kann konkret nur vom Jobcenter angegeben werden, liegt aber nach Kenntnis der Stadt Wolfsburg erheblich unter 700.000 Euro.“
Das Jobcenter Wolfsburg teilte auf Anfrage von CORRECTIV mit: Es gebe keine Forderung in Höhe von 700.000 Euro im Kontext von Verpflichtungserklärungen. Aufgrund von Persönlichkeitsrechten konnte Pressesprecherin Doreen Bamberg keine Angaben zu den Erstattungsforderungen einzelner Personen machen.
Einen Eindruck, wie hoch die Rückforderungen sein können, gibt die Antwort des niedersächsischen Innenministeriums auf eine kleine Anfrage der AfD-Landtagsabgeordneten Peer Lilienthal und Stefan Bothe. Dort ist allerdings das Jobcenter Wolfsburg nicht aufgeführt.
Die Aussage im Titel des Artikels beziehungsweise des AfD-Bundestagsabgeordneten Springer über die Höhe der Leistungen ist demnach nicht korrekt.
Hintergrund: Debatte über Zahlungsverpflichtungen
Über die Verpflichtungserklärungen haben Bund und Länder in den vergangenen Monaten debattiert. Verwandte oder Dritte, die vor August 2016 eine Verpflichtungserklärung für Schutzsuchende unterzeichnet hatten, wurden in manchen Bundesländern „nicht umfassend oder sogar falsch über die Dauer ihrer Zahlungsverpflichtung aufgeklärt“ – so steht es in einer Pressemitteilung des Bundesarbeitsministeriums von Ende Januar.
Dabei ging es zum Beispiel darum, wie lange die Bürgschaften gültig sind: „Über die Reichweite dieser Erklärungen waren die Betroffenen oftmals im Unklaren, zumal sie in der Regel vor der Einführung einer zeitlichen Begrenzung von Verpflichtungserklärungen (fünf Jahre bzw. drei Jahre für Altfälle) im Rahmen des Integrationsgesetzes abgegeben worden waren.“ Der entsprechende §68 im Aufenthaltsgesetz wurde erst im August 2016 ergänzt.
Die betroffenen Länder (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen) haben zugesagt, die von den Jobcentern festgesetzten Erstattungsforderungen zu überprüfen. Das niedersächsische Innenministerium kommentierte die Einigung auf CORRECTIV-Anfrage so:
„Mit der entsprechenden Einigung werden die Jobcenter künftig […] die besonders gelagerte Situation berücksichtigen. Das hat zur Folge, dass bei der Ermessensausübung bestimmte Kriterien wie zum Beispiel Irrtümer und finanzielle Überforderung zu beachten sind.“
Eine entsprechende Weisung, welche die Regeln für den Umgang mit solchen Erstattungsforderungen formuliert, hat die Bundesagentur für Arbeit am 1. März 2019 an die Jobcenter versendet.