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Wie Leistungsbescheide für Asylbewerber regelmäßig geleakt, fehlinterpretiert und für Stimmungsmache missbraucht werden

Mal wieder ist ein Leistungsbescheid für eine Asylbewerberfamilie ins Internet geraten. Dort wird behauptet, dass die auf der ersten Seite abgebildete Summe von monatlich 3916,83 Euro netto an die Familie ausgezahlt werde. Hinzu kämen weitere Kosten wie Miete und Krankenversicherung. Das stimmt so nicht.

von Karolin Rothbart

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Immer wieder werden Bescheide für Asylbewerber im Internet verbreitet. (Screenshot)
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Teilweise falsch
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Teilweise falsch. Zu den Zahlungen in dem Bescheid kommen keine Mietkosten, sie sind schon enthalten. Ebenso gibt es keine pauschalen Krankenkassen-Beiträge, sondern nur nach Bedarf.

Es ist ein Verstoß gegen den Datenschutz, dennoch werden Leistungsbescheide für Empfänger sozialer Hilfen immer wieder heimlich abfotografiert und ins Netz gestellt. So geschehen zuletzt im Zusammenhang mit einer Asylbewerberfamilie in Heiligenhafen. Unbekannte veröffentlichten die erste Seite eines an die neunköpfige Familie gerichteten Leistungsbescheids via Whatsapp und in sozialen Medien. Ein Blogger, dem diese Seite ebenfalls zugespielt worden war, beschwert sich in einem Facebook-Video vom 25. Februar 2019 über die darauf angegebene Summe. 

„Die erhalten ab dem 1. Februar 3916,83 Euro, zuzüglich Krankenversicherung, zuzüglich Wohnung oder Haus“, erklärt der Blogger. Er schätzt, dass die Familie unter dem Strich dadurch etwa Fünfeinhalbtausend Euro netto bekommen müsste. Das sei „einfach nur noch irre.“ Das Video wurde allein auf Facebook bislang knapp 82.000 Mal geteilt.

Dieses Bild kursierte Ende Februar auf Facebook. Wir haben die persönlichen Daten unkenntlich gemacht.

In einer Mitteilung erklärte die Stadt Heiligenhafen, sich entschieden von dem „Verstoß gegen den Sozialdatenschutz durch Veröffentlichung und Verbreitung eines Leistungsbescheides, dessen unvollständige Form der Täuschung der Öffentlichkeit und Stimmungsmache dient“, zu distanzieren.

Screenshot von der Webseite der Stadt Heiligenhafen

Wie ist das nun mit der Miete und der Krankenversicherung?

Eine Nachfrage bei der Stadt, ob die von dem Blogger aufgestellten Behauptungen über die zusätzlichen Kosten stimmen können, blieb unbeantwortet. Das Innenministerium von Schleswig-Holstein erklärte dazu: „Öffentliche Stellen haben leider keine Möglichkeit, solche gezielt aufgestellten Behauptungen ohne Verstoß gegen die Regeln des Datenschutzes zu widerlegen.“ Grundsätzlich sei aber festzustellen, dass die nach Asylbewerberleistungsgesetz zu gewährenden Grundleistungen in ihrer Höhe unter den Sätzen von Hartz IV liegen.

Auch das Innenministerium glaubt, dass die Veröffentlichung des einzelnen Blattes „den Eindruck erwecken soll, dass Asylbewerber besser als andere Gruppe gestellt werden.“ Teilt man die Summe durch die neun Familienmitglieder, erhält jede Person circa 435,20 Euro.

Screenshot der Email

Zu den Behauptungen des Bloggers sagt das laut Innenministerium, die Kosten für Krankenhilfe würden tatsächlich nicht im Leistungsbescheid aufgeführt. Der Grund: Die Kassen rechnen entstandene Kosten direkt mit den Leistungsbehörden ab. Eine festgelegte monatliche Summe, wie bei normal Versicherten, fließt den Krankenkassen dadurch nicht zu. Stattdessen wird nur bezahlt, wenn die Person tatsächlich zum Arzt geht. 

Krankenhilfe ist ein Bestandteil der Sozialhilfe und für Menschen vorgesehen, die nicht krankenversichert sind und die sich die Kosten für ärztliche Behandlungen oder für Krankenhausaufenthalte nicht leisten können. „Das sind Sachleistungen“, erklärt es ein Sprecher vom Innenministerium. „Die gibt es nur in akut notwendigen Fällen.“ Zu der Mietkostenfrage konnte er keine Angaben machen.

Eine, die es wissen muss, ist die Sozialrechtsexpertin Sabine Vollrath. Die Kielerin setzt sich in ihrer Kanzlei regelmäßig für die Belange von Asylsuchenden ein. Sie sagt: „Die auf der ersten Seite angegebene Summe enthält auf jeden Fall die Kosten für die Unterbringung der Leute. Immer.“ Dass die Folgeseiten des Bescheids nicht in Umlauf gebracht wurden, überrascht sie nicht. „Auf denen wird die Summe meist aufgeschlüsselt, also nach den Regelsätzen, den Wohn- Strom- und Heizkosten.“ Am Ende würden dann die jeweiligen Zahlungsempfänger aufgelistet. „Und das sind eben nicht nur die Asylbewerber, sondern auch die Vermieter, die Stadtwerke und andere.“ Das Geld werde somit nicht einfach an die Familie ausgezahlt. Die Schätzungen des Bloggers hält Vollrath aus deshalb für falsch.

Unvollständige Leistungsbescheide erhitzen oft die Gemüter

Die unerlaubte Weitergabe und Zurschaustellung von Leistungsbescheiden ist ein beliebtes Mittel, um im Internet für Empörung zu sorgen. Denn die großen Summen auf den ersten Seiten erwecken schnell den Anschein, als würde das Geld den Empfängern komplett zufließen. So fand vor gut einem Jahr ein Leistungsbescheid für eine zehnköpfige Familie aus Borna bei Leipzig den Weg ins Internet. Hier belief sich die auf der ersten Seite gezeigte Bruttosumme auf rund 7.300 Euro. Weil die Verbreiter in dem Fall sogar Namen und Adresse der Familie veröffentlichten, kam es später im Netz zu extremsten Beschimpfungen und Drohungen gegen die alleinerziehende Mutter. Unter anderem im Landkreis Rostock und im Saalekreis in Sachsen-Anhalt kam es zu ähnlichen Vorkommnissen.