Interviews

Kreativ mit dem Recht

In Nürnberg erfüllt Renate Scheunemann einen Auftrag von ganz oben: Eine Arbeitsgruppe „Menschen ohne Krankenversicherung“ soll gegründet werden, befand einst Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD). Scheunemann, Ärztin beim Nürnberger Gesundheitsamt, wurde zur Leiterin der Arbeitsgruppe ernannt.

von Julian Jestadt

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Sie hatte Maly das Problem zuvor vorgetragen. Weil sie sich für Integration und Menschenrechte einsetzte, „glaubte der Oberbürgermeister anfangs, die AG werde sich überwiegend mit der Frage der medizinischen Versorgung von Menschen, die ohne Papiere in Deutschland leben, kümmern“, sagt Scheunemann. Ohne Pass, ohne Aufenthaltsgenehmigung, sind sie naturgemäß auch nicht krankenversichert. Die Hilfe der Arbeitsgruppe nehmen diese Menschen allerdings kaum in Anspruch. Sie haben andere Lösungen entwickelt. Welche, darüber spricht Scheunemann im Interview mit Julian Jestadt – außerdem über medizinische Notfälle, die Übermittlungspflicht der Behörden und Schwangerschaften. 

Ein Porträt von Renate Scheunemann

Renate Scheunemann

Frau Scheunemann, was kann ein Mensch machen, der ohne gültige Papiere und ohne Versicherung in Deutschland lebt, wenn er krank geworden ist?

Renate Scheunemann: Die meisten gehen zu niedergelassenen Ärzten ihres Vertrauens. Teilweise sind sie dort schon seit Jahren kostenlos in Behandlung. Wer einen Arzt zur kostenlosen Behandlung sucht, kann von der Medizinischen Flüchtlingshilfe vermittelt werden. Vermutlich werden manches Mal auch Versichertenkarten „ausgeliehen“ und genutzt.

Und bei einem Notfall?

Werden sie in eine Klinik eingewiesen oder suchen direkt eine Klinik auf.

Ist das nicht problematisch? Zwar muss die Klinik aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht nicht die Daten des Patienten an die Ausländerbehörde weitergeben, aber bei der Kostenabrechnung mit dem Sozialamt kann der Aufenthaltsstatus offengelegt werden.

Ja, das Sozialamt unterliegt wie beinahe alle öffentlichen Stellen der Übermittlungspflicht Oft sind die Patienten aber aus der Klinik entlassen, bevor die Abrechnung zum Sozialamt geht. Das Sozialamt bezahlt dann trotzdem und die Betroffenen sind schon weg. Oder die Betroffenen sind so schwer krank, dass dies zu einem Abschiebehindernis führt.

Unterliegt auch das Gesundheitsamt der Übermittlungspflicht?

Nein, das Gesundheitsamt unterliegt wie alle Gesundheitsämter, Ärzte und Kliniken der ärztlichen Schweigepflicht, dazu gehört auch die Identität der Hilfesuchenden. Bestünde allerdings Gefahr für die Öffentlichkeit, zum Beispiel wenn ein Illegalisierter eine offene Tuberkulose hat und sich weder behandeln lassen noch seine Wohnung wenig verlassen möchte, müssten wir das melden. Das ist aber bisher noch nicht vorgekommen. Einmal kam ein Illegaler mit Verdacht auf HIV zu mir. Ich habe ihm gesagt, er solle einen kostenlosen und anonymen Test bei uns im Gesundheitsamt machen. Der Verdacht hatte sich bestätigt. Also konnten wir es wagen, uns bei der Ausländerbehörde zu melden. HIV ist ein Abschiebehindernis. Er bekam eine Duldung und damit sind auch die Kosten für die erforderliche medikamentöse Behandlung gedeckt.

Die Duldung wurde problemlos ausgesprochen?

Ja, das Gesundheitsamt wird in Zweifelsfällen vor einer Abschiebung um eine gutachterliche Stellungnahme bezüglich der Reisefähigkeit gebeten. Bei der Begutachtung berücksichtigen wir nicht nur, ob jemand reisen kann, sondern auch, wie die Zustände im Heimatland sind. Bei schweren Erkrankungen von Menschen aus armen Ländern ist ein Zugang zu medizinischer Versorgung oft nicht gewährleistet. Dann bekommen sie aufgrund unseres Gutachtens eine Duldung.

Im Gesundheitsamt bieten Sie auch eine Schwangerschaftsversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung an. Wie läuft das ab?

Die Schwangeren bekommen über uns eine kostenlose Vorsorgeuntersuchung vermittelt, die aus einem Spendentopf finanziert wird. Außerdem beraten wir, wo die Entbindung stattfinden kann und wie sie finanziert wird. Als ich früher für die Medizinische Flüchtlingshilfe Nürnberg  arbeitete, haben viele vor der Entbindung noch schnell einen Asylantrag gestellt – auch wenn das keine Chance auf Erfolg hatte. Als Asylbewerberinnen konnten sie in eine Klinik gehen, die Kosten waren gedeckt und das Kind konnte eine Geburtsurkunde bekommen. Wir als Arbeitsgruppe „Menschen ohne Krankenversicherung“ haben jetzt mit Ausländerbehörde, Sozialamt und Klinik eine Regelung ausgearbeitet: Wer sich hier illegal aufhält, kann mit mir zur Ausländerbehörde gehen. Dort wird dann frühzeitig eine Duldung ausgesprochen – mindestens drei Monate vor dem Entbindungstermin bis sechs Monate danach.

Was passiert denn, wenn die Duldung abgelaufen ist?

Das Kind bekommt denselben Status wie der Vater. Die Mutter kann ohne Kind nicht abgeschoben werden. Die Eltern müssen nur sagen, dass sie als Familie zusammenleben wollen. Das hat bisher immer funktioniert. Auch wenn es manchmal nicht so durchgeführt wurde. Bisher haben wir alle legalisiert. Da sind wir kreativ.

Was heißt kreativ?

Wir sind innerhalb der Möglichkeiten des Gesetzes kreativ. In München wurde ein Vierteljahr vor und ein Vierteljahr nach der Entbindung eine Duldung erteilt. In Nürnberg war es damals noch nicht so. Das haben wir in unserer Arbeitsgruppe berichtet. Nürnberg und München liegen miteinander im ständigen Konkurrenzkampf. Deshalb sagte der Chef der Ausländerbehörde: „Wir machen das besser!“ Dann wurde die Duldung auf ein halbes Jahr nach der Entbindung hochgesetzt. Man muss eben nur wissen, wie man die Leute ansprechen muss.

Sind Menschen, die in Deutschland als illegal gelten, Ihnen gegenüber nicht misstrauisch?

Am Anfang sind manche angespannt und aufgeregt. Aber es wird viel über unsere Arbeit berichtet. Und dass wir der Schweigepflicht unterliegen, das hat sich herumgesprochen. Viele wissen mittlerweile Bescheid. Wenn die betroffenen Menschen mir vertrauen, dann können wir auch gemeinsam zur Ausländerbehörde gehen. Den Mitarbeitern dort vertraue ich. Also kann ich den Betroffenen versichern, dass sie nicht ausgequetscht werden. Das gegenseitige Vertrauen zu allen Seiten ist das Wichtigste – und das besteht weitestgehend.

Redaktion: Florian Bickmeyer
Gestaltung: Thorsten Franke, Simon Jockers, Ivo Mayr