Gemeinnütziger Journalismus wird bundesweit kommen
Die Medienlandschaft wird sich grundlegend verändern. Im Koalitionsvertrag hat die neue Bundesregierung festgeschrieben, dass die Gemeinnützigkeit von Medien allgemein möglich wird. Damit entsteht eine dritte Säule der Medien. Überlegungen zu ganz neuen Perspektiven, von CORRECTIV-Publisher David Schraven.
Wenn in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten über die Krise der Medienlandschaft und die Auswirkungen auf die Demokratie diskutiert wurde, wurde meist klein gedacht. Es wurde über ein Publikum geklagt, das sich nicht mehr für die Inhalte der Zeitungen interessiert, sondern für die Zerstreuungen in den sozialen Medien. Es ging um eine Erhöhung der Haushaltsabgabe um einen Euro. Es ging um Sendezeiten, Radiofrequenzen, Digitalisierung oder Subventionen für Zeitungsausträger.
Es ging zu lange zu wenig um die Frage, warum die Gesellschaft Medien braucht, wie ihre Krisen zusammenhängen und wie sie überwunden werden können.
Es ging zu wenig um die Frage, was es für die Demokratie und Vielfalt der Debatte bedeutet, wenn aus „Ein-Zeitungs-Kreisen“ die ersten „Keine-Zeitungs-Kreise“ werden.
Dabei sind die Folgen der Entwicklung seit langem bekannt, wie viele Studien zeigen. Das bürgerschaftliche Engagement geht zurück, wenn keiner mehr über das Ehrenamt berichtet, heißt es in einer Studie von Danny Hayes und Jennifer Lawless. Die lokale Korruption nimmt zu, wenn keiner mehr Fehlverhalten enthüllt, schreibt ein Team um Pengjie Gao und Dermot Murphy.
Die Bundesregierung hielt sich bislang aus den meisten Debatten heraus, weil die Entwicklung der Medien ein Landesthema ist, bei dem der Bund wenig Kompetenzen hat. Das Thema hatte zudem den Ruch der Nebensächlichkeiten, der Animositäten, überstrahlt von den Einflüssen aus den Öffentlich-Rechtlichen Sendehäusern und aus dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger. Beide verteidigen den Status Quo mit unterschiedlichen Argumenten.
Nur wenige wollten etwas grundsätzlich Neues wagen.
Erst jetzt ist der Stillstand aufgebrochen. Im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ von SPD, Grünen und FDP findet sich in Zeile 4128 der Satz: „Wir schaffen Rechtssicherheit für gemeinnützigen Journalismus“. Was sich schlicht anhört, hat die Kraft unsere Gesellschaft umzukrempeln.
Ich will in diesem Essay einen Blick in die Zukunft riskieren – und erklären, was hinter der Idee einer redaktionellen Gesellschaft steht. Warum sie die Spaltung der Gemeinschaft überwinden kann. Und wie der gemeinnützige Journalismus dazu beiträgt, das große Ziel zu erreichen.
Der Blick nach vorne
In den vergangenen Jahren gab es genügend Kongresse, die Probleme der Medienöffentlichkeit offen legten. Aber es gab einen Mangel bei der Suche nach Wegen aus der Krise heraus.
Viel zu selten ging es darum, wie wir die Kommunikation der Gesellschaft in Zukunft organisieren wollen, wenn die gewohnten lokalen und privaten Zeitungsmärkte zusammenbrechen.
Es ging zu wenig um die Frage, wie wir als Gemeinschaft die Lücken schließen, die auch der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk nicht ausfüllt, weil er nicht flächendeckend über die Probleme und Ereignisse vor Ort berichten kann. Es ging zu wenig um die Menschen, die Teil der Kommunikation wurden. Es ging zu wenig um grundsätzliche Änderungen.
Es ging um Symptome, um Geld, Einfluss, Aufgaben. Aber es ging zu selten um eine Vision für die zukünftige Gesellschaft.
Zu viele haben gelacht über inhaltsleere Twitter-Threads, bis Paul Ronzheimers Handyalarm Politik in Echtzeit entblößte. Die Bedrohungen wurden wahr- aber nicht ernstgenommen.
Zu viele Medienmacher belächeln noch heute die Einschaltquoten von Bild.TV, ohne zu begreifen, dass es hier um etwas völlig Neues geht: die Polarisierung der Gesellschaft im Dienst der Profitmaximierung. Das ist wie Social Media auf Speed. Ein großer Medienkonzern bemüht sich nicht mehr um Maß und Mitte, sondern setzt stattdessen auf die Konfrontation. Mit Hilfe von Konflikten soll aus Aufmerksamkeit Geld gemacht werden.
Um dieser Herausforderung zu begegnen, reicht es nicht aus, mehr Mittel für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu fordern oder Subventionen für die Zeitungszustellung.
Wenn wir diesem Verfall nicht die Idee einer neuen Gesellschaft entgegensetzen, kann unser Gemeinwesen in der Polarisierung auseinanderbrechen.
Heute können mehr Menschen als jemals zuvor an den Diskussionen in der Gesellschaft teilnehmen. Mehr und mehr Leute beteiligen sich an Debatten.
Als Gesellschaft wissen wir aber bislang nicht, was wir mit den vielen Leuten machen sollen, die in neuen öffentlichen Räumen ihre Stimme erheben. Wir bilden sie nicht weiter. Wir lassen sie mit den neuen Möglichkeiten alleine.
Sie können deswegen von den Polarisierern auseinandergetrieben werden. Sie sind leichte Beute für Verführer in Telegram-Kanälen. Ihnen fehlt das Wissen, mit den neuen Möglichkeiten umzugehen.
Wir haben als Gesellschaft noch kein Verständnis, wie wir eingreifen und aus den vielen einzelnen Strängen ein stabiles Seil binden können, an dem wir uns in die Zukunft ziehen. Wir schauen zu selten zum Horizont.
Seit dem 14. Juli 2014 versucht CORRECTIV den Blick zu heben. Wir wollen Menschen informieren, damit sie eine Entscheidung treffen können. Über ihre Gemeinschaft, ihr Leben oder ihre Kinder. Wir binden sie in unsere Recherchen ein, geben unsere Methoden weiter, organisieren Theaterstücke und Diskussionen, bauen eine Bürgerakademie auf und veröffentlichen Bücher. Wir wollen mit den Menschen gemeinsam etwas gestalten. Wir setzen uns für eine erneuerte Gesellschaft ein.
Aber was heißt das?
Neue Stufe der Demokratie
Wir wollen eine Gesellschaft, in der sich jeder Mensch frei entwickeln kann. Eine Gesellschaft, die offen ist, die durchlässig ist, in der sich die Schwachen und Schutzbedürftigen sicher fühlen. Eine Gesellschaft, die auf das Wissen setzt, die darauf vertraut, dass etwas Gutes entsteht, wenn sich alle an Debatten beteiligen können. Eine Gesellschaft, die auf das Argument vertraut, auf Einsicht und Verantwortung. Eine Gesellschaft von Maß und Mitte.
Das Fundament dieser offenen Gesellschaft bilden die Medien. Sie sind wichtiger als jemals zuvor. Sie müssen die Diskussionen in der offenen Gesellschaft organisieren, den breiten Austausch der Erkenntnisse, der Ideen und Meinungen. Sie müssen den Menschen das Wissen vermitteln, das sie brauchen, um ihre Argumente zu finden und an den Debatten teilzunehmen.
Auf diesem Fundament können alle Menschen ihre Stimme entwickeln. Sie können zu selbstbestimmten Chefredakteuren ihrer eigenen Kanäle und Botschaften werden.
Das ist unsere Idee von der Zukunft: eine redaktionelle Gesellschaft, die für die Fortentwicklung der offenen Gesellschaft steht. Ohne informierten Diskurs gibt es keine offene Gesellschaft.
Sie steht für die nächste Stufe unserer Demokratie.
Der Gemeinnützige Journalismus
Wir von CORRECTIV wollen helfen, das Wissen zu verbreiten, das alle Menschen brauchen, um an dieser Zukunft teilhaben zu können.
Unser Mittel, dieses Ziel zu erreichen, ist der Gemeinnützige Journalismus.
Dahinter verbirgt sich kein herkömmliches Geschäftsmodell, keine Marke, die verkauft wird. Es geht nicht darum, Gewinne aus Geschichten zu generieren – oder Aufmerksamkeit in Geld zu verwandeln.
Gemeinnütziger Journalismus ist auch keine von Regierungsinstitutionen beaufsichtigte Presse.
Gemeinnütziger Journalismus agiert in den Bereichen, wo der Markt versagt. Wo keine Gewinne zu verdienen sind und die vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht erreicht werden.
Gemeinnütziger Journalismus füllt die Lücken, in denen sich ansonsten Unwissen und Desinformationen ausbreiten.
Es gibt Standards für den Gemeinnützigen Journalismus. Sie wurden in einer breiten Diskussion vom Forum Gemeinnütziger Journalismus definiert, in dem sich über 20 Pionierorgansationen aus dem Feld zusammengeschlossen haben, wie netzpolitik.org oder Investigate Europe, wie die Gewerkschaften DJV und dju in Ver.di, Förderer wie die Schöpflin-Stiftung oder die Rudolf-Augstein-Stiftung; aber auch journalistische Vereinigungen wie netzwerk recherche. Die gemeinsamen Leitlinien bilden die Grundlage unserer Arbeit. Auch CORRECTIV ist Teil des Forums.
Gemeinnütziger Journalismus verpflichtet sich zu Transparenz und guter Arbeit. Er erklärt seine Finanzierungswege und legt offen, wer hinter ihm steht. Er zeigt mögliche Interessenkonflikte auf und lebt eine offene Fehlerkultur. Er achtet die Menschenwürde und die Grundlagen fairer Berichterstattung. Er berichtet nur, wenn es etwas zu berichten gibt. Er setzt sich für das Grundgesetz ein und lehnt totalitäre Bestrebungen ab. Er ist selbstlos und macht keine Gewinne.
Im Gegenzug für diesen Dienst an der Gemeinschaft wird der Gemeinnützige Journalismus von der Gesellschaft unterstützt. Er bekommt eine weitreichende Steuerbefreiung und das Recht, Spenden anzunehmen. Er nimmt eine Rolle zur Entwicklung der Demokratie wahr.
Auf der anderen Seite muss sich der Gemeinnützige Journalismus aber auch vor den Menschen in unserer Gesellschaft beweisen. Er wird nur von Menschen unterstützt und gefördert, wenn diese bereit sind, zu spenden. Der Gemeinnützige Journalismus kann nur funktionieren, wenn seine Arbeit nicht an den Menschen vorbeigeht, sondern von ihnen für gut und sinnvoll erachtet wird.
Der Gemeinnützige Journalismus verbindet damit Elemente aus dem privaten Journalismus und den Öffentlich-Rechtlichen Medien. Er kreiert etwas Neues.
Er steht für eine dritte Säule in der deutschen Medienlandschaft. Zusammen mit den privaten und den öffentlich-rechtlichen Institutionen gehört er zu den wichtigsten Akteuren der kommenden Gesellschaft.
Mit dieser dritten Säule ist aber noch mehr verbunden. Der Gemeinnützige Journalismus sichert Pluralität und Vielfalt in Bereichen, in denen klassische Medien nicht mehr wirken können. Er garantiert, dass freie und unabhängige Medien vor Ort weiter verfügbar sind, wenn andere Säulen ausfallen. Der Gemeinnützige Journalismus ist in einer Demokratie unverzichtbar.
Wir geben in unserer Reporterfabrik und Bürgerakademie die Methoden der Aufklärung weiter, weil Aufklärung die Basis unserer Gesellschaft ist. Wir unterrichten in Schulen und Universitäten: wie man schreibt, wie man Desinformation erkennt, wie man Videos produziert und wie die ethischen Leitplanken einer Berichterstattung aussehen. Wir zeigen, wie alle, die es wollen, ihre Stimme finden und dabei hohen Standards genügen können.
Wir binden Menschen ein. Wir entwickeln mit dem CrowdNewsroom Werkzeuge, die jeder nutzen kann, um Kooperationen mit dem Publikum schon im Recherche-Prozess zu erleichtern. Wir helfen Jugendlichen sich auszudrücken, egal wo sie herkommen, und geben ihnen den Raum sich auszuprobieren.
Wir moderieren Diskussionen. Wir organisieren Events und Festivals. Wir machen Lesungen und sorgen dafür, dass sich Menschen von Angesicht zu Angesicht austauschen können.
Wir suchen das neue Land. Wir arbeiten mit Kunst und Kultur. Wir verschließen uns nicht dem Fremden, sondern machen unsere Türen auf, um Menschen willkommen zu heißen, die verfolgt werden.
Wir wollen jeden Abend die Welt ein kleines bisschen besser gemacht haben, als sie am Morgen war. Wir setzen uns für die redaktionelle Gesellschaft ein.
Nun kann es losgehen
Wir freuen uns, dass nun endlich nach fast zehn Jahren Entwicklung der Gemeinnützige Journalismus Rechtssicherheit bekommen soll. So steht es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP.
Mit dieser Rechtssicherheit sind Folgen verbunden, deren Auswirkungen im Augenblick kaum einzuschätzen sind. Stiftungen und Menschen werden die Möglichkeiten finden, eine Vielzahl journalistischer Projekte zu unterstützen und sich aktiv für die Aufklärung einzusetzen. Statt Verluste auf den Staat abzuwälzen, könnte der gemeinnützige Journalismus damit neue Geldquellen für das Medienschaffen in unserem Land erschließen. Es spielt keine Rolle, ob sich Arme oder Reiche einbringen, Gebildete oder Ungebildete.
Vor allem im lokalen Raum wird das Auswirkungen haben. Medienvereine können entstehen, die von Bürgerstiftungen vor Ort gefördert werden. Lücken in der lokalen Grundversorgung mit Nachrichten könnten geschlossen und ganz neue Projekte gegründet werden. Das Bewusstsein von vielen tausend Menschen wird sich ändern. Sie werden Handelnde ihrer eigenen Geschichten. Wir geben Ihnen das Rüstzeug dazu.
Tatsächlich ist der Gemeinnützige Journalismus eine der wichtigsten Bedingungen für den Aufbau der redaktionellen Gesellschaft.
Am Ende können wir gemeinsam eine Gesellschaft verwirklichen, in der auf allen Ebenen informierte Debatten geführt werden. In der wir gemeinsam unsere Zukunft gestalten.
Das Argument wird mehr zählen als die Herkunft. Wir werden uns freier und besser organisieren können, um Herausforderungen gemeinsam zu meistern.
Der Gemeinnützige Journalismus steht für eine grundlegende Wandlung des Mediensystems in Deutschland.
Wir freuen uns, wenn auch Sie mitmachen.