In eigener Sache

Mission Wahrheit: Das Geschenk im Schoß

Wenn sich in den Weiten des Internets für jede Wahrheit, an die man glauben möchte, vermeintliche Quellen finden, werden gemeinsame Lösungen für gesellschaftliche Probleme unmöglich gemacht. Im Essay-Band „Mission Wahrheit“ stellen sich Medienschaffende der Frage, wie Redaktionen den Herausforderungen der Gegenwart begegnen können. Wie können sie konstruktiv zur Stärkung des demokratischen Diskurses beitragen? Bastian Schlange, inhaltlicher Leiter des CORRECTIV.Verlags und Autor von „Das einzig wahre Faktencheckbuch“, hat den folgenden Text beigesteuert und fordert darin ein klares Bekenntnis.

von Bastian Schlange

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Meine Suche nach der Wahrheit beginnt in der nordenglischen Stadt Scarborough. „Es war gut, solange es anhielt“, stand dort auf Jimmy Saviles Grabstein. Ein halbes Jahrhundert ging der „schlimmste Sexualverbrecher in der Geschichte des Landes“, wie die britische Polizei ihn nannte, seinen pädophilen Neigungen nach, öffentlich wurden sie erst nach seinem Tod. Die Geschichte dahinter ist kaum zu ertragen, durch seinen Fall begriff ich aber, welche Chance das Internet unserer Gesellschaft eröffnet.

Savile war ein DJ der ersten Stunde, TV-Star und gefeierter Wohltäter. Die Queen schlug ihn zum Ritter – als Dank für sein ehrenamtliches Engagement in Krankenhäusern, psychiatrischen Kliniken und Besserungsanstalten für Kinder. In vielen Einrichtungen genoss er besondere Privilegien und unterhielt eigene Privaträume. Über Jahrzehnte moderierte er für die BBC die Musikshow Top of the Pops und Jim’ll fix it, eine Kindersendung, in der er Woche für Woche den kleinen Gästen Herzenswünsche erfüllte. Savile war für viele ein Volksheld. Unter diesem Deckmantel hatte er sich ein landesweites Netz gesponnen, um jederzeit seine Perversionen ausleben zu können.

Rund 500 Opfer umfasst Saviles Strafregister heute. Fast zwei Dutzend junge Mädchen, die mit Rückenmarksverletzungen gelähmt in ihren Krankenhausbetten lagen, missbrauchte er. Auch an Leichen verging er sich. Die altehrwürdige Rundfunkanstalt BBC sah jahrelang weg, hielt trotz immer wiederkehrender Anschuldigungen und Gerüchte an ihrem legendären Moderator mit den exzentrischen Macken und der Vorliebe für Goldkettchen und Trainingsanzüge fest. Sie unterband sogar die Veröffentlichung kritischer Recherchen über ihn. Savile schien unantastbar. Er pflegte Freundschaften zu Prinz Charles und Margaret Thatcher. Auch Polizeibeamte gehörten zum Kreis seiner Vertrauten.

Lange blieben seine Opfer mit ihrem Grauen allein. Gehör und auch einander fanden sie erst Anfang der 2000er im Netz, in Foren, Blogs oder Netzwerken wie Friends Reunited. Es waren die ersten Risse in einer Mauer kollektiven Wegschauens und Schweigens, durch die Saviles Verbrechen schließlich den Weg in die Öffentlichkeit fanden.

Hashtags, die die Welt verändern

Als ich eine Doku über sein Leben sah, wurde mir bewusst, wie außergewöhnlich unsere Zeit doch ist: Wir leben in einer Welt, in der die Schranken zur Öffentlichkeit aufgebrochen sind und das Diktat der Medienhäuser gestürzt ist. Wir leben in einer Welt, in der jede und jeder Öffentlichkeit mitgestalten kann, in der Skandale und Missstände an Verlagsinteressen, Redaktionspolitik oder fehlendem Rückgrat vorbei bekannt werden können und die Möglichkeiten, sich auszutauschen und zu vernetzen, unbegrenzt erscheinen.

Bewegungen wie Black Lives Matter oder MeToo sind aus Hashtags geboren und prägen bis heute unsere gesellschaftlichen Debatten. Die großen Wortführer des Arabischen Frühlings kommunizierten über Twitter und waren in regierungskritischen Facebook-Communitys aktiv. Für viele gilt die „Arabellion“ als erste revolutionäre Welle, die der Kraft der Sozialen Medien entsprang.

„Vorher haben die Leute immer gemeint, Politik sei was für die Elite“, sagt die ägyptische Politikwissenschaftlerin Ghada al-Akhdar. „Außerhalb dieser Elite existierte gar keine politische Kultur. Und hier setzte dann die Wirkung von Facebook ein. Es hat die Kultur verändert.“ So sieht es auch die tunesische Internetaktivistin Lina Ben Mhenni, die während des Arabischen Frühlings mit ihrem Blog A Tunisian Girl international Aufsehen erregte: „Das Netz ist so mächtig, weil es unmittelbar reagieren und unbegrenzt viele Menschen miteinander verbinden kann. Sobald jemand eine Idee oder Information ins Netz speist, wird sie umgehend empfangen. (…) Es überwindet sämtliche Schranken, Zäune und Mauern, Verbote und Grenzen, Parteizugehörigkeit und sogar individuelle Hemmungen – wie in meinem Fall die Schüchternheit“.

Durch die Möglichkeiten des Internets scheint die demokratische Öffentlichkeit so stark und wehrhaft zu sein wie nie zuvor. Das ist eine wunderbare Vorstellung, nicht wahr? Aber ist es auch Fakt? Oder nur eine Wahrheit, an die ich gerne glauben möchte? Schließlich hat jede Medaille noch eine zweite Seite.

Der Makel im Transparenz-Paradies

Nach den Angriffen der islamistischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 und der Reaktion Israels geriet ich mit einer Bekannten aneinander. Sie hatte erst vor Kurzem ihren Vater und seine Familie kennengelernt, die als Palästinenser im Gazastreifen lebten. Über ihre Kanäle in den Sozialen Netzwerken erklärte sie hoch emotional, dass sie es von nun an als ihre Mission empfinde, der palästinensischen Sicht des Nahostkonfliktes Öffentlichkeit zu geben. „Bitte teilt die Informationen, die Menschen wie ich momentan posten“, schrieb sie. „Es findet gerade live ein Genozid vor den Augen aller Menschen statt und nichts wird von Seiten der Politik unternommen. Wir haben das Internet, wir sind vernetzt. Wir haben das Privileg, Bescheid zu wissen, wir haben also auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen.“

Ich entschied mich, nicht mit ihr über Framing zu diskutieren, oder darüber, wo berechtigte Kritik endet und Antisemitismus beginnt. Mein Problem war viel grundsätzlicher: Sie verbreitete nachweislich Falschnachrichten.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist eine Infrastruktur entstanden, in der jede und jeder alles publizieren kann – auf Webseiten, Videoportalen, in Onlineblogs oder den Sozialen Medien. Ohne das Öffentlichkeitsmonopol der Medienhäuser jedoch gibt es keinerlei Qualitätskontrolle, keine Journalistinnen und Journalisten, die ihr Handwerk gelernt haben und ethischen Grundsätzen verpflichtet sind. Was öffentlich wird, hängt nicht mehr von Nachrichtenfaktoren oder Qualität ab. Gedanken und Emotionen, Befindlichkeiten und krude Theorien strömen aus allen Ecken des Netzes mit einer Direktheit und Wucht auf uns ein, dass wir untergehen in einer Flut vermeintlicher Informationen.

Die Algorithmen der Sozialen Medien checken keine Inhalte. Sie schenken Content Reichweite, der Gefühle und Reaktionen entfacht. Gerüchte und Falschnachrichten verbreiten sich über diese Strukturen wie Lauffeuer und überrollen Menschen, die es noch gewohnt sind, jeder Nachricht Glauben zu schenken. Reflexhaft werden Inhalte geteilt, Freunde oder Verwandte nicht hinterfragt. Dieser Mahlstrom aus Informationen verschlingt jeden Anker einer Gewissheit.

Drei Nachrichten, die meine Bekannte in ihrer seit Kriegsbeginn chronischen „social media diarrhea“ in die Welt hinaus geblasen hat, habe ich ihr exemplarisch gegengecheckt, transparent mit Quellen und Begründung. Geholfen hat es nicht.

Eine Welt, widewide wie sie mir gefällt

Sie müsse die Sicht der Palästinenser verbreiten, schrieb sie mir unbeirrt, „deswegen teile ich Informationen über die Situation der Menschen in Gaza und hierzulande, um darauf aufmerksam zu machen. Und das alles sehr schnell und in hoher Frequenz. Wenn sich da die ein oder andere Falschmeldung oder zu einseitige Berichterstattung einschleicht, dann ist das ärgerlich – aber derzeit nicht meine Priorität.“

Ich las ihre Antwort mehrmals. Es war mir extrem schwergefallen, die Aussagen in ihren Posts nicht zu bewerten. Bewusst hatte ich vermieden, in eine emotionale Argumentation abzurutschen. Was hatte ich falsch gemacht? Ich dachte, ich appelliere an den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den wir uns alle einigen sollten: die Fakten. Was aber bedeuten Fakten in einer Welt, in der ich für jeden Bullshit, an den ich glauben möchte, vermeintliche Quellen finde?

Die menschliche Natur mag keine Widersprüche. Widersprüche bedeuten Nachdenken, manchmal sogar Umdenken. Und das ist anstrengend. Also sind wir gut darin, sie zu „übersehen“, und hinterfragen zugleich weniger, was unsere Sicht der Dinge bestärkt. Denn der Wunsch, dass unsere Ansichten mit vermeintlichen Tatsachen übereinstimmen, wird auf der schier unerschöpflichen Informationshalde des Internets mit Leichtigkeit bedient. Durch die digitale Brille nehmen wir so immer unterschiedlichere Welten wahr. Wir begegnen algorithmengesteuerten Eindrücken, ausgewählten Bildern und stromlinienförmigen Nachrichten, die Künstliche Intelligenzen für uns als angenehm errechnet haben. Aus diesen passgenauen Bausteinen errichten wir dann unsere Ansichten. Ob sie der Wirklichkeit entsprechen, wird irgendwann egal.

Denn auch das soziale Regulativ fällt in Zeiten Sozialer Medien weg. Hätte ich mir früher eine völlig realitätsverfehlende Welt konstruiert, wäre ich der Cliquendepp gewesen. Keiner hätte mit mir abhängen wollen, weil ich Bullshit redete. Ich hätte mich entscheiden müssen zwischen einem einsamen Dasein und dem Hinterfragen meiner Weltsicht. Heute muss sich niemand mehr entscheiden. Oder hinterfragen. Der soziale Selektionsprozess einer gemeinsamen Wahrnehmung ist aufgelöst. Dank der unendlichen Weiten des Internets findet jeder selbst für den absurdesten Irrsinn und die behämmertsten Verschwörungserzählungen schnell und einfach Gleichgesinnte.

Opfernarrativen (à la „Ich fühle mich missverstanden, mir wird Unrecht getan“), Widerstandserzählungen (wie „Unser Aufbegehren ist eine moralische Pflicht!!1!!1!“) und Bildern vermeintlicher Wohltäter („Wir wollen doch nur das Beste für die Menschen (mich)“) bin ich in den zwei Jahren meiner Recherche zu Querdenkern, rechten Netzwerken und internationalen Desinformationskampagnen in allen Lagern begegnet. Sie sind Teil eines Radikalisierungsprozesses, in dem Scheuklappen zum größten Selbstschutz werden. Beziehungen zur Umwelt werden gekappt und die Abhängigkeit von der Bestätigung durch die Bubble immer größer.

Die Wahrheit wird in dieser Welt zur Entscheidung jedes Einzelnen. Wir vergessen, dass die Realität aus Widersprüchen besteht und verlieren uns zunehmend im populistischen Schwarz und Weiß. Es ist wichtig, dass wir das begreifen. Sobald nämlich der Begriff der Wahrheit ins Spiel kommt, maßt sich meist die Weltsicht des Einzelnen einen Absolutheitsanspruch an. Mit ihm steht auch der Vorwurf der Lüge im Raum, der Menschen in jene teilt, die recht haben, und jene, die im Unrecht sind. Wahrheit läuft auf Spaltung hinaus. Und am Ende auf Krieg.

Ein Bekenntnis zu Fakten

Meiner Bekannten antwortete ich, ich könne es nicht akzeptieren, dass sie Fakten als bewussten Kollateralschaden ihres ideologischen Kreuzzugs in Kauf nehme. „Das ist dieselbe Argumentationsstruktur, die auch Rechte, Querdenker, Schwurbler, Klimawandelleugner etc. für sich beanspruchen: Sie denken, ihre ,Wahrheiten‘ seien so wichtig und groß, dass sie rechtfertigen, sich über Fakten und Tatsachen hinwegsetzen zu können. Du sagst, die Leute sollen sich ihre eigene Meinung auf Basis deiner Infos bilden. Sie sollen sich also auf Basis von Lügen und Propaganda, die du bewusst teilst, weil sie deiner Deutung der Situation entsprechen, eigenständig eine freie Meinung bilden?“

Darauf entgegnete sie mir nichts mehr, teilte aber fleißig weiter.

Es gibt viele Verbreitungsgründe für Desinformationen: Sehnsucht nach Aufmerksamkeit, Geldgeilheit oder Machthunger. Am schlimmsten finde ich aber die ideologischen, die sich in selbstgefälliger, moralischer Überlegenheit wähnen. Missionierende Überzeugungstäter maßen sich an, unsere Wahrheiten nach ihren Narrativen zu formen – ob sie den Tatsachen entsprechen oder nicht.

Wir brauchen ein Bekenntnis zu allgemeingültigen und wissenschaftlich belegten Fakten. Denn nur auf Basis einer gemeinsamen Faktengrundlage können wir miteinander in den Dialog treten. Dabei müssen wir nicht derselben Meinung sein und die gleichen Ansichten vertreten. Streit gehört bei einer gesunden Demokratie dazu. Trotzdem müssen wir uns auf eine gemeinsame Sprache festlegen. Wie sollen wir sonst Lösungen für gesellschaftliche Krisen und Konflikte finden und handlungsfähig bleiben?

Wir müssen uns unseren Bias, unsere Voreingenommenheit, bewusst machen und uns wappnen gegen die Verführung durch Ideologien und Befindlichkeiten. Wir müssen lernen, vertrauenswürdige Quellen zu erkennen und zugleich als Vertreter dieser Quellen beginnen, neues Vertrauen zu verdienen. (Kleiner Tipp: Wer sich nicht gehört und ernst genommen fühlt, wendet sich ab.) Wir müssen uns den Fakten verpflichtet fühlen – ob sie uns gefallen oder nicht. Und wir dürfen nicht vergessen, auch immer die Gegenseite anzuhören und uns auf den Tanz eines gemeinsamen Dialogs einzulassen.

Denn: Wenn wir die Macht haben, zu publizieren und die Öffentlichkeit mitzugestalten, müssen wir auch die Verantwortung annehmen, unsere eigenen Redakteure zu werden. Wir müssen uns verantwortlich fühlen, die Informationen unseres Lebens selbst zu kuratieren und gegenzuchecken. Wir dürfen nur publizieren und verbreiten, was wirklich wahrhaftig ist und einer allgemeingültigen Ethik entspricht.

Nur so können wir das Geschenk der Öffentlichkeit, das uns das Internet in den Schoß unserer Gesellschaft gelegt hat, schützen und als Demokratie mit ihm wachsen.

Diese Chance ist es wert.

Der Text ist erschienen in „Mission Wahrheit – Wer vermittelt uns ein realistisches Bild unserer Welt?“, herausgegeben von Prof. Bodo Hombach, Tectum, 2024, 250 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-8288-5167-2