Krieg im Nahen Osten: Eine Flut an Desinformation von allen Seiten
Der Krieg im Nahen Osten zieht eine Flut an Desinformation im Netz nach sich. Unter authentische Bilder und Videos von den Geschehnissen in Israel und dem Gaza-Streifen mischen sich irreführende Aufnahmen, manipulierte Politiker-Aussagen und Regierungsdokumente – und Narrative, die bereits aus dem Ukraine-Krieg bekannt sind.
Der Himmel ist feuerrot, Rauch und Flammen vernebeln die Luft, Knallgeräusche sind zu hören. Es sind Aufnahmen aus einem Hochhaus inmitten einer Stadt. „Gaza-Streifen heute Abend nach israelischen Angriffen“, heißt es dazu in einem Telegram-Beitrag am Abend des 8. Oktobers, einen Tag nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel. Den Telegram-Kanal betreibt Alina Lipp. Sie wurde zum Sprachrohr für russische Desinformation in Deutschland – und verbreitet jetzt auch Falschbehauptungen zum Krieg im Nahen Osten. Denn: Das beschriebene Video zeigt gar keinen Raketenbeschuss auf Gaza, sondern feiernde Fußballfans in Algerien.
Die Masse an Desinformation, die sich seit den Terrorangriffen der Hamas in Sozialen Netzwerken verbreitet, ist enorm. Das Verifizieren von Angriffen benötigt Zeit; das Verbreiten einer Falschmeldung nur wenige Sekunden. Akteure nutzen diese Informationslücke, die durch die sich schnell überschlagenden Geschehnisse entsteht.
Desinformation wird aktuell sowohl von pro-israelischer, als auch von pro-palästinensischer Seite oder Hamas-Unterstützenden gestreut. Vieles davon verbreitet sich auf X (ehemals Twitter), aber auch auf Tiktok, Telegram, Facebook und Instagram und erreicht dabei Millionen Nutzerinnen und Nutzer weltweit. Und neben Lipp gibt es zahlreiche andere pro-russische Kanäle, die Falschmeldungen streuen und bekannte Narrative neu erfinden.
Desinformation zum Nahen Osten verbreitet sich im Netz wie ein Lauffeuer – EU nimmt Tech-Plattformen in die Pflicht
Newsguard, eine Organisation, die die Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenseiten weltweit bewertet, analysierte die 250 Beiträge mit den meisten Interaktionen auf X, die in der ersten Woche seit den Terrorangriffen falsche oder irreführende Beiträge verbreiteten. Sie wurden insgesamt mehr als 100 Millionen Mal gesehen, fast zwei Drittel der betreffenden Accounts hatten einen blauen Haken, so Newsguard. Die Verifizierung durch einen blauen Haken war in der Vergangenheit eine Orientierungshilfe für vertrauenswürdige Accounts auf der Plattform. Doch Elon Musk kommerzialisierte den Vorgang, blaue Haken lassen sich seitdem käuflich erwerben – irreführend, wenn sich Nutzende bei diesen Accounts weiterhin auf glaubwürdige Informationen verlassen.
Auch die Strategien gegen Desinformation haben sich bei X in den vergangenen Monaten stark verändert, so zog sich das Unternehmen im Mai 2023 aus dem Code of Practice on Disinformation zurück – einem freiwilligen Verhaltenskodex für Social-Media-Plattformen der Europäischen Union. Inzwischen gibt es auf X sogenannte Community Notes: Nutzende können Beiträgen Kontext hinzufügen, sollte es Hinweise darauf geben, dass ein Beitrag irreführend oder falsch ist. Doch nur 79 der 250 Beiträge waren damit Newsguard zufolge gekennzeichnet. Es fehle zudem an Transparenz, wie Community Notes öffentlich würden und es bestehe die Gefahr, dass externe Gruppen das Feature für koordinierte Manipulationsversuche nutzen könnten, ergab eine aktuelle Recherche von Wired.
Aufgrund falscher und irreführender Inhalte im Zusammenhang mit den Ereignissen im Nahen Osten hat die EU eine Untersuchung gegen X eingeleitet. Damit nutzt die EU-Kommission Mittel des im Sommer in Kraft getretenen Digital Services Act, um gegen Desinformation in Sozialen Netzwerken vorzugehen und die Betreiber stärker in die Pflicht zu nehmen. Auch Youtube, Meta und Tiktok wurden von der EU-Kommission kontaktiert.
Vor allem Videos werden in falschem Kontext verbreitet
Vor allem Videos verbreiten sich falsch. Anders als behauptet, zeigte eine Aufnahme zum Beispiel keinen Angriff der Hamas auf israelische Hubschrauber, sondern ein Videospiel. Ein anderes Video, das ein im Gaza-Streifen einstürzendes Hochhaus zeigt, entstand tatsächlich nach israelischem Beschuss – aber bereits 2021. Neben etlichen Videos, die nichts mit den aktuellen Kämpfen zu tun haben, verbreiten sich falsch übersetzte Videos, die hochrangigen Politikern vermeintlich pikante Worte in den Mund legen oder auch gefälschte Regierungsdokumente.
Die Flut von Informationen im Netz mache es schwierig, zwischen authentischen Informationen, falschen Behauptungen oder absichtlich irreführenden Inhalten zu unterscheiden, schreibt Mitali Mukherjee, Direktorin des Reuters-Journalismus-Instituts an der Universität Oxford. Das verdeutliche, warum die Verifikation von Inhalten in Krisenzeiten so wichtig ist. Faktenchecks bieten eine Orientierung: Zeigt ein Video das, was behauptet wird? Werden Aussagen von Politikerinnen und Politikern verfälscht? Angriffe falsch zugeordnet?
Falschbehauptungen nähren Narrative rund um Kriegsinszenierung und Waffenschmuggel
Einzelne Falschbehauptungen zum Nahen Osten nähren zudem übergeordente Narrative der Desinformation, die schon im Ukraine-Krieg auftauchten. Sie sollen Menschen verunsichern, beeinflussen und Hetze und Hass schüren. Ein Video soll zum Beispiel belegen, wie Israel die Ermordung eines Kindes durch die Hamas inszeniere. Doch das stimmt nicht, es stammt von einem Filmdreh und entstand vor den aktuellen Kämpfen. Ein anderes Video soll wiederum aufdecken, wie die Hamas versuche, ein Begräbnis zu inszenieren – auch das stimmte nicht, das Video war Jahre alt und entstand laut Medienberichten in Jordanien. Mit solchen Inhalten wird die Existenz der aktuellen Kämpfe geleugnet und die Folgen der Gewalt verharmlost. Fakt ist, dass seit den Terrorangriffen der Hamas und Israels Gegenangriffen tausende Menschen gestorben sind.
Ein anderes Fake-Video knüpft ebenfalls an eine bekannte Erzählung an: Glaubt man pro-russischen Profilen und Kanälen in Sozialen Netzwerken, landen an die Ukraine gelieferte Waffen immer wieder in den falschen Händen oder auf dem Schwarzmarkt. Die Behauptungen, die CORRECTIV.Faktencheck zu dem Thema prüfte, stellten sich als falsch oder unbelegt heraus. Nun ist das Narrativ auch im Kontext des Krieges im Nahen Osten aufgetaucht: Ein Video soll einen Bericht des britischen Nachrichtensenders BBC zeigen. Demnach habe das Recherchenetzwerk Bellingcat herausgefunden, dass die Ukraine westliche Waffen an die Hamas geliefert hätte. Vertreter beider Organisationen dementieren, das Video war gefälscht.
Solche Narrative nähren auch verfestigte Feindbilder. So warnt das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) in einem Bericht, dass Desinformation und Propaganda von pro-Hamas-Seite bestehende antisemitische Feindbilder verstärkt und ausbaut und „die Brutalität der Hamas als vermeintlicher Freiheitskampf oder Widerstand“ legitimiert werde. Israel und jüdische Menschen seien dabei „kein zufälliges Ziel“ und fußen auf dem „Mythos einer vermeintlich stattfindenden jüdischen Weltverschwörung“ auf der auch viele Verschwörungserzählungen beruhen.
Alle Faktenchecks von CORRECTIV zu Falschmeldungen und Gerüchten rund um den Krieg im Nahen Osten gibt es hier.
Wir alle sind gefragt, um die Verbreitung von Fakes einzudämmen. Nutzerinnen und Nutzer in Sozialen Netzwerken müssen wachsam bleiben und sich bei seriösen Quellen informieren. Potenzielle Falschmeldungen können per Whatsapp an CORRECTIV geschickt werden: +49-151-17535184.